351. Die verwünschte Prinzessin im Ruhner Berge.

[268] Ein junger Schäfer aus Ruhn hütete einstmals am Johannistage seine Heerde am Ruhner Berge. Gegen Mittag legte er sich hin und schlief ein, er erwachte erst, als es schon Mittag vorüber war. Da sah er, daß seine Heerde von einer wunderschönen Jungfrau gehütet wurde. Auch stand auf dem Berge ein alterthümliches prächtiges Schloß. Die Jungfrau trat auf ihn zu und bot ihm einen ›Guten Tag‹. Der schüchterne Jüngling wagte kaum ihren Gruß zu erwidern. Sie aber fuhr fort ›Alles was du hier siehst soll dein sein, wenn du mich nur einmal küssest. Ich bin von einem Zauberer in diesen Berg gebannt und nur alle hundert Jahre am Johannistage zwischen 12 und 1 Uhr darf ich herauskommen. Wenn dann ein unschuldiger Jüngling meine Lippen mit den seinen berührt, dann bin ich erlöst.‹ Der Schäfer erwiderte nichts, aber auf seinen Lippen schwebten die Worte ›Hebe dich weg von mir, du gleißnerische Schlange!‹ Die Jungfrau sah ihn noch einmal bittend an, da schlug es 1 Uhr, und sie sprach ›Nun muß ich wieder hundert Jahre warten, bis ich den finde, der mich erlöst.‹ Damit war sie und all' die Pracht verschwunden und der Schäfer stand allein bei seiner Heerde.


Niederh. 1, 168 ff.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 268-269.
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