3. Kapitel

Julian Wests Erwachen

[30] »Er wird gleich die Augen öffnen. Es ist besser, wenn er zuerst nur einen von uns sieht.«

»Versprich mir also, daß du ihm nichts sagen wirst.«

Die erste Stimme war die eines Mannes, die zweite die einer Frau, beide sprachen flüsternd miteinander.

»Ich will abwarten, wie es mit ihm geht«, antwortete der Mann.

»Nein, bitte, versprich es mir«, bat eindringlich die Frauenstimme.

»Laß ihr doch den Willen«, flüsterte eine dritte Stimme, ebenfalls die einer Frau.

»Gut, gut, ich verspreche es also«, erwiderte der Mann. »Aber schnell, entfernt euch. Er kommt schon zu sich.«

Ich hörte Kleider rauschen und schlug die Augen auf. Ein stattlicher Mann von ungefähr sechzig Jahren beugte sich über mich. Auf seinen Zügen lag ein Gemisch von großem Wohlwollen und lebhafter Neugierde. Der Mann war mir völlig fremd. Ich richtete mich halb auf, stützte mich auf den Ellbogen und schaute mich um. Das Zimmer war leer. Ich konnte schwören, daß ich nie zuvor darin gewesen war oder in einem ähnlich möblierten Gemach. Meine Blicke wanderten zu meinem Gefährten zurück. Dieser lächelte.

»Wie fühlen Sie sich?« erkundigte er sich.

»Wo bin ich?« fragte ich zurück.

»In meinem Hause«, lautete die Antwort.

»Wie kam ich hierher?«

»Darüber werden wir erst sprechen, wenn Sie etwas kräftiger sind. Sie befinden sich bei Freunden und in guten Händen. Wie fühlen Sie sich?«

»Ein wenig seltsam«, erwiderte ich, »aber mir scheint, daß ich ganz wohl bin. Wollen Sie mir gütigst erklären, wie es kommt, daß ich Ihre Gastfreundschaft genieße? Was ist mit mir geschehen? Wie bin ich hierhergekommen? Es war mein eigenes Haus, in dem ich einschlief.«[30]

»Zu Erklärungen haben wir noch später genug Zeit«, erwiderte mein unbekannter Wirt mit einem beruhigenden Lächeln. »Es ist besser, vorerst jedes aufregende Gespräch zu vermeiden, bis Sie sich etwas erholt haben werden. Nehmen Sie, bitte, einige Schlucke von dieser Medizin, sie wird Ihnen guttun. Ich bin Arzt.«

Ich stieß das Glas zurück und setzte mich aufrecht auf mein Lager. Es fiel mir nicht leicht, denn mir war gar sonderbar schwindlig zumute.

»Ich bestehe darauf, sofort zu erfahren, wo ich bin, und was Sie mit mir gemacht haben«, sagte ich.

»Lieber Herr«, antwortete mein Gefährte, »ich bitte Sie, regen Sie sich nicht auf. Ich möchte, daß Sie jetzt noch nicht auf Erklärungen bestehen. Allein, wenn Sie durchaus sofort Auskunft haben wollen, so werde ich Sie zufriedenzustellen suchen. Nur sollen Sie zuerst diesen Trunk nehmen, der Sie kräftigen wird.«

Daraufhin trank ich, was er mir anbot.

»Ihnen zu erklären, wie Sie hierhergekommen sind«, hub mein Gefährte an, »das ist nicht so leicht, wie Sie offenbar meinen. Sie können mir genau so viel darüber erzählen wie ich Ihnen. Sie sind soeben aus einem tiefen Schlaf erwacht oder richtiger: aus einem Starrkrampf. Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann. Sie versicherten soeben, daß Sie in Ihrem eigenen Hause eingeschlafen wären. Darf ich fragen, wann das war?«

»Wann?« erwiderte ich, »wann? Nun, gestern abend natürlich, gegen zehn Uhr. Ich hatte meinem Diener Sawyer Weisung gegeben, mich früh neun Uhr zu wecken. Was ist aus Sawyer geworden?«

»Das kann ich Ihnen nicht genau sagen«, antwortete mein Gefährte, während er mich sonderbar prüfend ansah. »Aber ich bin sicher, daß seine Abwesenheit einen triftigen Entschuldigungsgrund hat. Und könnten Sie mir nun nicht genauer angeben, wann Sie in Ihren Schlaf verfielen? Ich meine das Datum.«

»Gestern abend natürlich! Wie ich Ihnen schon sagte. Gestern abend, das heißt, wenn ich nicht etwa einen ganzen Tag verschlafen habe. Guter Gott, sollte das möglich sein! Und doch habe ich ein seltsames Gefühl, als ob ich sehr lange geschlafen hätte! Es war am Dekorationstag, als ich mich schlafen legte.«[31]

»Am Dekorationstag?«

»Jawohl, Montag, den Dreißigsten.«

»Verzeihung, welchen Dreißigsten?«

»Nun, den Dreißigsten dieses Monats natürlich, wenn ich nicht etwa gar bis in den Juni hinein geschlafen habe. Aber das ist ja ganz unmöglich.«

»Wir haben jetzt September.«

»September! Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß ich seit Mai geschlafen habe! Himmel, das ist ja unglaublich.«

»Wir werden sehen«, versetzte mein Gefährte. »Sie sagen also, daß Sie sich am 30. Mai schlafen legten?«

»Jawohl.«

»Darf ich fragen, in welchem Jahre das war?«

Ich starrte den Mann einige Augenblicke lang sprachlos an.

»In welchem Jahre?« wiederholte ich dann mit schwacher Stimme.

»Ja, bitte, in welchem Jahre. Nachdem Sie mir das gesagt haben, werde ich imstande sein, Ihnen zu sagen, wie lange Sie geschlafen haben.«

»Es war im Jahre 1887«, sagte ich.

Mein Gefährte nötigte mir noch einen Schluck des Trankes auf und fühlte mir den Puls.

»Mein lieber Herr«, sagte er mir, »Ihr Benehmen läßt darauf schließen, daß Sie ein Mann von Bildung sind. Wie ich wohl weiß, war Bildung zu Ihrer Zeit durchaus nichts so Selbstverständliches wie in unseren Tagen. Als Gebildeter werden Sie wohl schon selbst die Beobachtung gemacht haben, daß in dieser Welt das eine nicht wunderbarer genannt werden kann als das andere. Alle Erscheinungen haben gleicherweise erklärliche Ursachen und gleicherweise natürliche Wirkungen. Was ich Ihnen mitzuteilen habe, wird Sie sicherlich in Erstaunen setzen. Allein ich hoffe zuversichtlich, daß es Ihre Gemütsruhe nicht allzusehr erschüttern wird. Ihrem Aussehen nach sind Sie ein junger Mann von kaum dreißig Jahren, und Ihr Befinden scheint sich nicht viel von dem jemandes zu unterscheiden, der soeben aus einem zu langen und tiefen Schlaf erwacht ist. Und doch schreiben wir heute den 10. September des Jahres 2000, und Sie haben genau gerechnet einhundertdreizehn Jahre, drei Monate und elf Tage geschlafen.«[32]

Ich fühlte mich wie betäubt und nahm auf das Zureden meines Gefährten einen Trank zu mir, den er mir in einer Tasse reichte. Gleich darauf wurde ich müde und sank abermals in einen tiefen Schlaf.

Als ich die Augen wieder aufschlug, flutete helles Tageslicht durch das Zimmer, das bei meinem ersten Erwachen künstlich beleuchtet gewesen war. Mein geheimnisvoller Wirt saß neben mir. In dem Augenblick, wo ich munter ward, schaute er mich nicht an. So hatte ich die beste Gelegenheit, ihn zu beobachten und über meine ungewöhnliche Lage nachzudenken, ehe er mein Wachsein bemerkte. Mein Schwindel war vorüber und mein Geist vollkommen klar. Nun fiel mir die Behauptung wieder ein, daß ich einhundertdreizehn Jahre geschlafen haben sollte. Schwach und verwirrt, wie ich bei meinem ersten Erwachen gewesen war, hatte ich sie ohne langes Fragen hingenommen. Jetzt aber erschien sie mir nur als ein alberner Versuch, mich zu täuschen. Den Grund dafür vermochte ich allerdings nicht im entferntesten zu erraten.

