2. Kapitel

Julian West schläft ein

[25] Der 30. Mai 1887 fiel auf einen Montag. Er gehörte im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts zu den alljährlichen Nationalfeiertagen. Er war der sogenannte »Dekorationstag«, der gefeiert wurde, um das Andenken der Soldaten der Nordstaaten zu ehren, die am Kriege für die Erhaltung der Union teilgenommen hatten. Unter militärischem und bürgerlichem Ehrengeleit, Musikkorps an der Spitze, pflegten die Veteranen an diesem Tage nach den Kirchhöfen zu ziehen und auf die Gräber ihrer gefallenen Kameraden Blumenkränze niederzulegen. Die Zeremonie war sehr feierlich und ergreifend. Da der älteste Bruder Edith Bartletts im Kriege gefallen war, so hatte die Familie die Gewohnheit, am Dekorationstag seine Ruhestätte in Mount Auburn zu besuchen.

Ich hatte mir die Erlaubnis ausgebeten, sie dorthin begleiten zu dürfen. Als wir gegen Abend in die Stadt zurückkehrten, blieb ich bei der Familie meiner Braut zu Tische. Nachdem die Mahlzeit vorüber war, nahm ich im Salon eine Zeitung zur Hand und las von einem neuen Streik der Bauarbeiter, der wahrscheinlich das Fertigwerden meines unglückseligen Hauses noch weiter hinausschieben mußte. Ich erinnere mich noch deutlich, wie aufgebracht ich darüber wurde. In so kräftigen Ausdrücken, wie sie die Gegenwart von Damen nur gestattete, verwünschte ich die Arbeiter im allgemeinen und die Streikenden im besonderen. Die Anwesenden pflichteten mir durchaus bei, und in der folgenden Unterhaltung fielen von allen Seiten solche Bemerkungen über das sittenlose Treiben der aufhetzenden Arbeiteragitatoren, daß diesen Herren die Ohren geklungen haben müssen. Man war sich darin einig, daß die Verhältnisse mit jedem Tage schlimmer würden, so daß niemand wissen könne, wie das alles noch enden werde. »Das Schlimmste ist«, meinte Frau Bartlett, wie ich mich noch deutlich erinnere, »daß es den Anschein hat, als ob die Arbeiterklasse der ganzen Welt mit einem Male verrückt geworden wäre. In Europa stehen die Dinge sogar noch schlimmer als hier. Dort möchte ich um keinen Preis zu leben wagen. Ich fragte neulich meinen Mann, wohin wir[25] eigentlich auswandern sollten, wenn die schrecklichen Ereignisse eintreten würden, die uns von den Sozialisten angedroht werden. Er gab mir zur Antwort, daß er jetzt kein Land mit sicheren gesellschaftlichen Verhältnissen kenne, Grönland, Patagonien und das Chinesische Reich ausgenommen.« »Die Chinesen«, fügte jemand Frau Bartletts Worten hinzu, »wußten sehr gut, was sie wollten, als sie sich gegen die westliche Zivilisation abschlossen. Sie erkannten weit besser als wir, wozu sie führen muß. Sie sahen voraus, daß die Zivilisation nichts anderes ist als verhülltes Dynamit.«

Ich erinnere mich, wie ich darauf Edith beiseitezog und sie zu überreden suchte, daß es besser wäre, wenn wir sofort heirateten, ohne auf die Fertigstellung des Hauses zu warten. Wir könnten ja, meinte ich, solange reisen, bis unser Heim fertig wäre. Edith war an diesem Abend ganz besonders schön. Das schwarze Kleid, das sie des Tages wegen trug, hob die Reinheit ihre Teints in vorteilhafter Weise. Noch heute kann ich mir deutlich vorstellen, wie sie an dem Abend aussah. Als ich mich verabschiedete, begleitete sie mich in die Vorhalle, und ich küßte sie wie gewöhnlich zum Abschied. Kein einziger ungewöhnlicher Umstand unterschied dieses Auseinandergehen von dem anderer Abende, wo wir für eine Nacht oder einen Tag einander Lebewohl gesagt hatten. Nicht die leiseste Ahnung beschlich unser Gemüt, daß dieser Abschied mehr als ein gewöhnliches Scheiden sei.

Es war noch ziemlich früh für einen Liebenden, als ich meine Verlobte verließ, allein man darf daraus nicht etwa auf geringe Liebe zu Edith schließen. Ich litt nämlich seit langem an Schlaflosigkeit, und obgleich ich sonst vollkommen gesund war, so fühlte ich mich doch gerade an jenem Tage sehr erschöpft, weil ich die vorausgegangenen beiden Nächte kaum ein Auge geschlossen hatte. Edith wußte dies, und so hatte sie darauf bestanden, mich um neun Uhr nach Hause zu schicken mit der strengen Weisung, sofort zu Bett zu gehen.

Das von mir bewohnte Haus befand sich seit drei Generationen in dem Besitz meiner Familie, deren einziger noch lebender Sproß in gerader Linie ich war. Das Haus, ein stattlicher alter Holzbau, war im Innern mit[26] altväterischer Eleganz ausgestattet. Es lag jedoch in einem Viertel, dem die gute Gesellschaft schon seit langem den Rücken gekehrt hatte wegen der vielen Mietshäuser und Fabriken, die dort emporgeschossen waren. Ich konnte also auch nicht daran denken, eine junge Frau in dieses Haus zu führen, am allerwenigsten aber ein so zartes, feines Geschöpf wie Edith Bartlett. Ich hatte das Haus darum zum Verkauf ausgeboten und benutzte es einstweilen nur zum Schlafen, die Mahlzeiten nahm ich in meinem Klub ein. Nur ein einziger Diener, mein treuer Neger Sawyer, bewohnte mit mir das Haus und sorgte für meine wenigen Bedürfnisse. Eine ganz besondere Einrichtung des Hauses befürchtete ich jedoch künftig in meinem neuen Heim sehr zu vermissen: das Schlafzimmer, das ich mir unter den Grundmauern hatte bauen lassen. Ich hätte unmöglich in der Stadt mit ihrem nicht endenwollenden nächtlichen Lärme schlafen können, wenn mein Zimmer in einem oberirdischen Stockwerk gelegen wäre. In das unterirdische Gemach meines alten Hauses drang kein Laut der Oberwelt. Sobald ich es betreten und die Tür hinter mir geschlossen hatte, umgab mich Grabesstille. Damit keine Kellerfeuchtigkeit in das Zimmer dringe, hatten die sehr dicken Wände wie der Boden einen Belag von hydraulischem Zement erhalten. Um den Raum feuer- und diebessicher zu machen, so daß ich Wertsachen darin aufbewahren konnte, hatte ich ihn mit hermetisch zusammenschließenden Steinplatten decken lassen, und die eiserne Außentür war mit einer dicken Lage Asbest überzogen. Beständiger Luftwechsel war dem Gemach durch eine dünne Röhre gesichert, die mit einem Windrad auf dem Dache des Hauses in Verbindung stand.

Man sollte meinen, der Bewohner eines solchen Zimmers hätte sich eines guten Schlafes erfreuen müssen. Das war jedoch bei mir nicht der Fall. Es kam sogar da nur selten vor, daß ich zwei Nächte hintereinander gut schlief. Ich war derart an das Wachbleiben gewöhnt, daß ich mir nur wenig daraus machte, wenn ich eine einzige Nacht nicht schlafen konnte. Brachte ich jedoch eine zweite Nacht lesend im Lehnstuhl zu, statt schlafend im Bett, so war ich so erschöpft, daß ich ein ernstes Nervenleiden befürchten mußte. Um ihm vorzubeugen, sah ich mich dann gezwungen, meine Zuflucht zu künstlichen Mitteln zu nehmen, um den Schlummer herbeizurufen. Wenn ich mich nach zwei durchwachten Nächten auch in[27] der dritten noch nicht schläfrig fühlte, so schickte ich nach dem Doktor Pillsbury.

Man titulierte Herrn Pillsbury nur aus bloßer Höflichkeit »Doktor«, denn er war, was man zu jener Zeit einen »Naturheilarzt« oder »Quacksalber« zu nennen pflegte. Er selbst legte sich den Titel bei: »Professor des tierischen Magnetismus.« Ich war mit ihm ganz zufällig bekannt geworden bei einigen dilettantischen Untersuchungen über gewisse Erscheinungen des tierischen Magnetismus. Meines Erachtens verstand Doktor Pillsbury absolut nichts von der Medizin, aber er war ein vorzüglicher Magnetiseur. Wenn ich eine dritte schlaflose Nacht befürchtete, so pflegte ich ihn holen zu lassen, damit er mich durch seine Manipulationen einschläferte. Wie groß auch meine nervöse Unruhe, meine geistige Erregung sein mochten, es gelang doch Doktor Pillsbury jedesmal, mich nach kurzer Zeit in tiefen Schlaf zu versetzen. Und dieser dauerte so lange, bis ich durch das umgekehrte magnetische Verfahren wieder aufgeweckt wurde. Es war weit einfacher, einen Schlafenden aufzuwecken, als jemand in Schlaf zu versenken, und so hatte ich der Bequemlichkeit halber Doktor Pillsbury meinen Diener Sawyer lehren lassen, wie ich geweckt werden mußte. Außer diesem treuen Diener wußte niemand, warum Doktor Pillsbury mich besuchte, und daß er überhaupt zu mir kam. Natürlich würde ich nach der Hochzeit Edith mein Geheimnis mitgeteilt haben. Dies zu tun, hatte ich bisher unterlassen, da der magnetische Schlaf unzweifelhaft mit einer kleinen Gefahr verbunden war. Ich befürchtete daher, daß meine Braut Einspruch gegen meine Gewohnheit erheben würde. Die drohende Gefahr bestand selbstverständlich darin, daß der Schlaf zu tief werden und in einen Starrkrampf übergehen konnte, den der Magnetiseur nicht mehr zu brechen vermochte. Der Schlummer hätte dann mit dem Tod endigen müssen. Wiederholte Versuche hatten mich jedoch davon überzeugt, daß bei den nötigen Vorsichtsmaßregeln diese Gefahr außerordentlich gering war, und so hoffte ich – allerdings nicht mit zu großer Zuversicht – auch Edith davon zu überzeugen. Nachdem ich meine Verlobte verlassen hatte, ging ich geradeswegs nach Hause und sandte sofort Sawyer nach Doktor Pillsbury. Unterdessen suchte ich mein unterirdisches Schlafzimmer auf, vertauschte meinen Gesellschaftsanzug mit einem bequemen[28] Schlafrock, setzte mich und begann die Briefe zu lesen, die mit der Abendpost gekommen waren und die Sawyer auf meinen Lesetisch gelegt hatte. Einer von ihnen war von dem Baumeister meines neuen Hauses und bestätigte, was ich infolge der Zeitungsnachrichten schon vermutet hatte. Die neu ausgebrochenen Streiks, so schrieb er mir, machten es ihm für unbestimmte Zeit unmöglich, seine kontraktlichen Verpflichtungen gegen mich einzuhalten. Weder Unternehmer noch Arbeiter würden in dem streitigen Punkte ohne langen Kampf nachgeben. Caligula wünschte bekanntlich dem römischen Volke nur einen einzigen Kopf, damit er ihn mit einem Streich abschlagen könne. Ich fürchte, daß ich beim Durchlesen des Briefes einen Augenblick lang fähig gewesen bin, der Arbeiterklasse in Amerika auch nur einen einzigen Kopf zu wünschen. Meine trübseligen Betrachtungen wurden durch die Rückkehr Sawyers unterbrochen, der den Doktor mitbrachte.

Mein Diener hatte es nicht leicht gehabt, mir Doktor Pillsburys Hilfe zu verschaffen. Dieser stand nämlich im Begriff, unsere Stadt noch in derselben Nacht zu verlassen. Seit er mich zum letztenmal gesehen, hatte er von einem einträglichen Tätigkeitsfeld als Magnetiseur in einer entfernten Stadt gehört und sich entschlossen, die gute Gelegenheit schleunigst beim Schopfe zu fassen. Ganz erschreckt durch seine Mitteilung fragte ich, was ich denn ohne ihn anfangen solle, und wer anders als er mich einschläfern könne. Doktor Pillsbury nannte mir die Namen mehrerer Magnetiseure in Boston und versicherte, daß sie die gleichen Kräfte besäßen wie er selbst. Dadurch einigermaßen beruhigt, gab ich Sawyer die Weisung, mich am nächsten Morgen um neun Uhr zu wecken. Im Schlafrock legte ich mich dann möglichst bequem aufs Bett und überließ mich den Händen des Magnetiseurs. Mein ungewöhnlich nervöser Zustand bewirkte jedenfalls, daß ich diesmal das Bewußtsein langsamer als gewöhnlich verlor, endlich aber überkam mich doch eine wohltuende Schläfrigkeit.[29]

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 25-30.
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