XI.

[207] Marius sah es; man mußte ihn allein lassen.

Er war in Frösten und in Fiebern, ohne Besinnung. Wie einen herben und giftigen Schnaps hatte er es in der Kehle, der versengte. Davon krochen ihm Dämpfe durch den Schlund, daß er immerfort schluckte.

Und wenn er nachdachte, sich betrachtete und sein Elend gewahrte, dann mußte er weinen vor Mitleid mit sich selber, stundenlang weinen, nichts als immer nur weinen.

An den Stimmbändern zog es schwer.

Wenn er wanderte, weit, weit wollte er's verbergen. Was sonst wohl die Leute dächten auf der Straße: ein weinender Mann! Aber es war gewaltiger, und es war ihm alles gleich.

Und es blieb immer bloß Schmerz. Anfangs hatte er gehofft, es würde sich in Kunst umsetzen und ihm einen Ruck auf ein neues Bild geben. Aber es gestaltete sich nichts: es blieb gemeines Weh.

Hundertmal sagte er sich, über die hundert Mal jeden Morgen, jeden Abend: es ist ja nicht möglich! Hundertmal lauschte er, bei jedem Tritte, stürzte ans[208] Fenster, rannte nach dem Hofe. Es war sicher nur ein wüster, lächerlicher Traum, der ihn äffte, wie sie aus falschen Tränken kommen.

Nein, nein, es konnte ja nicht, es konnte ja nimmermehr sein! Wie sollte er denn sonst noch leben?

Und dann wieder hielt er inne und klammerte sich an das Denken.

Er stellte es sich deutlich vor und formte Schlüsse, um sich das richtige Gefühl zu beweisen, welches den Ereignissen entsprach. Das wollte er dann annehmen. Nicht blind und urteilslos das nächstbeste, welches sich gerade zufällig ins Bewußtsein verirrte.

Nun hatte er ja, was er begehrte.

Aber ganz genau, buchstäblich, wie er es sich ausgedacht hatte, mit so zuverlässiger Logik – den ganzen Wunschzettel, Punkt für Punkt.

Seine Sehnsucht war eingetroffen, jede Forderung erfüllte sich, kein Jota fehlte. Und ohne daß es ihm nötig war, irgend was dazu zu thun; alles machte sich wunderschön von selber. Mehr kann man vom Glücke doch wirklich nicht verlangen.

Er war sie endlich los und definitiv. Er war wieder frei. Die Beklemmung wich, das Joch barst, er konnte aufatmen. Er gehörte wieder sich selber. Er konnte wieder der Kunst gehören.

Und durch sie, ohne seine Schuld, ohne seine Hilfe, ohne seine Mitwissenschaft, bloß durch sie allein geschah der Bruch, ihn streifte kein Schein. Niemand durfte ihn anklagen, daß er sie verstoßen hätte; er[209] hatte nichts zu verantworten, nichts zu bereuen. Sie war es, die ihn verließ, mit Vorsatz und in Freiheit.

Das alles war sehr angenehm.

Ganz wie er es in kühnen Hoffnungen ausgedacht. Er konnte die geschenkte Freiheit ruhigen Gewissens genießen. Es war nicht möglich, sie zu bedauern, weil es nicht möglich war, sie zu vermeiden.

Und – das auch mußte man beachten, daß sie ihm nicht einen Schöneren oder Jüngeren oder Witzigeren vorzog, sondern ein gemeines Scheusal, weil es reich war, reich. Das hätte ihn gekränkt, wenn sie ihre Liebe gewechselt hätte, so etwas erniedrigt. Aber sie verließ ihn ums Geld, bloß ums Geld; das brauchte ihn nicht zu verletzen.

So sammelte er die Beläge, daß es für ihn eine große Freude war.

Aber das widerspenstige und verstockte Gefühl wollte nicht gehorchen.

Und wenn er eine Weile nachgedacht hatte, dann mußte er wieder weinen, nur immer weinen. Er konnte sich nicht helfen. Er überwand alle Beweise.

Ah, nein – er war sie ja nicht los! Ihre Augen verließen ihn nicht, zwischen den bleichen, müden Lidern diese großen, verwunderten Augen mit dem weit hinausgestreckten, suchenden Blicke, so still und freudig wie ein heller Wintertag, und der krause Tanz der wirr verschlungenen Löckchen, von geschämigem Blond, in tollen Wirbeln über die schmale Stirn her unter, und das freche, ausgelassene Näschen, das mit dem Gesicht nicht gleichen Schritt halten[210] wollte, sondern eigensinnig, launisch, trotzig seine eigenen Pfade seitwärts trabte – er sah sie ja immerfort vor sich, überall, was immer er auch begann, in starren, unausweichlichen, unvertreiblichen Scheinen! Und immerfort, in lockenden, seligen Gesängen, die schwollen, immerfort, neben sich, rings um sich, überall hörte er ohne Laß ihre sanfte, blasse Stimme, als ob über dünnes Silber in langsam träufelnden Tropfen ein klingender Perlenguß rieselte. Ah, er hatte es ja, blinder und tauber Tölpel, er hatte es ja niemals zuvor gewußt, wie er sie liebte, wie wahnsinnig er sie liebte!

Vernunft nützte gar nichts. Die wilde Beredsamkeit des Fleisches, in heulenden Tumulten, fegte sie weg. Und er schrie, aus den Hieben der grinsenden Gier, schrie steil, heiser und schrill nach ihr auf, wie um Beute ein hungriger Wolf ...

Umständlich mit philisterlicher Weisheit, Schluß für Schluß, bewies er es sich dann, daß er sie ja gar nicht lieben konnte, denn es wäre thöricht, ohne Grund. Nein, es war, wie er auch emsig suchte, es war durchaus kein Vorwand zu entdecken, weshalb es möglich sein sollte, daß er sie liebte. Es fehlte jede Ursache, die Liebe allenfalls erklären möchte.

Sie war nicht schön. Im Anfang, ja, unter dem Trug der ersten Begierde, da hatte er es sich wohl einbilden mögen. Aber es bewährte sich nicht. Es war keine standhafte Schönheit. Wie einmal Zweifel daran tastete, zerflatterte sie gleich.

Damals, als er ihr Bildnis unternahm, wurde[211] es gewiß. Es konnte nimmermehr geraten, weil sie keinen besonderen Charakter besaß, sondern nur die gemeine Schablone. Es wurde immer nur, je treuer er ihr folgte, das Gerippe der Pariserin, Jules Cheret, Henri Boutet, in das man erst noch eine andere dazu versetzen mußte, aus eigener Schöpfung, wenn es lebendig werden sollte. Sie hatte nur, was ihr das Milieu bot. Sie war bloß Form und Rahmen; gerade wo sie ihre Schönheit erst beginnen konnte, da hörte sie überhaupt ganz auf.

Er schämte sich, wenn er sie mit den Früheren verglich. In der Schule hatte er die Lewinsky-Precheisen geliebt, auf der Akademie die Hohenfels. Das waren wenigstens Profile, und auch – schon das Gefühl, so oft er im Gedränge der steilen Galerien lahmte, daß er es ihnen nur einmal zu sagen brauchte und dann noch ihre Erwiderung zu erlangen, wie ihn da alle Welt beneiden würde, dieses allein schon war was wert, viel.

Und Geist hatte sie auch keinen – das schon gar nicht. So für den Hausgebrauch allenfalls, was der gemeine Laie nötig hat, um zur Verdauung die stockenden Gespräche einzuölen – und mit zierlichen Neckereien, die nicht rasteten, blinzelte sie einem oft betrügerische Scheine vor. Aber auf die Dauer konnte sie es nicht verbergen: die »Câlinerie« des Bouguerreau – da hatte er sie aber ordentlich verhauen – fand sie sehr nett, und sie lachte über Besnard: sie war stupid.

Und so in allem: in ihren Launen, ihren Begierden, ihren Neigungen – niemals begegnete sie[212] seinem Wunsche. Dieser unter allen Träumen vom Glücke, war ihm immer der Liebling gewesen, mit seinem Weibe einmal so intensiv die Liebe zu besprechen, daß es für alles genüge. Davon hielt sie gar nichts, er konnte sie nicht bewegen, sich in die Idee der Liebe ernsthaft und tief zu versenken, sondern sie behandelte es als Vergnügen und reiste nicht zum Mystischen.

Nein, nein – ganz anders hätte sie sein müssen, daß es ihm möglich wäre, sie zu lieben; in allen Punkten völlig das Gegenteil. Wie denn nur, also gegen jeden Begriff hatte es geschehen können, dieses Unfaßliche, Vernunftlose, Widernatürliche, daß er liebte, die ihm doch verhaßt sein mußte?

Er erschrak vor sich, wie er diese Entfernung vom Denken gewahrte. Er fürchtete sich vor dem Schaurigen und Verhohlenen da unten, tief in den Grüften und Schlünden der Seele, von welchem er nichts wußte und welches doch sein Herr war. Es kauerte ein anderer in ihm und wuchs zum Riesen.

Es war wie der Absynth. Ja, es glich die Liebe dem grünen Absynth. Sie verbogen die Begierden, ins Blöde und Widermenschliche hinüber, kochten den Willen aus mit zehrenden Wallungen, und der geängstigte Verstand entwich.

Ganz wie der Absynth – ja. Er verweilte gern bei diesem Vergleiche, wenn er die schwülen Dämpfe schlürfte, welche verwandelten. Es waren böse, reißende Gifte und kehrten die Seele um, und man verlor sich an ein starkes Tier.[213]

Es empörte sich der Geschmack. Der Ekel wollte verscheuchen. Kein Genuß, niemals. Aber Erfahrung und Rat und Vorsatz und Widerstand und Gelöbnis halfen nicht. Es war gewaltiger und hatte im Schmutze des Gemütes verborgene Genossen.

Und plötzlich, in hageren und gelben Wahrzeichen, welche züngelten, reckte sie sich vor seiner Furcht empor, die ganze Liebe, wie nach mörderischen Gesetzen ihr unabänderlicher Verlauf ist, und an seinem gekauerten Geiste vorüber glitt in den steilen Bögen der ewige Fluch aller Menschen, der das Glück würgt. Wie sie in tückischen Masken hinter Duft erst argloses Vertrauen überschleicht, als heiteres Nervenspiel verkleidet, und frohe Wünsche gaukeln; dann, wie aus Orgeln, Heiliges in die erschauernden Sinne gießt und durch Andacht das Böse jätet, den sprießenden Keim der Kraft; aber den Wehrlosen endlich, wenn er entmarkt und ausgesäftet, den zehrenden Taumeln der Güte erliegt und in irren Schlummern des Wahnes er starrt, mit Haß und Grimm, in wühlerischen Streichen plötzlich rauh überfällt, ohne die Larve des Schönen jetzt und nacktknochiges Scheusal, bis zum grausen Wagnis der Wahrheit entmenscht und höhnisch wider die Schminke, durch schimpfliche Knechtungen über grinsende Laster schleift, vor welchen die Sprache versagt, und in Geifer und in Fäulnis stinkender Sümpfe den zerfolterten Leichnam erstickt, gnadenloser und wollusttoller Henker, immer mit dem nämlichen kalten Lächeln ewig, unwandelbar, mit dem sanften und traulichen Lächeln[214] aus Neugier grausamen Kindes vor dem zuckenden Falter, der auf dem Spieße verendete. Bis sie zuletzt nur noch Fleisch ist, das eigene Fleisch, das sich selber kreuzigt, alle giftigen Säfte aus allen verpesteten Kanälen in Aufruhr gegen das Leben; es bildeten die Alten die Liebe gern am Arme des Todes, denn sie ist der Mord.

Dann schrie er: »M. de Montègre va vous faire du mal, puisqu' il vous aime.«

Immer, immer wiederholte er dieses, flüsterte es zärtlich, gellte es mit Grimm, stammelte es wie ein holdes Geständnis, das beglückt, schmetterte es wie das Gericht der Menschheit, das verdammt. Zufällig, in diesen Tagen gerade, wie er einmal durch Dumas blätterte, zum Gedankenvertreib, zur Betäubung, um nur Fremdes über die wunden Nerven zu schleiern, zur Linderung, da war es ihm zufällig begegnet; aber es verließ ihn nimmer. Es ward sein Glaube und sein Trost.

»M. de Montègre va vous faire du mal, puisqu' il vous aime.«

Darin war er ganz ausgedrückt, mit aller Erfahrung, allem Gefühl, allem Bewußtsein. Darin war sein Schicksal, was er erlebt hatte und was er noch erleben konnte. Darin war die Welt, alles vom Anbeginn bis ans Ende Mögliche. Nein, außerhalb gab es nichts. Es enthielt in sich, wie eine göttliche Stiftungskapsel, alle Menschheit, alle Schöpfung, alles Denkliche.