Etwas Außergewöhnliches mußte sicherlich geschehen sein. Wie hätte ich sonst in einem fremden Hause, in Gesellschaft eines Fremden erwachen können? Nur erwies sich meine Phantasie als unvermögend, es weiter als zu den ausschweifendsten Vermutungen über dieses außergewöhnliche Etwas zu bringen. Sollte ich vielleicht das Opfer einer Verschwörung geworden sein? Es sah ganz danach aus. Wenn aber menschlichen Gesichtszügen zu trauen war, so durfte ich sicher sein, daß der neben mir sitzende Mann mit dem edlen, geistvollen Antlitz unmöglich an einem verbrecherischen Tun teilhaben konnte. Nun kam mir eine andere Vermutung. War ich nicht vielleicht der Gegenstand eines groben Scherzes meiner Freunde geworden? Sie konnten zufällig hinter das Geheimnis meines unterirdischen Zimmers gekommen sein und hatten mir die Gefahren des magnetischen Schlafes zu Gemüte führen wollen. Doch kam mir die Vermutung bald höchst unwahrscheinlich vor: Sawyer würde mich nun und nimmer verraten haben, auch besaß ich keine Freunde, denen ich die Sache zutrauen konnte. Trotz allem erschien die Annahme am begründetsten, daß ich das Opfer eines derben Scherzes geworden sei. Indem ich halb und halb erwartete, ein bekanntes Gesicht lachend hinter einem Stuhl oder Vorhang hervorlugen zu sehen, schaute ich mich aufmerksam[33] im Zimmer um. Als meine Augen wieder auf meinem Gefährten haftenblieben, waren dessen Blicke auf mich gerichtet.

»Sie haben ein schönes Schläfchen von zwölf Stunden gemacht«, sagte er heiter, »und ich finde, daß es Ihnen gut bekommen ist. Sie sehen viel besser aus. Ihre Gesichtsfarbe ist frisch, und Ihre Augen sind klar. Wie befinden Sie sich?«

»Ich habe mich nie wohler befunden als jetzt«, erwiderte ich, indem ich mich aufrichtete.

»Sie erinnern sich ohne Zweifel noch Ihres ersten Erwachens«, fuhr mein Gefährte fort, »und Ihres Erstaunens, als ich Ihnen sagte, wie lange Sie geschlafen hätten?«

»Wenn ich mich recht erinnere, so sagten Sie, ich hätte einhundertdreizehn Jahre geschlafen.«

»Ganz recht.«

»Sie werden zugeben«, sagte ich ironisch lächelnd, »daß die Geschichte ziemlich unwahrscheinlich klingt.«

»Ungewöhnlich ist sie auf jeden Fall, das gebe ich gern zu«, antwortete er, »allein gewisse Umstände vorausgesetzt ist sie weder unwahrscheinlich noch unvereinbar mit dem, was wir über den Starrkrampf wissen. Wenn dieser, wie in Ihrem Falle, ein vollständiger ist, so sind auch die Funktionen des Lebens vollständig aufgehoben. Die Gewebe werden dann nicht verbraucht. Der Scheintod kann in solchem Falle unbestimmt lange Zeit dauern, wenn nur der Körper durch äußere Umstände gegen Verletzungen geschützt ist. Ihr Starrkrampf ist allerdings der längste, von dem man je Genaues gehört hat. Mir ist jedoch kein Grund bekannt, weshalb Sie nicht in Ihrem Zustand unterbrochenen Lebens hätten noch weiter verharren können, immer vorausgesetzt, daß das Zimmer unbeschädigt geblieben wäre, in dem wir Sie aufgefunden haben. Ihr Scheintod konnte unter diesen Bedingungen dauern, bis nach zahllosen Jahrtausenden die allmähliche Erkaltung der Erde die Gewebe Ihres Körpers zerstört und den Geist in Freiheit gesetzt hätte.«

Ich mußte mir eines sagen. War ich wirklich das Opfer eines Scherzes geworden, so hatten seine Anstifter einen Mann zum Helfershelfer gewählt, der diese Täuschung bewundernswert durchführte. Die eindringliche[34] und sogar beredte Art und Weise meines Gefährten hätte selbst die Behauptung überzeugend erscheinen lassen, daß der Mond ein großer Käse sei. Ich hatte seine Theorie über den Starrkrampf mit einem Lächeln des Zweifels aufgenommen, das schien ihn jedoch nicht im geringsten irrezumachen.

»Vielleicht«, sagte ich, »werden Sie so freundlich sein, mit Ihren Erklärungen fortzufahren und mir etliche Einzelheiten über die Umstände zu erzählen, unter denen Sie das bewußte Zimmer samt seinem Inhalt entdeckt haben. Es macht mir Vergnügen, gut erfundenen Märchen zu lauschen.«

»In dem vorliegenden Falle«, antwortete der Herr mir ernst, »könnte kein Märchen so seltsam sein, wie die Wahrheit es ist. Sie müssen wissen, daß ich mich schon seit vielen Jahren mit dem Plane trug, in dem großen Garten neben diesem Hause ein Laboratorium für chemische Versuche zu bauen, für die ich große Vorliebe habe. Vergangenen Donnerstag begannen wir endlich damit, den Keller zu graben. Am Abend waren wir damit fertig, und Freitag sollten die Maurer kommen. Donnerstag nacht regnete es in Strömen, so daß ich Freitag früh meinen Keller als Froschteich und die Grundmauern abgespült fand. Meine Tochter betrachtete mit mir zusammen den Schaden und machte mich auf ein Stück Mauerwerk aufmerksam, das durch die Abspülung einer Kellerwand bloßgelegt worden war. Ich scharrte noch mehr Erde von dem Gemäuer herunter; es schien ziemlich umfangreich zu sein, und so beschloß ich, es zu untersuchen. Die Arbeiter, die ich holen ließ, gruben ein längliches Gewölbe aus. Es lag ungefähr acht Fuß tief unter der Erdoberfläche und war offenbar in die eine Ecke vom Fundament eines alten Hauses hineingebaut gewesen. Dieses Haus mußte durch Feuer zerstört worden sein. Darauf ließ eine Schicht Asche und Kohle schließen, die auf der Decke des Gewölbes lagerte. Dieses selbst war durchaus gut erhalten, der Zement noch so fest, als ob er neu wäre. Es hatte eine Türe, die wir jedoch nicht aufbrechen konnten. Um in das Gewölbe zu gelangen, mußten wir einige große Quadersteine der Bedachung ausheben. Eine dumpfe Luft schlug uns entgegen, die aber rein, trocken und nicht kalt war. Mit einer Laterne ausgerüstet stieg ich in das Gewölbe hinab und befand mich in[35] einem Schlafzimmer, das im Stile des neunzehnten Jahrhunderts möbliert war. Auf dem Bette lag ein junger Mann. Die Annahme drängte sich natürlich auf, daß er tot war und schon seit hundert Jahren tot sein mußte. Allein sein Körper war so außerordentlich wohlerhalten, daß es meine tiefe Verwunderung erregte wie die einiger Kollegen, die ich hatte rufen lassen. Wir würden es nicht für möglich gehalten haben, daß die Kunst des Einbalsamierens je einen so hohen Grad der Vollkommenheit erreicht hätte. Jetzt aber lag allem Anschein nach ein überzeugender Beweis vor unseren Augen, daß unsere nächsten Vorfahren in ihr Großes geleistet hatten. Die Wißbegierde meiner Kollegen war aufs höchste erregt worden. Sie wollten sofort Versuche anstellen, um sich über die Natur des angewandten Verfahrens Klarheit zu verschaffen. Ich hielt sie davon zurück. Der Grund, der mich dabei leitete oder wenigstens der einzige Grund, den ich jetzt zu erwähnen brauche, war die Erinnerung daran, daß ich früher einmal gelesen, wie viel sich Ihre Zeitgenossen mit tierischem Magnetismus beschäftigt hatten. Es kam mir der Gedanke, daß Sie möglicherweise in einem Starrkrampf lägen, daß das Geheimnis Ihres unversehrten Körpers nicht die Kunst des Einbalsamierens, sondern das Leben sei. Mir selbst erschien diese Idee so überaus phantastisch, daß ich sie nicht einmal anzudeuten wagte, um mich nicht dem Spotte meiner Kollegen auszusetzen. Ich schützte irgendeinen Vorwand vor, damit die beabsichtigten Versuche hinausgeschoben wurden. Kaum hatten mich jedoch meine Kollegen verlassen, so begann ich mit systematischen Wiederbelebungsversuchen, deren Erfolg Ihnen bekannt ist.«

Selbst wenn der Inhalt der Erzählung noch unglaubhafter gewesen wäre, so hätten doch ihre Einzelheiten zusammen mit der eindringlichen Art und der Persönlichkeit des Sprechers jeden Zuhörer stutzig gemacht. Ein sonderbares Gefühl beschlich mich, als ich nach dem Schlusse seiner Rede zufällig und flüchtig mein Bild in einem Spiegel erblickte, der an der Wand hing. Ich stand auf und ging auf ihn zu. Das Gesicht, das ich sah, war auf ein Haar dasselbe, schaute auch nicht um einen Tag älter aus als das Antlitz, das ich erblickt hatte, als ich an jenem Dekorationstag meine Halsbinde knüpfte, ehe ich zu Edith ging. Und doch wollte dieser Herr mir weismachen, daß seitdem hundertunddreizehn Jahre verflossen[36] seien. Bei diesem Gedanken kam es mir aufs neue zum Bewußtsein, wie ungeheuerlich der Schwindel war, zu dessen Opfer man mich auserkoren hatte. Heftiger Zorn ergriff mich, als ich mir vorstellte, wie unerhört rücksichtslos, ja frech man gegen mich handelte.

»Sie sind wahrscheinlich erstaunt«, sagte mein Gefährte, »daß Ihr Aussehen unverändert geblieben ist, obgleich Sie heute über hundert Jahre älter sind als an dem Tage, da Sie sich in Ihrem unterirdischen Gemach schlafen legten. Das darf Sie nicht verwundern. Gerade weil die Funktionen Ihres Organismus vollständig unterbrochen waren, haben Sie diese lange Zeit überlebt. Hätte Ihr Körper während des Starrkrampfes die geringste Veränderung erfahren, so wäre er längst der Auflösung verfallen.«

»Mein Herr«, erwiderte ich, mich zu dem Sprechenden wendend, »ich sehe mich völlig außerstande, den Grund zu erraten, der Sie veranlaßt, mir mit ernster Miene dies wunderbare Märchen zu erzählen. Aber Sie sind sicherlich selbst klug genug, um zu verstehen, daß nur ein Dummkopf sich dadurch anführen lassen könnte. Ersparen Sie mir jeden weiteren kunstvoll ausgeklügelten Unsinn, und sagen Sie mir ein für allemal, ob Sie sich weigern, mir eine vernünftige Erklärung zu geben, wo ich mich befinde, und wie ich hierhergekommen bin. Wenn nicht, so werde ich mir selbst hierüber Klarheit verschaffen, wer immer mich auch daran zu hindern suchen wird.«

»Sie glauben mir also nicht, daß wir das Jahr 2000 schreiben?«

»Halten Sie es wirklich noch für nötig, mich danach zu fragen?« erwiderte ich.

»Nun«, versetzte mein seltsamer Wirt, »da ich Sie nicht zu überzeugen vermag, so sollen Sie sich selbst überzeugen. Fühlen Sie sich stark genug, mir die Treppe hinauf zu folgen?«

»Ich bin so stark, wie ich nur jemals gewesen bin«, versetzte ich ärgerlich, »und ich werde es vielleicht zu beweisen haben, wenn dieser Scherz noch viel länger dauern sollte.«

»Ich bitte Sie, mein Herr«, gab mir mein Gefährte zur Antwort, »seien Sie nicht allzu fest davon überzeugt, daß Sie das Opfer eines tollen Streiches sind. Der Rückschlag könnte sonst zu überwältigend auf Sie[37] wirken, sobald Sie sich von der Wahrheit meiner Behauptungen überzeugt haben.«

Der teilnehmende, mitleidsvolle Ton, mit dem er dies sagte, sowie das Ausbleiben auch des leisesten Zeichens von Unwillen über meine gereizten Worte dämpften merkwürdig meine Empörung. Mit außerordentlich widerspruchsvollen Empfindungen folgte ich dem Herrn aus dem Zimmer. Er führte mich zwei Treppen und noch einige Stufen hinauf. Wir traten auf das flache Dach des Hauses, das, von einem Geländer umgeben, einen weiten Ausblick gewährte. »Sehen Sie sich gefälligst um«, sagte mein Begleiter, »und sagen Sie mir, ob die Stadt zu unseren Füßen das Boston des neunzehnten Jahrhunderts ist.«

Unter mir breitete sich eine große Stadt aus. Lange, breite Straßen, von Bäumen beschattet und mit prachtvollen Gebäuden eingefaßt, zogen nach allen Richtungen. Die Häuser standen meist nicht in ununterbrochener Flucht nebeneinander, sondern einzeln, in größeren oder kleineren umzäunten Gärten. Jedes Stadtviertel hatte stattliche offene Plätze; sie waren mit Bäumen bepflanzt, zwischen denen im Abendsonnenschein Statuen und Springbrunnen leuchteten. Überall ragten mit ihren stolzen Säulen öffentliche Gebäude empor von riesenhaftem Umfang und einer architektonischen Großartigkeit, die zu meiner Zeit nicht ihresgleichen gehabt hatte. Gewiß: nie in meinem Leben hatte ich diese Stadt gesehen oder eine andere, die mit ihr zu vergleichen gewesen wäre. Ich ließ meine. Blicke endlich nach Westen bis zum Horizont schweifen. War das blaue Band, das sich gegen Sonnenuntergang zu schlängelte, nicht der Charlesfluß mit seinen vielen Windungen? Ich blickte gen Osten. Vor mir dehnte sich der Bostoner Hafen, wie sonst von seinen Landzungen umschlossen. Nicht eines seiner grünen Inselchen fehlte.

Nun wußte ich, daß mir die Wahrheit über das wunderbare Geschick gesagt worden war, das mich betroffen hatte.[38]

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 30-39.
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