20. Kapitel

Erinnerung an die Vergangenheit

[172] An dem nämlichen Nachmittag fragte mich Edith gelegentlich, ob ich je wieder das unterirdische Gemach im Garten aufgesucht hätte, in dem ich aufgefunden worden war.

»Bis heute noch nicht«, antwortete ich. »Offen gestanden, schreckte ich bisher vor dem Gedanken eines Besuchs zurück, da ein solcher Ort alte Erinnerungen wecken und dadurch mein geistiges Gleichgewicht zu heftig erschüttern könnte.«

»Gewiß«, sagte sie. »Ich kann mir vorstellen, wie gut Sie daran taten, den Ort zu meiden. Ich hätte mir das selbst sagen und schweigen sollen.«

»Im Gegenteil«, versetzte ich, »es ist mir lieb, daß Sie die Sache erwähnt haben. Der Anblick des unterirdischen Gemachs hätte mir doch nur am ersten oder zweiten Tage nach meinem Erwachen gefährlich werden können. Ihnen vor allem verdanke ich es, daß ich mich jetzt in der neuen Welt sicher und heimisch fühle. So heimisch, daß ich heute nachmittag gern den Ort wieder aufsuchen möchte, wenn Sie mich nur begleiten und böse Geister fernhalten wollen.«

Edith wollte anfangs von meinem Vorschlag nichts wissen, als sie aber sah, daß ich allen Ernstes auf ihm beharrte, willigte sie ein, mit mir zu kommen. Vom Hause aus konnte man zwischen den Bäumen den Erdhaufen liegen sehen, der beim Ausgraben aufgeworfen worden war. Wenige Schritte brachten uns an Ort und Stelle. Alles war geblieben, wie es in dem Augenblick gewesen, als die Arbeiten dadurch unterbrochen wurden, daß man im Gemach jemand aufgefunden hatte. Nur die Türe hatte man geöffnet und die Steinplatte wieder an der Decke eingefügt. Wir stiegen die Böschung zu dem ausgeschachteten Keller hinab, traten durch die Türe und standen nun in dem schwach beleuchteten Zimmer.

Alles war noch genau so, wie ich es vor einhundertdreizehn Jahren an jenem Abend zum letztenmal gesehen hatte, ehe ich meine Augen zum langen Schlafe schloß. Ich sah mich eine Zeitlang schweigend im Zimmer um. Meine Gefährtin warf verstohlen Blicke voll scheuer und mitleidiger Neugier auf mich. Ich streckte ihr meine Hand entgegen, und sie legte[172] die ihrige hinein, ihre zarten Finger erwiderten beschwichtigend meinen Händedruck. Endlich flüsterte Edith: »Wäre es nicht besser, wenn wir nun das Zimmer wieder verließen? Sie dürfen sich nicht allzuviel zumuten. Wie wunderlich muß Ihnen zumute sein!«

»Im Gegenteil«, versetzte ich, »mir ist gar nicht wunderlich zumute, und das ist jedenfalls seltsamer als alles, was ich sonst erlebt habe.«

»Gar nicht wunderlich zumute?« wiederholte Edith halb fragend, halb erstaunt.

»Nicht im geringsten«, erwiderte ich. »Ich empfinde keine einzige der Gemütsbewegungen, die Sie gefürchtet haben, und auf die ich ebenfalls bei diesem Besuch gefaßt war. Ich nehme alle Eindrücke der vertrauten Umgebung in mich auf, sie wecken zahlreiche Erinnerungen in mir, aber der Anblick regt mich nicht auf, wie ich es erwartet hatte. Sie können davon nicht mehr überrascht sein, als ich es selbst bin. Seit jenem furchtbaren Morgen, wo Sie mir zu Hilfe kamen, habe ich versucht, jeden Gedanken an mein früheres Leben zu verbannen, so, wie ich auch vermied, hierherzugehen, aus Furcht vor der damit verbundenen seelischen Erschütterung. Es geht mir wie jemandem, der ein verletztes Glied nicht zu rühren wagte, weil er dessen übergroße Empfindlichkeit fürchtete, der es nun zu bewegen versucht und dabei herausfindet, daß es gelähmt und empfindungslos ist.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Ihr Gedächtnis geschwunden ist?«

»Durchaus nicht«, versetzte ich. »Ich erinnere mich an alles, was mit meinem früheren Leben zusammenhängt, aber die Erinnerung weckt keine lebhaften Empfindungen in mir. Mein früheres Leben liegt so klar vor mir, als wäre seit seinem Ende nur ein Tag verflossen; aber die Gefühle, die durch meine Erinnerungen hervorgerufen werden, sind so verblaßt, als hätte ich bei vollem Bewußtsein das Jahrhundert verlebt, das wirklich verflossen ist. Vielleicht gibt es auch hierfür eine Erklärung. Ein Wechsel unserer Umgebung wirkt ähnlich wie der Verlauf einer langen Zeit: beide rücken uns Vergangenes in weite Ferne. Als ich zuerst aus meinem Starrkrampf erwachte, da erschien mir mein früheres Leben wie der gestrige Tag. Jetzt dagegen, wo ich meine neue Umgebung kennengelernt habe und die wunderbaren Wandlungen sehe, die die Welt umgestalteten,[173] fällt mir die Erkenntnis nicht mehr schwer, sondern leicht, daß ich ein ganzes Jahrhundert geschlafen habe. Können Sie sich vorstellen, daß jemand hundert Jahre in vier Tagen durchlebt? Es kommt mir wirklich so vor, als ob es mir so gegangen wäre, und dieses Gefühl läßt mir mein früheres Leben weit zurückliegend und schattenhaft erscheinen. Können Sie sich vorstellen, daß dies möglich sei?«

»Ich kann es mir schon vorstellen«, erwiderte Edith nachdenklich. »Wir alle sollten dankbar dafür sein, daß dem so ist, denn es bleibt Ihnen dadurch sicherlich viel Leid erspart.«

Ich bemühte mich, mir selbst sowohl wie Edith meinen seltsamen Gemütszustand zu erklären. »Stellen Sie sich vor«, sagte ich, »daß jemand von einem Verlust, der ihn betroffen hat, erst viele, viele Jahre später Kunde erhält, vielleicht erst nach einem halben Menschenalter. Ich denke, seine Empfindungen müßten einigermaßen den meinigen gleichen. Wenn ich der Menschen gedenke, die mir in der so weit zurückliegenden Zeit teuer waren, des Kummers, den sie um meinetwegen gelitten haben müssen, so erfüllt mich weniger leidenschaftlicher Schmerz als wehmutsvolles Mitgefühl für ein Leid, das lange schon vergangen ist.«

»Sie haben uns bisher noch nichts von Ihren Angehörigen erzählt«, sagte Edith. »Standen Ihnen viele so nahe, daß Sie um sie trauerten?«

»Gott sei Dank«, erwiderte ich, »ich hatte nur sehr wenige Verwandte und keine näheren als ein paar Vettern. Aber es gab ein Wesen, das zwar nicht zu meiner Familie gehörte, mir jedoch teurer als irgendein Blutsverwandter war. Sie trug Ihren Namen. Sie sollte binnen kurzem meine Frau werden. Ach! –«

»Ach!« seufzte Edith neben mir. »Welch furchtbares Weh muß sie empfunden haben.«

Das tiefe Mitgefühl des lieblichen Mädchens berührte eine Saite in meinem gleichsam erstarrten Herzen. Meinen Augen waren bisher die Tränen versagt gewesen, nun aber flossen sie über. Als mir die Fassung zurückgekommen war, sah ich, daß auch Edith ihren Tränen freien Lauf gelassen hatte.

»Gott segne Ihr mitfühlendes Herz«, sagte ich. »Möchten Sie wohl ein Bild meiner Braut sehen?«[174]

Auch während des langen Schlafes hatte ein kleines Medaillon mit Edith Bartletts Porträt auf meiner Brust geruht; ich pflegte es an einer goldenen Kette um meinen Hals zu tragen. Ich zog es hervor, öffnete es und gab es meiner Begleiterin. Diese griff hastig danach, betrachtete lange das liebliche Antlitz und drückte ihre Lippen darauf.

»Ich weiß, daß sie gut und liebenswert war und Ihre Tränen wohl verdiente«, sagte Edith. »Aber vergessen Sie nicht, daß sie ihr Herzeleid schon längst nicht mehr zu tragen hat und bereits vor fast hundert Jahren von der Erde geschieden ist.«

So war es in der Tat. Wie tief auch immer der Kummer meiner Braut gewesen sein mochte, seit fast einem Jahrhundert hatte sie aufgehört zu weinen. Bei diesem Gedanken legte sich meine leidenschaftliche Erregung, und meine Tränen versiegten. Wohl hatte ich Edith Bartlett in meinem früheren Leben heiß geliebt, aber seitdem waren mehr als hundert Jahre vergangen! Es ist möglich, daß der eine oder andere Leser dieses Bekenntnis als Beweis dafür auffaßt, daß es mir an tieferem Gefühl mangelt, allein ich meine, daß mich niemand verurteilen darf, der nicht mein Geschick erfahren hat. Als wir das Zimmer verlassen wollten, blieb mein Auge auf dem großen eisernen Geldschrank haften, der in einer Ecke stand. Ich machte meine Gefährtin auf ihn aufmerksam und sagte:

»Dies Gemach diente mir zugleich als Schlafzimmer und als Schatzkammer. Der Schrank da enthält mehrere tausend Dollar in Gold und eine stattliche Summe in Wertpapieren. Selbst wenn ich an jenem Abend gewußt hätte, wie lange mein Schlaf dauern werde, würde ich doch gedacht haben, daß dieses Geld eine zuverlässige Sicherung meiner Existenz sei, in welchem weltabgelegenen Lande und in welcher entfernten Zeit ich auch erwachen sollte. In meinen wildesten Träumen wäre mir nicht eingefallen, daß eine Zeit kommen könnte, wo das Geld seine Kaufkraft verlieren werde. Und nun bin ich unter einem Volke erwacht, bei dem man für eine Wagenladung Gold nicht einmal einen Laib Brot kaufen könnte.«

Es gelang mir natürlich nicht, Edith begreiflich zu machen, was denn an dieser Tatsache so Wunderbares sei.

»Weshalb in aller Welt sollte man denn für Gold Brot kaufen können?« fragte sie mich.[175]

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 172-176.
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