Man müßte diesen Satz malen, dann wäre die Kunst erfüllt und die Welt wäre vorbei.[215]

Und er murmelte es, in brünstigen Fleißen, nur immerfort, stundenlang, während er wanderte, murmelte es mit unermüdlichen Lippen, welche eilten, vor sich hin, in seligen Verklärungen wie ein heilkräftiges, wunderwirksames Gebet, mit welchem er, weil es das Geheimnis des Lebens verriet, sich seien könnte zum Glücke. Alles andere vertilgte sich in seinem Gehirn, und er wußte es nicht mehr. Es baumelte nur diese Weisheit an allen Fasern.

»M. de Montègre va vous faire du mal, puisqu' il vous aime.«

So glitschte er auf dem Abhange des Blödsinns. Er gewahrte es und schrie in großen Ängsten. Es kam aber von nirgends Antwort und nirgends war kein Anker.

Da klammerte er sich an die Arbeit und begann wieder das wilde, atemlose Ringen mit dem Pinsel.

Er hämmerte sich mit Ehrgeiz und Habsucht und allen Reizungen. Er kochte die Nerven in Gedichten, in Musik. Er stachelte sich an den Gespenstern seiner toten Hoffnungen.

Es half alles nichts.

Da sank er dann wieder zusammen und verzweifelte auch an der Kunst.

Es war auch nur ein Schwindel. Er würde es niemals vermögen, das Große und das Wahre. Und wenn er es auch vermöchte, dann würde es erst recht niemand verstehen.

Wozu also?

Wenn er ein Gemeiner und Niedriger war wie[216] die anderen, dann konnte er keine Kunst. Wenn er aber nicht gemein und niedrig war, dann wurde es für die anderen eine unbegreifliche und vernunftwidrige Kunst. Wozu also?

Diejenigen, ja, welchen die Arbeit selber Genuß ist, welche im Schaffen schwelgen – nur sollen sie dann auch so schlau sein, es eifersüchtig gleich zu zerstören, sonst wird's ihnen durch das Urteil wieder vergällt.

Ach ja, das Große, das Eherne, die neue Kunst, welche das neue Schicksal wäre, die Erlösung, welche zwänge, indem sie die Menschen ins Göttliche wandelte, die Geister erhöhte, die Herzen reinigte – wenn es dennoch, dennoch möglich wäre, daß sich der ewige Traum bewähre?

Etwas wie die »Olympia«, welches in zwei rohen, auf die tägliche Gemeinheit ausgedrückten Farben den ganzen Menschen enthielte und die ganze Menschheit, alles, was gewesen ist und sein kann!

Aber was hatte er denn gewirkt? Daß sie sich die Rippen kniffen vor Hohn und Spott, und sie lebten das gemeine Leben weiter! Er konnte es nimmermehr begreifen: die Gnade war niedergestiegen, aber niemand kümmerte sich um sie, weil sie das Elend und das Laster liebten.

Nichts, nichts – nur immer der große Kot überall.

Und manchmal dachte er, vielleicht hätten die anderen recht und er wäre wirklich nur ein Narr, ein kranker Narr, daß er das Gute und das Schöne suchte, welches unmenschlich ist.[217]

Gemein sein wie die anderen, Geld haben und Baccara spielen, zur Verdauung – da!

Und sich betrinken, gründlich, das Gehirn ersäufen, bis es Ruhe giebt, die Nerven erdrosseln, daß sie nicht mehr können.

Und nach acht Tagen kannte ihn aus stürmischen Nächten das ganze Quartier, in allen Spelunken, wo nur ein wildes Zechen mit frechen Dirnen zu finden war. Sie nannten ihn bloß »den tollen Maler«, weil er »gar so lustig war« in unermüdlichen und unerschöpflichen Fumisterien; alle beneideten seine prasselnde, zischelnde Laune und dieses »glückliche Temperament«. Besonders, wenn er von seiner »kleinen Hure« erzählte, welche ihm mit einer »schwarzen Wurzen« durchgegangen war, riesig fin de siècle; das versäumte er nie, weil es ihn erleichterte.

So wollte er sie aus sich vertreiben. Aber es half nichts wieder ihre hartnäckigen Augen, welche an seinem Bewußtsein klebten. Und immer wieder, hinter dem gelben Übel der Wirklichkeit, welche Schleim ausspinnt, sah er in weißen Dämpfen ihren großen, leuchtenden Blick, wie einen bleichen, aus stillen Märchen gewobenen Mond, und hörte über dem rauhen Lärmen der gemeinen Ereignisse, in sickernden Klängen, die schwüle Wollust ihrer sanften, gläsernen Sprache, wie eine Harfe, durch welche der laue Atem des Mai streicht.

Aber ringsherum war Blut, immer nur Blut, ein greller Streif, daß er nicht hinüber konnte, und[218] wenn er sie küssen wollte, dann umarmte er bloß das grinsende Gespenst seines gemordeten Glückes.

Seine Schuld, seine eigene Schuld! heulte dann der grausame Kläger in ihm. Seine eigene Schuld! Es folterte die Reue.

Das Glück war herangekommen; aber anstatt es zu halten, hatte er es verscheucht. Seine Schuld, seine eigene Schuld!

Und er schaute sich unter milden, lieblichen Gaukelungen weit weg, da unten irgendwo, in enger, leiser Stadt, fern von den Menschen, ganz allein, ganz allein mit ihrer ewigen Lust – und sie waren verheiratet wie die gemeinen Leute, und wurden glücklich wie die gemeinen Leute.

Seine Schuld, seine Schuld – seines Dünkels und seiner Vermessenheit! Sie war so gut, so hold gewesen – und er hatte ihr alles genommen und beide hatte er verdorben.

Weil er Trotz und Stolz und Wahn hatte, und keine Einfalt, keine Demut, kein Vertrauen. Weil er sich nicht beschränken, nicht erniedrigen konnte, sondern an sich selber glaubte. Weil er alles wollte, darum geriet ihm nichts.

Weil er nicht dumm, nicht schlicht und nicht gemein sein konnte, das war der Fluch, der ihn verdarb. Weil sein Hochmut nur die große Kunst wußte, immer nur in den fernen Wolken die große Kunst, das lähmte ihm die Faust, daß in aller knirschenden Marter röchelnden Fleißes kein niedriger Strich mehr gedieh, keine stammelnde Silbe des[219] Schönen. Und weil seine ausgelassene Sehnsucht nur die reine Liebe schaute, immer nur in unfaßlichen Idolen die reine Liebe, darum, so jämmerlich und verächtlich, erstickte sein versunkenes Gefühl in Schlamm und Laster.

Er haßte den Geist und beneidete die Einfalt. Aus dem Unverstande allein kommt Segen. Es peinigte ihn die Nostalgie der frohen Thorheit. Kind hätte er wieder sein mögen, das von nichts wußte, Falter haschend durch den sonnigen Frühling. Das viele Denken that ihm wehe.

Aber dann bäumte sich wieder der Trotz. Lieber wollte er ein besonderes, einsames Leid, das Los der Titanen, als das gemeine, verbreitete Glück der dumpfen Schläfer. Wenigstens versicherte es ihn seines Wertes, seiner Größe, seines Adels, deshalb liebte er den Schmerz und hätte ihn schmerzlich vermißt.

Nein, ihn sollte das Leben nicht beugen, ihn nicht!

Das nagelte allmählich in sein Gehirn den Grundsatz, diese Formel des Glückes, daß einer einäugig sein müßte, zum Ausgleich mit dem Schicksal – einäugig, an diesen Ausdruck klammerte sich sein Gedanke.

Ja, das war es offenbar. Dieses enthielt das ganze Geheimnis des Lebens, daß einer dem doppelten Blick fliehen mußte. Darin gründete seine Qual, daß er beides schaute, beides zugleich. Jetzt schaute er den Traum in der Seele, aber gleich darauf schaute[220] er wieder die Wahrheit in der Welt, und immer ward dieses Unverträgliche, Fremde, Feindliche verglichen. Da mußte natürlich der Traum mit Wünschen, die Wahrheit und die Wahrheit, mit Enttäuschungen, mußte das Träumen quälen.

Welche sich für eine der beiden Blindheiten entscheiden, die werden glücklich. Welche im Traume wandeln, ohne das eigene Gehirn zu verlassen, die werden glücklich. Welche in der Gemeinheit bleiben, ohne sich an die Fabeln des Wunsches zu verirren, die werden glücklich. Nur wer in sich und außer sich sein will, der verdirbt. Denn nimmermehr kann sich die Wahrheit mit dem Schönen, mit dem Guten gesellen.

