XVI

[139] Die Konfrontation der analytischen und der kirchlichen Theorie ergab, in welch fundamentalem Punkte die Lehre der Kirche von den Lehren der Psychiater abweicht. Bei den letzteren hat die Persönlichkeit kaum mehr als eine Maskenbedeutung, bei der Kirche dagegen ist sie Voraussetzung der Heilung und zugleich ihr Ziel. Die Konfrontierung ergab aber des weiteren, daß eine Welt der Bilder feindselig gegen die Norm aufsteht, eine Welt der Bilder und Urbilder verschiedenster Herkunft. Die geringe Einschätzung der Persönlichkeit könnte man historisch damit erklären, daß die Begriffe von Seele und Geist, für identisch erklärt und völlig an den Staat gebunden, allgemach von einer Unzahl romantischer und romantisierender Kritiker als hohl, unmenschlich und unästhetisch zugleich empfunden und benannt wurden. Nur bliebe dabei zu beachten, daß die geistige Nährmutter der Romantik ursprünglich das Mittelalter und die Kirche war; daß jenes ›Zurück zu den Ursprüngen‹, das heute in weitestem Sinne die Magie wieder heraufführt, nur als Versuch erscheinen kann, das Bild der Mutter auch in der natürlichen Phylogenese zu verstehen. Wie immer es sich damit verhalten mag, eine Feindseligkeit der Symboliker gegen den ›Geist‹ zeigt heute eine ganz neuartige Schärfe und beginnt sich mehr und mehr auszuprägen. Es verlohnt darum der Mühe, bei den beiden gegnerischen Positionen ein wenig zu verweilen. Es müssen sich, nachdem von der somatischen Normsphäre bereits die Rede war, bedeutsame Einblicke auch in die psychische und die pneumatische Norm ergeben.

In das Zentrum dieser Fragen führt ein Buch von Bernoulli (›J. J. Bachofen und das Natursymbol‹, Schwabe & Co., Basel[139] 1924). Von Basel hat die Kirche im letzten Jahrhundert manch namhaften Anstoß erfahren, das kann man nicht anders sagen. Basel ist die Stadt der Humanisten und des Erasmus. Von Basel kam Jakob Burckhardts sehr gegensätzlich bewußte ›Kultur der Renaissance‹. In Basel entdeckte Nietzsche den gegen die Kirche gerichteten Begriff des klassischen Philologen, sein Dionysiertum und seine protestantische Herkunft. In Basel lebte und wirkte J. J. Bachofen, der Totengräber der antiken idololatrischen Welt. Nun kommt von dort C. A. Bernoullis Bachofen-Buch, mit dem sein Autor sich in der nachdrücklichsten Weise zum Chorführer der gegen die Logik und das Bewußtsein, damit leider aber auch der gegen den Logos, die Sprache und die Person gerichteten Zeittendenzen macht. Es ist im Grunde dieselbe Feindschaft der klassischen Philologie geblieben, die schon zur Zeit des Erasmus bestand; nur ist ihr jetzt sogar Nietzsche zu uranisch, zu zarathustrisch, zu sehr dem Lichte verschworen, zu intellektuell. Der inveteratus hostis geht tiefer zurück: in den Uterus, in die Gräber, in die Sümpfe; er führt die ›Vergangenheitsseelen‹ herauf und gliedert sich in ganzer Breite alle verwandten imaginativen, chthonischen, mythographischen Bestrebungen an. Kampf der Vater-Imago, so lautet die Parole, Kampf der Norm und bewußten Form.

Worum es sich im Grunde handelt, das ist der Gegensatz von Bild und Wort (Imago und Logos), ein Gegensatz, der sich, um es gleich vorweg zu sagen, in der Persönlichkeitssphäre nicht findet, der aber wichtig genug auch in seiner Feindschaft ist. Wir sind damit beschäftigt, die psychologische, die Mittelwelt auf der Kontemplation wieder aufzubauen und aus diesem Bereich die soziale Zweckwelt, an deren Spitze die abstrakte, die mathematische Vernunft stand, degradierend zu verbannen. Wir wissen heute und wissen es immer mehr, daß die Welt des betonten Wissenskultes nur eine Welt der Materie, der Erfahrung, der äußeren Objekte und ihrer letzten schematischen Ausprägung war; daß diese Welt, die den Aristotelismus bis zur Absurdität erhob, zuletzt nur dem Vorteile, der individuellen und kollektiven Beherrschung und Ausbeutung diente; daß sie auf Mechanismen fußte, die das tiefere Bedürfnis der inneren Ausdehnung, der paradiesischen Träume, der Unberechen- und Unbenutzbarkeit eines beseelten Wesens übersahen; kurz, daß[140] sie den irrationalen Neigungen des Menschen mit derselben Schärfe widersprach, wie heute die Symbolwelt ihr selbst.

Zergliedert man den Begriff der Psyche, so kommt man dabei auf zwei Anteile: den Anteil der unteren, materiellen Seele, der libidinösen Energie, und den Anteil des Bildes. Die Zusammenfassung der libidinösen und der Bildseele in eine Einheit ergibt die Naturseele. Die Libido ist auf greifbare, sinnliche Objekte, die Bildseele dagegen intentional auf die Nichtexistenz von Objekten, Sachen, Dingen (daher Aszese und Introversion!) gerichtet, eben auf das mit dem materiellen Soma verbundene Bild. Die Person aber ist die Form der beiden genannten Seelenkräfte, indem in ihr die Verschmelzung der Libido und des Bildes mit dem Pneuma, dem Geiste, mit anderen Worten das Sinnbild, das Symbol, zustandekommt. Wenn Schindler (›Das magische Geistesleben‹, Breslau 1857) von der »plastischen Kunstwelt des schlafenden Phantasiemenschen« spricht, so ist das offenbar übertrieben. Die Phantasie ist eine conditio sine qua non der Kunst; ihre Phänomene sind aber noch nicht die Kunst selber. Die Phantasie besagt zunächst nur, daß die libidinöse Energie des Menschen an Bilder gebunden ist, daß sie von Bildern getragen wird. Eine ›plastische Kunstwelt‹ entsteht aus dem Strome der Bildseele nur, wo der gestaltende, das heißt wählende und nach einem Vorbild hin ordnende Geist, die Persönlichkeit hinzutritt.

Das erklärt sofort die Funktion der ›participation mystique‹, die Lévy-Bruhl (›Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures‹, Paris 1910) als den Charakter der Magie beschrieben hat. Die Bilderwelt, die für den Primitiven Wichtigkeit erlangt, ist eine sinnbetonte, symbolische. Dieser Sinn, das Tabu in seiner Doppelbedeutung von heilig und verboten, wie Freud ihn beschrieben hat, steht mit der hieratischen (totemistischen) Welt in Verbindung. Infolgedessen ist das Bild mit Zauber, mit Kräften, mit Einheiten, mit Extrakten geladen, wie nur die totemistische (pneumatische) Welt der Einheit und Weihe sie verleiht. Von den Ethnologen wissen wir, daß dasselbe Bild, das, mit den Totem- und Tabu-Anschauungen verknüpft, den Primitiven in mystische Erregung versetzt, weil er den Teil fürs Ganze nimmt, – daß dieses selbe Bild den gleichen Primitiven völlig kalt läßt, wenn ihm die Weihe, der Zauber, der besondere[141] Bezug auf Gott oder Dämon fehlt. Nicht die Verdrängung ist es, die den Wert ausmacht, sondern die Energiesumme der Einheit, die schlagartig zu töten vermag. Mit anderen Worten: das Urbild gehört seiner Norm und seiner Energiesumme nach zur pneumatischen, das Sinnbild zur psychischen, das Bild zur somatischen Norm. Bilder sind immer einmal Vorbilder gewesen und können es in neuer Verbindung und Verschmelzung wieder werden. Die Kraft (der Zauber) der urtümlichen Bilder aber rührt von nichts anderem her, als daß sie bei dem ungeheuren Konservativismus der Kulte durch unendliche Zeiträume immer wieder ›betrachtet‹, umliebt, vertieft und auf einen immer wesentlicheren Typus reduziert worden sind.

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 139-142.
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Der Künstler und die Zeitkrankheit. Ausgewählte Schriften
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