4. Kapitel

Die Familie Dr. Leetes

[39] Ich wurde nicht ohnmächtig, als ich jedoch versuchte, mir meine Lage deutlich vorzustellen, befiel mich ein Schwindel. Mein Gefährte mußte mich kräftig stützen, als er mich vom Dache in ein geräumiges Zimmer des obersten Stockwerkes führte. Hier nötigte er mich, ein oder zwei Gläser guten Weines zu trinken und mit ihm zusammen ein leichtes Mahl einzunehmen.

»Ich hoffe, nun wird Ihnen wieder ganz wohl«, sagte er heiter. »Ich würde kein so starkes Mittel gewählt haben, um Sie zu überzeugen, wenn Sie mich nicht dazu gezwungen hätten. Übrigens ist Ihr Verhalten unter den obwaltenden Umständen nur zu entschuldbar. »Ich gestehe«, fügte er lachend hinzu, »daß ich einen Augenblick lang fürchtete, von Ihnen zu Boden geschlagen zu werden, wie man dies wohl im neunzehnten Jahrhundert zu tun pflegte. Ich erinnere mich, daß die Bostoner Ihrer Zeit berühmte und stets bereite Raufbolde waren. Da hielt ich es für ratsam, Sie so rasch wie möglich von der Wahrheit meiner Erzählung zu überzeugen. Ich denke, Sie werden mich jetzt gern von der Beschuldigung freisprechen, als hätte ich Ihnen einen Streich spielen wollen.«

»Jetzt würde ich. Ihnen glauben, und wenn Sie versicherten, daß statt hundert Jahre tausend verflossen seien, seitdem ich diese Stadt zum letzten Male erblickte«, antwortete ich, tief bewegt von den auf mich einstürmenden Eindrücken.

»Nur ein Jahrhundert ist seitdem verstrichen«, versetzte mein Gefährte, »allein manches Jahrtausend der Weltgeschichte hat weniger außerordentliche Wandlungen gesehen.«

Indem er mir mit unwiderstehlicher Herzlichkeit die Hand entgegenstreckte, fügte er hinzu: »Und nun heiße ich Sie im Boston des einundzwanzigsten Jahrhunderts und in diesem Hause herzlich willkommen. Mein Name ist Leete; Doktor Leete werde ich gewöhnlich genannt.«

»Mein Name ist Julian West«, erwiderte ich, während ich seine Hand schüttelte.[39]

»Es freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr West«, antwortete er. »Da, wie Sie sehen, dieses Haus an Stelle des Ihrigen gebaut worden ist, so hoffe ich, daß es Ihnen nicht schwerfallen wird, sich darin heimisch zu fühlen.«

Nachdem ich mich erfrischt hatte, nahm ich dankbar Doktor Leetes Anerbieten an, zu baden und die Kleider zu wechseln.

Allem Anschein nach gehörten große Veränderungen in der männlichen Tracht nicht zu den bedeutsamen Wandlungen, von denen mein Wirt gesprochen hatte. Abgesehen von wenigen Einzelheiten bereiteten mir meine neuen Kleidungsstücke nicht die geringste Verlegenheit.

Physisch war ich nun wieder ich selbst. Aber wie es geistig um mich stand, möchte der Leser ohne Zweifel wissen. Welches waren meine Empfindungen und Gedanken, als ich mich so plötzlich in eine neue Welt verschlagen fand? Als Antwort stelle ich ihm eine Gegenfrage: Wie würde es wohl in ihm ausschauen, wenn er sich in einem Nu von der Erde sagen wir in das Paradies oder in den Hades versetzt wüßte? Würden seine Gedanken sogleich zur Erde zurückkehren, die er doch eben erst verlassen hat, oder würde er nicht über dem begreiflichen Interesse an seiner neuen Umgebung sein früheres Leben eine Weile fast vergessen, um erst später seiner wieder zu gedenken? Ich kann nur sagen, daß die letztere Annahme die richtige sein müßte, vorausgesetzt, daß seine seelische Verfassung auch nur entfernt der meinen gleichen würde, als ich mich so mit einem Schlage aus der alten in eine neue Welt versetzt sah. Nachdem der erste überwältigende Eindruck sich gelegt hatte, bemächtigten sich Erstaunen und Neugierde über meine neue Umgebung meines Geistes und ließen keinen Raum für andere Gedanken. Die Erinnerung an mein früheres Leben war für den Augenblick wie ausgelöscht.

Kaum fühlte ich mich dank der gütigen Fürsorge meines Wirtes munter und kräftig, so empfand ich das brennende Verlangen, auf das Dach des Hauses zurückzukehren. Bald darauf saßen wir dort, in bequeme Stühle zurückgelehnt. Unter uns breitete sich ringsum die Stadt vor unseren Blicken aus. Doktor Leete beantwortete meine zahlreichen Fragen über alte Eigentümlichkeiten der Stadt, die ich vermißte, und neue, die an[40] ihre Stelle getreten waren. Dann wollte er wissen, welcher Unterschied zwischen der alten und neuen Stadt mir am meisten auffiele.

