285. Todter sucht sein Hemd.

[221] In alten Zeiten lag um die Alt-Strelitzer Kirche ein Friedhof und vor demselben, wie auch noch heute, das Schulhaus, in welchem der Cantor seine Wohnung hatte. Dieser bemerkte einstmals, als er gerade um Mitternacht aus dem Fenster schaute, daß aus einem Grabe eine Leiche stieg, sich ihres Sterbehemdes entledigte und von dannen ging; bald darauf erschien dieselbe aber wieder, zog sich das Leichenhemd wieder an und verschwand in dem Grabe. Der Cantor, aufmerksam gemacht, war in der folgenden Nacht wieder am Fenster und sah wirklich dasselbe Schauspiel sich erneuern. In der dritten[221] Nacht, als der Todte wieder aus dem Grabe gestiegen, sich entfernt hatte und das Hemd auf dem Leichensteine lag, schlich der Cantor, ein waghalsiger Mann, aus seiner Wohnung hinaus und holte sich dasselbe. Als der Todte zurückkam und sein Hemd nicht fand, begann er einen furchtbaren Lärm. Bald wußte er, wo seine Kleidung verborgen lag, und zwang durch seine Drohungen den Dieb, als er denselben am Fenster bemerkte, ihm das Hemd wieder eigenhändig hinauszubringen. Der Cantor wollte anfänglich zwar nicht nachgeben, machte sich aber dennoch bald auf den Weg zum erbitterten Todten. Als er aber unten auf dem Friedhof angekommen war, sprang ihm der Spuk auf den Rücken und jagte ihn in die Kirche hinein, zum Altare hin. Hier mußte der Cantor dreimal die Worte sagen ›Vergessen und Vergeben!‹ Als der Cantor das erstemal diese Worte sagte, antwortete eine Stimme aus der Ferne ›Vergeben, aber nicht vergessen!‹ So auch beim zweiten- und drittenmale, wo der Cantor diese Worte sprach. Sodann eilte der Todte mit dem Cantor wieder aus der Kirche, gab ihm vor der Thür noch zwei furchtbare Ohrfeigen, in Folge dessen er erkrankte und bald darauf auch starb.


Niederh. 4, 52f.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 221-222.
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