Ja, das war der Schluß des Lebens: man mußte das Denken aus sich vertreiben oder man mußte sich aus dem Sein vertreiben.

Er wollte sich aus dem Sein vertreiben, in ein anderes hinüber, von dem Denken zu schaffendes, in Träumen wallendes, durch Wünsche gelenktes. Ganz im Geist wollte er sich verwandeln, sich entwirklichen, entkörpern, entschmutzen. Darum floh er im Parfüme.

Das wurde für ihn jetzt, aus dem Schmerze geboren, die wahre Kunst, die einzige erlösende und beglückende: die Kunst der Gerüche. Die anderen konnten sich nicht erfüllen, weil sie am Wirklichen hafteten, wie sie auch flattern mochten mit geringem Flügeldrang. Aber die Kunst der Gerüche, indem sie die Scheine des Seienden betäubte, entrückte aus der Wahrheit in das freie Reich des Wunsches, in welchem nur die frohe Willkür der Begierde Gesetz ist.[221]

Er machte sich eine lange Theorie darüber, ein ganzes System. Alle anderen, welche nur Vorboten gewesen, trübe Verkündigungen, sollte die Kunst der Gerüche entsetzen. Die bisherige Welt würde entbehrlich. Es galt bloß, die Sinne und die Nerven zu erziehen, daß sie die Gebote der Parfüme willig begriffen und gehorsam vollstreckten. Dann konnte in Symphonien des Duftes alles Denkliche und Empfindliche ausgedrückt und nach dem Bewußtsein geleitet werden: es wurde eine neue Sprache, das Unsagbare zu sagen.

Er goß sich aus den schwülen Phiolen jeden Geist und jedes Gefühl, jede Zeit und jeden Ort in das lernbegierig taumelnde Gehirn, um es in fieberischen Extasen, während der erstickte Geist sank, über das Leben hinweg zu treiben nach wolkigen Unmöglichkeiten, welche licht und müde grünten unter rosigen Schleiern, die langsam schwanden. Aus den blassen, stöhnenden Dämpfen des White Rose, in welchen der Selbstmord singt, erweckte er die ewige Lehre des Buddha, die Farbe des Chavanne, das Sterbelied des jungen Siegfried, am Feuer, vor dem rauschenden Rhein, während ringsherum viele, sehr lange, schmale, gelbe, wunderliche Blumen auf gebeugten Stengeln welkten. Aus den sanften und tröstlich traurigen Rhythmen des Tilia, als ob nächtig fern ein einsames Licht in stillem Walde winkte, beschwor er die friedliche Tugend der Entsagenden, während ihm der große Weise des Verzichtes die göttliche Wollust verkündete die Nachfolge des Christ. Aber aus den chyprischen[222] Brünsten der Peau d'Espagne ringelten sich zu mänadigen Grimassen mit schrillen Allarmen der Gier nackte, braune Gitanen, rabenblau gelockt, brennende Opale in den schweren, schattigen Lidern, und es wuchs zwischen den winkenden Fingern der Palmen über gedrängtem, geducktem Weiß die grün geschlankte Giralda. So wandelte er auf Gerüchen durch alle Welten und umfaßte die Ewigkeit.

Er versäumte nicht, fleißig Antipyrrhine zu schlingen zur Förderung der Träume. Das höhlte tiefe Löcher im Bewußtsein. Es kamen große Pausen über das Ich, in welchen es lange stummte ... lange ... nichts, nichts mehr ... das Versinken ... es wurde ganz stille, abendlich stille, wenn alle Feuer verlöschen, und auf den grauen Weiden träumt der Mond ... kaum daß noch leise die Instinkte des Leibes raschelten.

Das Schicksal der heiligen Karma erwiderte die wilde Leidenschaft mit der tiefen Ohnmacht.

Die Krisen entfernten sich. Höchstens noch, wenn er vier Treppen irgendwo zu steigen hatte, oder im Café, wenn Zug den Schädel peitschte, oder am Schalter, wenn Gedränge ihn nicht vorlassen wollte. Sonst regte sich das Leid nicht mehr.

Plötzlich, zufällig, im Hippodrom eines Abends, fand er sich ihr gegenüber, vor dem Löwen. Marius mußte ihn halten. Mit Gewalt wollte er sie anfallen im ersten Taumel: öffentlich züchtigen, den schwarzen Hund erwürgen und dann fort mit ihr, fort im Sturm, weit hinaus in die Seligkeit.[223]

Er sollte wenigstens den Zwischenakt abwarten, meinte Marius. Das wäre doch schicklicher.

Er wartete. Aber während er wartete, sah er starr auf sie mit schwellender Verwunderung, weil es unbegreiflich wurde. Und plötzlich flimmerte in seinem Gehirn die Deutlichkeit auf wie ein schlagender Blitz, daß er sie gar nicht mehr liebte; sondern sie war ihm jetzt ganz gleich, wie irgend eine andere hübsche Schlumpe, und die messerwerfende, da unten, in dem rosigen Trikot auf dem hellen Sande, wenn sie sich so zielend zurückbog, gefiel ihm viel besser.

Er prüfte sie neugierig mit dem Gucker. War sie denn verwandelt? Eine damische Eleganz, ja, hatte sie sich zugelegt, das schon.

Sie trug ein hechtfarben Kleid, ganz einfach, platt, unten am Rande geziert; es wedelte mit krausen Bauschen in eine kurze Schleppe aus. Der Leib blühte üppig in Tressen und Borden und Troddeln, aber die Ärmel, sehr enge und straff, waren leer; um den Schnitt hatte sie ein schmales Band geschlungen, ockergelb, in welchem eine Tulpe stak. Die englische Toke schlappte nach dem Nacken hinab, von breiten Zügeln in lorbeergrünem Sammet gehalten, welche, wo sie sich unter dem Kinn auf dem hohen, steifen Kragen kreuzten, eine Perlennadel verband.

Also, was wollte er denn eigentlich noch? Damit konnte er doch ganz zufrieden sein!

Aber – dieses – ja, so ließ es sich noch am besten erklären: die Ärmel waren sehr geschultert, in aufgeblasenen Puffen ausgetrieben, bis in die Höhe[224] des Mundes. Das verzerrte sie lächerlich, weil sie immer schon den Hals zu kurz und einen gewölbigen Nacken hatte, und sie sah davon ganz höckerig aus, wie ein Marabu. Ja, das war es, offenbar: drum konnte er sie nicht mehr lieben.

Und überhaupt – auch sonst – es zeigte sich eben jetzt, seit sie chic geworden war, daß sie keinen Chic hatte, gar keinen.

Oder – auch ... merkwürdig, Gründe fand er eigentlich keine ... aber aus war es.

Aus war es.

Er sagte es Marius, schilderte es ihm deutlich mit umständlicher Beschreibung, damit er es ihm erklären könnte; denn selber vermochte er es nicht zu fassen.

Aus war es – anders ließ es sich nicht sagen: weg, abgewischt, verlöscht, ohne Rest, ohne Spur, ohne Mal. Er fühlte nichts mehr davon, gar nichts mehr, kein Gutes und kein Böses, nicht angenehm, noch schmerzlich – nimmermehr vermocht' er's sich vorzustellen, wie er es damals wohl empfunden haben könnte. Nimmermehr vermochte er sich zu erinnern, es blieb verschollen. Er mußte es wohl glauben, weil er es erlebt hatte. Aber heimlich war es ihm, daß das ein anderer gewesen sein müßte.

Er fühlte sich verwandelt, gewechselt, ausgetauscht. Es war nur der Geist, der ihn noch mit dem früheren zusammen hielt. An Gefühlen waren es zwei verschiedene, fremde, einander andere, die sich nimmermehr verstehen konnten.[225]

Aber da lachte Marius: »Weil die Krankheit fort ist – Narr, sei froh. Darfst Dir aber gar nicht einbilden, daran etwas Besonderes zu haben. Jeder erlebt's: denn gegen die Liebe haben sie noch keine Impfung erfunden.«

»Aber schau nur, wie willst es denn erklären –«

»Erklären läßt's sich freilich nicht, sondern es kommt daher, daß überhaupt das Menschenherz wie eine besoffene Fliege ist.«

Sie kümmerten sich nicht weiter, weil, mit bewegten Brüsten, drallen Schenkeln und gespannten Waden, das russische Ballett viel lustiger war.

Nur nachher, unter der gelben Laterne, als sie vor dem Wagengewirre hielten, über dem schluchzenden Strome drüben glänzte die Eiffel – da sagte er kleinlaut: »So hab' ich am Ende jetzt gar nichts mehr, nicht einmal das Leid.«

Und er dachte an Rahel, die nicht getröstet sein wollte ... daß sie Recht hatte, weil der Schmerz doch immerhin etwas ist, besser als gar nichts. Beinahe hatte er Heimweh um seine Thränen.

Aber Marius, indem er mit dem Schirme fuchtelte:

»Die richtige Stimmung zum Dominospielen. Nur im Domino ist Weisheit, Tugend und Heil.«

Also Domino, tief in die Nacht. Auch den anderen Tag wieder und alle nächsten, oft, immer, stumm, während sie tranken. Weil ihm doch alles gleich war, alles ganz gleich ... und wenigstens entfernte es das Denken.

Nein, er litt nicht mehr. Er konnte sich jetzt wirklich nicht beklagen. Er fand, wie oft er sich mit[226] Neugier auch die Seele abklopfte, emsig, überall, horchend, nein, er fand in sich kein schmerzliches Gefühl. Nur, daß ein bitterer Nachgeschmack nicht von der Zunge wollte, wie von was Schmutzigem und Herbem, der ätzte. Es that ja weiter kein Weh, nur war es immer da, mischte sich in alles, und das fühlte er wohl deutlich, daß es jedes Glück verderben würde mit seinem häßlichen Safte, wenn er noch einmal eins fände.

Aber er suchte keins mehr, hoffte keines, wünschte es nicht einmal, weil es doch alles eins ist ... und nichts heißt etwas, man äfft sich bloß ... am besten läßt man's laufen, wie's will, grad', krumm, auf und ab, rollen, rollen, blind, närrisch, wie der Zufall treibt, rollen, vorwärts und zurück, ewig rollen, rollen ...

Die Lust hatte ein paar Stunden gewährt und das Leid hielt auch nicht an und nur diese dumpfe Verdrossenheit war treu, daß es eine eklige und schmierige Sache um das Leben ist.

Nichts wünschen, weil alles enttäuscht, nichts schaffen, weil alles gereut, nichts hoffen, weil alles verhöhnt, nichts denken, weil alles betrügt, nichts lieben, weil alles verrät.

Sondern warten, blöde gelassen warten, wie weit das denn so gehen kann, ob es nicht dem tückischen Dämon selber einmal zu dumm wird, der die Schicksale schafft.

Nicht streben, nicht widerstreben, sondern wie die Blumen ... die beneidete er, daß sie so sanft verwelken und küssen noch einmal in die rote Sonne empor.

Fakirisch, anachoretisch, gymnosophistisch – nach[227] der Wüste gelüstete ihn, weil sie heiß ist ... versengen und verbrennen, im weißen Staube, nach dem großen Schlafe hinüber, nach dem großen Schlaf der heiligen Maja.

Domino, Marius hatte immer recht.

Domino, wo die Begierde ringt, daß es aus werde, um, wenn es aus ist, von vorne anzufangen, bis es noch einmal aus werde, für einen neuen Anfang und noch einmal und immer so fort. Kein Zweck, kein Ziel als eben das Zwecklose, Ziellose selber, aber gestreckt und gedehnt als wie nach einem Ziel, während es nur um das Strecken und Dehnen selber ist. Hinkommen will man, um hinzukommen, nicht um dort zu sein – dem Beispiele des Domino müßte man folgen.

Immer spielen, nichts ernst nehmen, über alles sich lustig machen, ohne Glauben, ohne Liebe, ohne Hoffnung – so eine Art von Van-Beerserei des Lebens in ausgelassenen Jonglerieen.

Wenn er sich erst eingewöhnt haben würde, konnte es noch ganz behaglich werden.

Wenigstens die Jugendeseleien war er los, definitiv, das Empfindsame, den Dusel der Gefühle, den ganzen romantischen Gemüsegarten. Er hatte was erlebt. Er konnte was erzählen. Sein Pessimismus war nicht wie bei den anderen litterarische Intoxikation. Er konnte ihn »belegen«.

Das freute ihn. Er kam sich so erfahren und gereift vor, Weltmann, Salomo.

Aber Schulden hatte er, und niemand kaufte seine Bilder.

Quelle:
Hermann Bahr: Die gute Schule. Berlin 21898., S. 207-228.
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