5.

[44] Vor vielen Jahren lebte in Plau ein Schuster, der hielt nur einen Gesellen und lieferte doch so rasch seine Arbeit, daß er bald große Kundschaft bekam und ein reicher Mann wurde. Wenn er nämlich ein Paar Stiefel oder Schuhe zugeschnitten am Abend hinlegte, lagen sie am andern Morgen fertig da auf seinem dreibeinigen Arbeitsstuhl. Der Meister wußte nicht, wer sie ihm fertig machte, bis ihm sein Geselle einst dahinter half. Einmal sollten nämlich ein Paar Schuhe zum nächsten Morgen abgeliefert werden, und der Meister befahl dem Gesellen, die Nacht hindurch zu arbeiten, während er selbst zu Bette ging. Wie der Geselle nun wacker seinen Pechdraht zog, kam Schlag zwölf Uhr ein kleines nacktes Männchen mit einer entsetzlich großen Nase herein, setzte sich auf des Meisters Stuhl und arbeitete rüstig zu. Dem Gesellen wurde unheimlich zu Muthe; er nahm seine Lampe und ging aus der Stube. Wie er aber durchs Schlüsselloch sah, bemerkte er, wie das Männchen Licht machte und ruhig fortarbeitete. Der Geselle ging in seine Kammer, konnte aber nicht einschlafen, und erzählte beim ersten Morgengrauen dem Meister sein Abenteuer. Der Meister, anfänglich erschrocken, wollte sich seinem Wohlthäter erkenntlich zeigen und, da derselbe nackt war, ihm einen neuen Rock machen lassen und hinlegen. Da der Geselle genau die Größe des Männchens anzugeben wußte, so fertigten sie einen genau passenden Rock und legten ihn des Abends auf des Meisters Stuhl. Sie selbst schauten abwechselnd durch das Schlüsselloch, um zu sehen, was weiter geschehen werde. Um 12 Uhr kam richtig das Männchen wieder, machte Licht, nahm den Rock auf, besah ihn und murmelte ›Hm, hm! jetzt soll ich also reisen.‹ Gleich darauf ward es dunkel in der Stube, und als Meister und Geselle hineintraten, fanden sie Rock und Männchen verschwunden. Von der Zeit an standen aber Schuhe und Stiefel am Morgen genau so wie man sie am Abend hingelegt hatte, und war kein Stich daran geschehen. Der Schuster[44] aber wurde nach und nach wieder so arm wie er vorher gewesen war.


Senator Schultetus in Plau, durch Cantor Ehrich; vgl. Temme 218.

Quelle:
Karl Bartsch: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Meklenburg 1–2. Band 1, Wien 1879/80, S. 44-45.
Lizenz:
Kategorien: