18. Kapitel

Muße und Sport

[159] Nachdem sich die Damen an jenem Abend zurückgezogen hatten, blieb ich noch einige Zeit mit Doktor Leete beisammen. Unsere Unterhaltung drehte sich um die Folgen der Bestimmung, daß die Bürger nach vollendetem fünfundvierzigsten Lebensjahr von der Arbeitspflicht im Dienste der Nation befreit waren. Anlaß dazu gaben Doktor Leetes Mitteilungen über den Anteil, den die in Ruhestand getretenen Bürger an den Staatsgeschäften nahmen.

»Mit fünfundvierzig Jahren«, sagte ich, »ist der Mensch kräftig genug, um noch zehn Jahre körperlich und zweimal zehn Jahre geistig tätig zu sein und Beachtenswertes zu leisten. In diesen Jahren verabschiedet und auf das Altenteil gesetzt zu werden, muß von energischeren Naturen eher als eine Härte denn als eine Gunst empfunden werden.«

»Mein lieber Herr West«, rief Doktor Leete aus, während ein gutmütiges Lächeln über seine Züge flog, »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie interessant diese Anschauungen aus dem neunzehnten Jahrhundert für uns sind, wie ganz seltsam sie uns heute berühren! So erfahren Sie denn, Sie Kind eines anderen und doch des nämlichen Geschlechts, daß wir keineswegs der Meinung sind, den wichtigsten, interessantesten und würdigsten Gebrauch von unseren Kräften zu machen, wenn wir nur die Arbeit leisten, durch die jeder zu seinem Teil dazu beitragen muß, der Gesamtheit der Nation die Mittel einer angenehmen Existenz zu sichern. Uns gilt diese Art Arbeit als eine von der[159] Notwendigkeit auferlegte Pflicht, die wir erfüllt haben müssen, ehe uns ein Recht zusteht, uns ganz einer höheren Betätigung unserer Kräfte hinzugeben, geistigen und seelischen Genüssen und Bestrebungen, die allein das wahre Leben ausmachen. Gewiß ist alles mögliche geschehen, um der Arbeit den Charakter des Lästigen und Beschwerlichen zu nehmen. Man hat die Arbeitslasten gerecht verteilt, alle Mittel aufgeboten, die unsere Arbeit anziehend gestalten, unseren Eifer herausfordern und anfeuern können. Ja, man hat tatsächlich erreicht, daß die Arbeit meist als Anregung und nur im relativen Sinne als eine Last empfunden wird. Trotzdem ist es nicht unsere Arbeit, es ist die höhere und umfassendere Betätigung unseres Wesens, der wir uns nach erfüllter Pflicht hingeben können, die uns als Hauptzweck des Daseins gilt.

Natürlich ist nicht jeder meiner Zeitgenossen, ja nicht einmal ihre Mehrheit von den wissenschaftlichen, künstlerischen, schriftstellerischen Interessen beseelt, die einzelnen Bürgern die Muße als eines der wertvollsten Lebensgüter erscheinen lassen. Für viele ist die letzte Hälfte ihres Lebens in der Hauptsache eine Zeit, in der sie sich Genüssen anderer Art hingeben können. Sie unternehmen Reisen, pflegen den geselligen Verkehr mit ihren Jugendfreunden und früheren Arbeitsgenossen, gehen ihren persönlichen Neigungen und Liebhabereien nach und leben auf alle nur denkbare Art ihrer Erholung. Mit einem Wort: die Jahre nach Ablauf der wirtschaftlichen Dienstpflicht sind ihnen eine Zeit des ruhigen und ungestörten Genusses aller Güter und Annehmlichkeiten des Lebens, die sie selbst haben schaffen helfen. Allein wie unendlich verschieden wir auch unsere Muße nach unseren persönlichen Neigungen anwenden, so stimmen wir doch alle in dem einen überein: unserer Dienstentlassung sehen wir alle als der Zeit entgegen, in der wir erst zum vollen Genuß unseres angeborenen Rechts kommen, wo wir erst wirklich unsere Großjährigkeit erreicht haben und allen Zwangs und aller Aufsicht ledig werden; wo wir den Lohn unserer Arbeit genießen, der gleichsam in uns selbst angelegt worden ist. Wie die jungen Leute Ihrer Zeit kaum das einundzwanzigste Jahr erwarten konnten, so sehnen wir heutzutage mit Ungeduld das fünfundvierzigste herbei. Mit einundzwanzig Jahren werden wir Männer, mit fünfundvierzig Jahren erhalten wir eine neue[160] Jugend zurück. Als die beneidenswerteste Zeit des Lebens gilt uns nicht mehr die Jugend, sondern das reifere Lebensalter, ja sogar das Greisenalter, das heißt die Jahre, die Sie als solches zu bezeichnen pflegten. Dank den heutigen besseren Existenzbedingungen, dank vor allem der völligen Sorgenfreiheit naht sich heute das Greisenalter viele Jahre später und zeigt ein weit freundlicheres Gesicht als in vergangenen Zeiten. Leute von gewöhnlicher Konstitution werden gewöhnlich fünfundachtzig bis neunzig Jahre alt, und meiner Ansicht nach sind wir mit fünfundvierzig Jahren körperlich und geistig jünger, als Ihre Zeitgenossen mit fünfunddreißig waren. Es deucht uns ganz sonderbar, daß Sie mit fünfundvierzig Jahren an das hereinbrechende Alter dachten und schon rückwärts zu blicken begannen. Wir treten dann gerade in den genußreichsten Abschnitt unseres Lebens ein. Zu Ihrer Zeit war der Vormittag, jetzt dagegen ist der Nachmittag die lichtere Hälfte des Lebens.«

Soviel mir erinnerlich ist, kamen wir nun auf Volksbelustigungen, Spiele und Sport zu sprechen und verglichen das im neunzehnten Jahrhundert Gebotene mit den Genüssen des zwanzigsten Jahrhunderts.

»In einer Hinsicht«, sagte Doktor Leete, »tritt ein sehr wesentlicher Unterschied zutage. Bei uns gibt es keine berufsmäßigen Sportsmänner mehr. Diese sonderbaren Gestalten Ihrer Zeit sind verschwunden, und nicht mehr in Geld bestehen die Preise, um die unsere Athleten kämpfen. Bei allen unseren Wettkämpfen geht es stets und allein um den Ruhm. Beständig finden Spiele und Turniere zu Wasser und zu Lande statt. Dafür sorgen der edle Wetteifer zwischen den Angehörigen der einzelnen Berufsgruppen und das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Anhänglichkeit, das jeden Arbeiter mit seinen Berufsgenossen verbindet. An diesen Veranstaltungen können die jungen Leute schwerlich ein stärkeres Interesse nehmen als die alten, ausgedienten Ehrenmitglieder der einzelnen Berufe. Nächste Woche findet bei Marblehead das Jachtwettsegeln der Genossenschaften statt. Sie können dann selbst urteilen, ob die Begeisterung Ihrer Zeitgenossen bei ähnlichem Anlaß sich mit dem allgemeinen Jubel vergleichen läßt, der heute dadurch ausgelöst wird. Das Verlangen des römischen Volkes nach ›Brot und Spielen‹ erkennt man gegenwärtig als vernünftig an. Wenn Brot die erste notwendige Bedingung[161] für unsere Existenz ist, so ist Erholung die nächstfolgende, und die Nation sorgt dafür, daß der einen wie der anderen Rechnung getragen wird. Die Amerikaner des neunzehnten Jahrhunderts waren in der unglücklichen Lage, weder für das eine noch das andere dieser Bedürfnisse sorgen zu können. Es fehlte an den nötigen Einrichtungen für beide. Sogar wenn sich das Volk damals mehr freier Zeit erfreut hätte, so würde es doch oft in Verlegenheit gewesen sein, wie es sie angenehm verbringen sollte. In diese Lage kommen wir niemals.«

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 159-162.
Lizenz:
Kategorien: