XVII

[142] Wenn Bernoulli und Klages von der ›Realität der Bilder‹ sprechen, meinen sie nichts anderes als die ›participation mystique‹, die Magie. Alle Geister, denen die ›Bildung‹ angelegen war, haben den Begriff des Ur-und des Vorbildes gepflegt. Auf der Realität der Urbilder besteht schon Plato; von ihr wissen Dionysius und Augustinus zu berichten. Goethe und Baader betonten im deutschen Sprachgebiet die Realität der Bilder gegenüber der rationalistischen Hochflut ihrer Zeit. Bei Bernoulli-Bachofen-Klages, wenn sie die Realität der Bilder betonen, taucht nur die alte romantische Verwahrung gegen die Auslegung der ιδεα (Urbild) als Ratio wieder auf; eine Verwahrung, die im gewaltigsten Ausmaße von der Kirche aufgestellt und begründet wurde, als sie die Bild- und Fleischwerdung, die Inkarnation des immateriellen Gottessohnes, des Logos, zum Dogma erhob. So wurde Christus zum Urbild der Realität der Bilder, zum Urbild der Kirche.

Es ist ein wenig amüsant, zu sehen, wie die neueren Klassizisten und Humanisten mit ihrer Theorie vom Natursymbol sich gegen die eigene Herkunft wenden: indem sie den apollinischen Teil des Hellenentums dem dionysischen gegenüber bekämpfen. Darin sind sie Nietzscheaner geblieben: sie kämpfen gegen die Religionswissenschaft, ein alexandrinisches Erbe, viel mehr als gegen die Kirche. Der Bachofensche Satz, wonach »in der[142] Urreligion die Welt nur Bild« sei, dieser Satz läßt auch den Katholizismus als Urreligion erscheinen. Freilich nicht mehr den Protestantismus und gar nicht den Puritanismus, die bilderstürmenden Konfessionen. Wäre aber gerade das Natursymbol der Inbegriff der Bildphilosophie, dann wäre nicht einzusehen, weshalb wir die hellenischen und ägyptischen Mysterien nicht sollten noch heute wieder beleben können. Die Wiedergeburt aus der Mutter war doch wohl schon in den primitivsten Zeiten an liturgische Prozeduren geknüpft, die das Bild erst zum Werte erhoben; sonst wäre es heute noch möglich, ein Bild der Demeter oder der Isis aufzustellen, darunter hindurchzukriechen und sich wiedergeboren zu empfinden. Auch der andere Satz, wonach »der pelasgischen Seele nichts profan« sei, läßt sich zwar behaupten, aber nicht beweisen. Homers ›göttlicher Sauhirte‹ ist kein Schweinehüter aus der Umgebung von Basel oder Lugano, sondern ein Hirte, der wohl, ehe er dem Dichter anheimfiel, zum orphischen Symbolschatze gehörte, worin das Schwein unter gewissen Umständen als ›tabu‹ empfunden wurde, vermutlich seiner Geschlechtspotenz wegen. So taucht es als Begleiter des Gottes auf; in christlicher Darstellung (Folklore) auch als Begleiter des hl. Antonius. Homers ›göttlicher Sauhirte‹ ist vermutlich eine Blasphemie, und die Orphiker haben ihn ja auch mit den Füßen nach oben in ihrer Hölle aufgehängt.

»Mit dem Bachofenschen Chthonismus«, sagt Bernoulli S. 364, »wird das Feld des Willens, der Tat, aber auch des Intellekts, des theoretischen Gedankens, der Vorstellung überhaupt verlassen; und es eröffnet sich dem forschenden Geiste (dem Geiste?) mit der Anschauung, mit dem Gefühl, mit dem Ergriffensein ein ganz anderes Bewegungsfeld.« Ein solches System der puren Bildwelt bedarf, um gleichwohl Theorie und Tat zu werden, seiner Ergänzung durch Faktoren, die ihm eigentlich grundsätzlich entgegen sind, nämlich durch Deuter, durch Interpreten, durch Sprecher. Bernoulli selbst ist ein vorzüglicher Interpret, beruft sich aber zur systematischen Bewältigung Bachofens außerdem auf zwei Symbolphilosophen, die er in der zweiten Hälfte seines Buches einführt: auf einen konsequenterweise literarisch unbezeugt Gebliebenen, auf Alfred Schuler, und auf den Freund dieses rätselhaften Mannes, auf Ludwig Klages. Gleich[143] hier könnte man einen gewichtigen Einwand gegen Bernoulli sowohl wie gegen Klages erheben: daß sie nämlich notwendig um die logische, die personalhafte, um die geistige Realität ihrer Sprache nicht gleicherweise bemüht sein können wie um die Bekämpfung des Logos. Dies soll durchaus kein nörgelnder, sondern, bei aller Anerkennung großer Verdienste der genannten Männer, eine methodische Bemerkung sein, die auf den Kern der Sache abzielt. Man kann nämlich, wie Bernoulli und Klages es wollen, die natürliche Bild- und Ausdruckswelt nicht prinzipiell vertreten, ohne die Welt des Wortes und der Form als irrelevant zu betrachten. Man kann auf der rigorosen Licht- und Intellektfeindschaft nicht bestehen, ohne die Logizität der Sprache zu verlieren.

»Die beiden ehernen Angeln, in denen sich (nach Bernoulli) die Pforte des Denkens bei Klages dreht«, sind einerseits der Ausdrucksgedanke und andererseits der Bewußtseinsbegriff. Der letztere Begriff interessiert uns hier besonders. Das Bewußtsein kann nach Klages-Bernoulli nicht aus der Seele allein, sondern nur aus deren »Zusammenspiel oder richtiger: Ringkampf mit dem ihm wesentlich gegensätzlichen (weil akosmischen) Geiste verstanden werden« (S. 378). Schon Nietzsche verkünde, der Geist sei lebensfeindlich, aber er unterlasse es, daran eine folgenschwere Unterscheidung anzuschließen: die Unterscheidung von Wille und Trieb. Klages seinerseits detestiert die Willensakte; in jeder Willkürbewegung stecke die persönliche (doch wohl nur die triebhafte?) Ausdrucksform. Das Leben an sich ist religiös (?). Das Christentum ist in seiner Blüte weit entfernt von Aszese (?). Dennoch sei es der Weg zur Aszese, weil es der Weg ›nach oben‹ ist. Oben im höchsten Zenith steht »unbeweglich saugend ein farbloser Lichtpunkt: das Gegenherz der Welt, der Logos« (S. 375).

Auf das System im einzelnen einzugehen, ist nicht meine Absicht. Klages bestreitet die geistige Norm; er läßt nur die beiden ersten Bezirke, Leib und Seele, gelten. Es finden sich schöne und wertvolle Aussagen: »Der Leib hängt mit der Seele zusammen wie das Zeichen mit dem Bezeichneten.« Oder: »Ebenso wie der Sprachlaut Zeichen des Begriffs, ebenso ist der lebendige Leib die Erscheinung der Seele, und ebenso wie der Sprachkundige den gesprochenen Lauten das Urteil entnimmt,[144] das sie meinen, ebenso entnehmen wir den Vorgängen des lebendigen Leibes die seelische Wallung, die in ihnen sich äußert.« Hier ist der Seele die Sprache als Begriff und Urteil übergeordnet. Diesen Begriff und dieses Urteil als abstrakte Erkenntnisakte bekämpft Klages und empfindet sie als lebensfeindlich und lebensstörend. Soweit befinden wir uns auch in vollkommener Eintracht mit ihm und begrüßen dankbar einen Vorkämpfer der Symbol-, Kunst- und Bildwelt; der Malerei insbesondere als jener Kunst, die am innigsten seiner Philosophie entspricht (siehe Prinzhorn, der ihn an allen entscheidenden Punkten zitiert). Nur eben, wenn Klages nun den Willen und damit das Bewußtsein einem der individuellen Ausströmung hinderlichen Hemmtriebe zuschreibt, statt ihn als die Persönlichkeit integrierend zu empfinden; nur eben, wenn er im Sinne der Romantik an eine ›Naturgnade‹ glaubt, die durch den Willen entstellt wird; nur, wo er im Willen den Geist überhaupt und vom Worte die Ratio abtrennt: nur dort versagen wir die Gefolgschaft.

Der kontemplative Charakter, den Klages vertritt, mag solche Philosophie bedingen. Nur der kontemplative und in der Kontemplation verbleibende Mensch, in den Künsten vor allem der Maler, der Bildner mag solche Philosophie teilen. Dichter und Denker aber, die innerhalb der psychischen Norm eine höhere Stufe repräsentieren, werden nicht zustimmen können. Beide werden des Wortgegners Sprache kritisch betrachten und werden es fraglich finden, ob eine Philosophie vorhanden sei, die der Realität ihres Normcharakters widerstreitet. Die Sprache nämlich, der Logos, gehört zwar, soweit sie nur Bild ist, der Psyche an; mit ihrem sinngebenden, aszetischen, erwirkenden Teile aber, mit ihrem formalen Charakter, mit Verteilung, Ordo, Persönlichkeit gehört sie zum Geiste. Sie ist ein Grenzprodukt auf dem Wege von der psychischen zur pneumatischen Norm und muß der Bildsphäre notwendig zu einem Teile überhoben sein, während sie mit ihrem niedrigeren Teile ihr angehört. Wäre dem nicht so, was hätte Bachofens Bil der-Entdeckung für einen Sinn? Er hätte seine ganze Entdeckung brütend für sich behalten; ja er hätte seine Bilder ohne ihre Interpreten, die antiken Dichter und Philosophen, nicht einmal verstehen können. Klages weiß selber sehr wohl, daß die[145] Sprache, ›recht betrachtet‹, das mächtigste Ausdrucksmittel des Menschen ist und seelenkundliche Aufschlüsse ersten Ranges zu liefern vermag. Nur eben, wo nach Bernoulli sein Werk (›Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft‹, Joh. Ambr. Barth, Leipzig) in der »Auffassung der Begabung schlechthin als Gestaltungskraft« gipfelt; wo er in einer heute viel widerspruchsvolleren Weise als die Zeit der schöpferischen Idealisten und der Romantiker noch von der ›Naturpersönlichkeit‹ überzeugt scheint: nur dort regt sich unser Widerspruch.

Es gibt keine solche Naturgnade (Gestaltungskraft und -Person), oder aber sie ist den heftigsten Perversionen und Dämonismen, den heftigsten asozialen und verwirrenden Einflüssen ausgesetzt. Heute mehr als je; denn frühere Zeiten zehrten inniger noch als wir heute vom alten Erbe der Weihe, der Sakramente; sie standen im Banne und unter der Nachwirkung einer festgefügten Tradition, mehr als ihnen bewußt war. Jene traumhafte Trägheit, die Freud in seiner ›Neurosenlehre‹ den Symbolikern entgegenhält; die Hemmung gerade des Willens und sein Ersatz durch aufsteigende Bilder; die libidinöse Gebundenheit; hier ist die Kehrseite der Ausdrucksphilosophie. Und es gibt keinen Zwiespalt der Urpotenzen Seele und Geist. Die Klagessche These: ›Seele contra Geist‹ (Bernoulli, S. 384) ist die Formel des von der geistigen Norm gelösten Ästhetizismus. Diese Formel aber, wenn man sie ihrer zeitbedingten Relativität entkleidet, widerspricht einem Urbild (Dogma): der Erschaffung der Menschenseele durch die Person Gottes. Ist die Seele nicht eine Gnade des Geistes? Ist sie nicht der Interpret des Geistes und sein Emissär? Ist sie im Geiste nicht beschlossen mit allen ihren Vermögen; freilich nicht im wissenschaftlichen, sondern im heiligen Geiste? Von einem ›Pandämonium der Bildelemente‹ ist bei Klages (›Vom Wesen des Bewußtseins‹, 1921) die Rede. Fragt man aber, wie aus solchem Pandämonium Gestalt und Person entstünden, dann lautet die Antwort: »Was immer in den Strahl des urbildlichen Schauens trat, es ist nicht mehr ein Ding unter anderen Dingen, sondern es wurde zum Mittelpunkt der Welt« (S. 93). Auf welche Weise wurde es dazu? Der Weg vom Schauen zum Mittelpunkt der Welt ist ein weiter Weg; das Werk und ein Mittlerwille liegen dazwischen.[146]

Quelle:
Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit. Frankfurt a.M. 1984, S. 142-147.
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