»Um mit Kleinem zu beginnen«, erwiderte ich, »so glaube ich, daß das Fehlen der Schornsteine und jeglichen Rauches mir zuerst als Besonderheit aufgefallen ist.«

»Ach«, rief mein Gefährte lebhaft interessiert aus, »ich dachte gar nicht mehr an die Schornsteine, es ist schon lange her, daß sie außer Gebrauch gekommen sind. Seit fast hundert Jahren ist das rohe Verbrennungsverfahren veraltet, mittels dessen man zu Ihrer Zeit Wärme erzeugte.«

»Was mir im allgemeinen an der Stadt am meisten auffällt«, sagte ich, »das ist der große Volkswohlstand, den ihre Pracht beweist.«

»Ich gäbe viel darum, einen Blick auf das Boston Ihrer Tage werfen zu können«, versetzte Doktor Leete. »Wie ich aus Ihren Worten schließe, schauten ohne Zweifel die Städte jener Zeit recht armselig aus. Wenn man damals auch genug Geschmack besessen hätte – und ich bin nicht so unhöflich, dies in Frage zu stellen –, um glänzende Städte bauen zu können, so hätten doch die Mittel dazu gefehlt. Sie konnten nicht vorhanden sein bei der allgemeinen Armut, die die Folge der absonderlichen Wirtschaftsordnung Ihrer Zeit war. Außerdem ließ der damals herrschende übergroße Individualismus keinen starken Gemeinsinn aufkommen. Es scheint, daß der ganze vorhandene Reichtum fast ausschließlich für Zwecke des privaten Luxus vergeudet wurde. Heutzutage wird im Gegenteil der überschüssige gesellschaftliche Reichtum am liebsten für die Verschönerung der Stadt verwendet, weil an ihr alle in gleichem Maße ihre Freude haben.«

Die Sonne begann sich zu neigen, als wir auf das Dach des Hauses zurückkehrten, und während unseres Gesprächs senkte sich allmählich die Nacht auf die Stadt.

»Es wird spät«, sagte Doktor Leete. »Lassen Sie uns hinabgehen; ich möchte Ihnen meine Frau und meine Tochter vorstellen.«

Seine Worte brachten mir die weiblichen Stimmen in Erinnerung, die ich um mich flüstern gehört hatte, als mir das Bewußtsein zurückgekommen war. Ich stimmte dem Vorschlag lebhaft zu, denn ich war[41] sehr neugierig, wie die Damen des Jahres 2000 aussähen. Das Zimmer, in dem wir die Gattin und Tochter meines Wirtes fanden, war von einem milden Licht erfüllt, wie das Innere des ganzen Hauses überhaupt. Ich war sicher, daß es künstliches Licht sein mußte, obgleich ich die Quelle nicht entdecken konnte, von der es ausstrahlte. Frau Leete war eine ausnehmend stattliche, wohlerhaltene Dame, die ungefähr das Alter ihres Gatten haben mochte. Ihre Tochter stand in der ersten jungfräulichen Blüte, sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Ihr Antlitz mit den tiefblauen Augen, dem zarten Teint und vollendet schönen Zügen war geradezu bezaubernd. Aber selbst wenn ihr Gesicht besonderer Reize ermangelt hätte, so würde ihr doch der tadellose Wuchs einen Platz unter den Schönheiten des neunzehnten Jahrhunderts gesichert haben. Weibliche Zartheit und Anmut paarten sich in dem lieblichen Geschöpf herrlich mit Gesundheit und reicher Lebenskraft, Eigenschaften, die nur zu oft den jungen Damen gefehlt hatten, mit denen allein ich sie vergleichen konnte. Doktor Leetes Tochter hieß Edith, wie meine Braut. Das war ein sonderbarer Zufall, der zwar, verglichen mit der allgemeinen Seltsamkeit meiner Lage, nur geringfügig schien, mir aber trotzdem auffiel.

Der nun folgende Abend steht sicherlich in der Geschichte des geselligen Verkehrs einzig da. Wollte man jedoch annehmen, daß unsere Unterhaltung besonders gezwungen und schwierig gewesen wäre, so würde man sich irren. Ich glaube wirklich, daß die Menschen sich unter sogenannten unnatürlichen, das heißt ungewöhnlichen Umständen am allernatürlichsten benehmen. Solche Umstände verbannen zweifellos geradezu alles Gekünstelte. Jedenfalls weiß ich, daß meine Unterhaltung mit den Vertretern einer anderen Zeit und Welt sich, durch so edle Aufrichtigkeit und Freimütigkeit auszeichnete, wie sie nur selten die Frucht einer langen Bekanntschaft ist. Ohne Zweifel trug der feine Takt meiner Gastfreunde viel dazu bei. Natürlich konnten wir uns von nichts anderem unterhalten als von dem seltsamen Ereignis, das mich unter sie geführt hatte. Da jedoch meine Wirte ihr Interesse daran offen und gerade aussprachen, so ward der Gegenstand zu einem guten Teil des Wunderbaren und Unheimlichen entkleidet, das so leicht die Oberhand hätte gewinnen[42] können. Ihr Takt war so vollendet, daß man sich versucht fühlen konnte, zu glauben, es sei etwas Alltägliches für sie, sich mit Leuten zu unterhalten, die aus einem anderen Jahrhundert zu ihnen verschlagen wurden.

Was mich selbst anbetrifft, so kann ich mich nicht erinnern, daß mein Geist je lebendiger und schärfer, meine seelische Empfänglichkeit feiner und tiefer gewesen wäre als an jenem Abend. Natürlich will ich damit nicht sagen, daß mich das Bewußtsein meiner wunderbaren Lage auch nur für einen Augenblick verlassen hätte. Es äußerte sich jedoch besonders in einer fieberhaft gehobenen Stimmung, in einer Art geistigen Rausches1.

Edith Leete beteiligte sich nur wenig an der Unterhaltung; aber wenn hin und wieder ihre Schönheit mit magnetischer Gewalt meine Blicke auf sich zog, so fand ich, daß ihr Auge unverwandt, wie selbstvergessen, fast wie bezaubert, an mir hing. Offenbar hatte ich ihr Interesse im höchsten Grade erregt, und wenn sie ein Mädchen mit reicher Phantasie war, so konnte das wahrhaftig nicht wundernehmen. Wohl mußte ich denken, daß Neugierde der Hauptgrund ihres Interesses war, allein das hätte keinen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, würde Edith Leete weniger schön gewesen sein.

Doktor Leete sowohl wie die Damen schienen sich ungemein für meine Schilderung der Umstände zu interessieren, unter denen ich mich in meinem unterirdischen Zimmer zur Ruhe begeben hatte. Alle hatten ihre Vermutungen, wie es wohl gekommen sein möge, daß man mich dort vergessen konnte. Schließlich einigten wir uns in einer Annahme, die[43] eine recht plausible Erklärung hierfür bot, obgleich natürlich niemand sagen konnte, ob diese Annahme in allen ihren Einzelheiten zutraf. Die über dem Gewölbe gefundene Aschenschicht bewies, daß das Haus niedergebrannt war. Nehmen wir an, daß die Feuersbrunst in der nämlichen Nacht ausbrach, in der ich einschlief. Wir brauchen dann nur noch vorauszusetzen, daß Sawyer bei dem Brande oder durch einen damit zusammenhängenden Unfall das Leben verlor, das Weitere ergibt sich hieraus von selbst. Niemand außer ihm und Doktor Pillsbury wußte von dem Vorhandensein des Gemachs und meinem Schlafe darin. Doktor Pillsbury war aber noch in der nämlichen Nacht nach New Orleans übergesiedelt und hatte wahrscheinlich nie von der Feuersbrunst gehört. Meine Freunde und die Öffentlichkeit mußten folglich denken, daß ich meinen Tod in den Flammen gefunden hätte. Sogar eine Ausgrabung der Trümmer – sofern sie nicht sehr gründlich gewesen wäre – würde nicht zur Entdeckung des geheimen Gemachs unter den Grundmauern geführt haben. Eine gründliche Ausgrabung wäre allerdings nötig geworden, wenn man das Grundstück bald nach dem Brande wieder bebaut hätte. Die unruhigen Zeiten und die ungünstige Lage hatten jedoch wahrscheinlich einen Neubau verhindert. Aus der Größe der Bäume, die jetzt in seinem Garten an der Stelle meines Hauses standen, schloß Doktor Leete, daß der Boden dort seit mehr als einem halben Jahrhundert unbebaut geblieben war.

1

Bei der Erklärung dieses Geisteszustandes darf etwas nicht übersehen werden. Abgesehen von unserem Gesprächsthema war in meiner Umgebung fast nichts vorhanden, was mich an das Geschehene erinnert hätte. Im alten Boston hatte ich in nächster Nachbarschaft meines Hauses Bevölkerungskreise finden können, die mir weit fremder gewesen wären als meine Wirte. Die Sprache der Bostoner des zwanzigsten Jahrhunderts unterscheidet sich sogar weniger von der ihrer gebildeten Vorfahren im neunzehnten Jahrhundert, als sich die Sprache der letzteren von derjenigen Washingtons und Franklins unterschied. Was die Unterschiede in der Kleidung und dem Hausgeräte der beiden Epochen anbetrifft, so sind sie nicht auffälliger als die Wandlungen, die die Mode früher während einer einzigen Generation mit sich brachte. (Julian West.)

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 39-44.
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