Bei einem beinah alten Mann

[367] Bei einem beinah alten Mann

Meldete sich klein Amor an

(Ein Mädchen wars in einer Hosenrolle).

Der Überraschte fragte, was er wolle.

»Dich prüfen will ich,« sprach das liebe Ding

(Halb Gassenbub, halb Schmetterling),

»Ob du noch brennen kannst« und küßt ihn so,

Daß augenblicks er Feuer fing.

Darüber war der Mann natürlich froh.

Denn allzulange war er wie ein Besen,

Zwar dürr, doch ohne Glut gewesen.

Wie aber dann der Kleine wieder ging,

Da trat herein zur Türe groß

Madam Vernunft, setzt schwer sich auf den Schoß

Noch warm von Amors Hinterteilchen

Und sprach: Herr Lichterloh, glaubt nicht dem Mädel,

Das jetzt zu Euch in Amors Maske kam

Und augenblicks Besitz von Euerm Schädel,

Von Euerm Torenschädel nahm,

Denn es vertrieb sich bloß ein Langeweilchen.

Da bot der Mann Madam Vernunft den Arm

Und führte sie zur Tür und sprach: Au revoir,

Ihr sprecht wahrscheinlich wie gewöhnlich wahr,

Doch allzukühle, und ich bin von Herzen

Froh, daß mir endlich wieder einmal warm

Zumute ist. Der Liebe helle Kerzen

Lösch ich nicht aus. Wer weiß, wie bald ein Wind

Sie niederweht und ich im Finstern träume

Von hellen Kerzen, die erloschen sind.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 367-368.
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