Die Schatulle des Grafen Thrümmel

[352] (Auf dem innern Deckel)

Madam! Ich hoffe sehr, daß Sie mich überleben

Und mir (wohl bald) einmal die letzte Ehre geben.

Dort, hinterm Weizenfeld, das jetzt in Ähren steht,

Seh ich den Schauplatz unsres letzten Tête-à-Tête.

Ich liege dann im Sarg; ein letzter Veilchenstrauß

Folgt mir aus Ihrer Hand, und dieses Spiel ist aus.

Sie werden weinen. Ach, ich kenn Ihr gutes Herz,

Echt, wie Ihr Lieben, ist gewiß Ihr Witwenschmerz,

Und vielmals schreiten Sie zum schwärzlichen Oval

Der Eibenbäume in Graf Thrümmels Schattental.

Dann aber, bitt ich sehr, Madam, solln Sie nicht weinen.

Die Sonne wird vergnügt der goldenen Lilie scheinen,

Die unsre Tänzerin in ihren Händen hält,

Die unserm Schlummerplatz zur Wächtrin ward bestellt

Durch eines Meisters Hand, der gern das Leben schmückte

Und dem sogar der Schmuck des Totenplatzes glückte.

Wo sonst das Christenkreuz eckige Schatten legt,

Hat eine Grazie er zum schönsten Tanz bewegt.

Selbst über Gräbern tanzt das Leben, stets amön:

Ein junges Mädchen ists, verliebt, gelenk und schön.

Betrachten Sie es wohl, und denken Sie dabei,

Wie angenehm die Ruh nach langem Tanze sei

Für einen alten Mann, der manchen Pas gesprungen.

Gern, glauben Sies, Madam, ließ er den Platz den Jungen.

Nur daß er Sie, mein Herz, verlassen mußte, war

Ihm bitter weh ... Mein Gott, nun wein ich selber gar.

Ich liebe, liebe dich. Ich will nicht von dir gehn.

Und, wenn des Himmels Tore vor mir offen stünden,[353]

Ich will, will nicht zu Gott. In allen meinen Sünden,

Krank, alt und schwach will ich an deiner Seite stehn.

Grau wird es um mich her, doch hab ich dich, mein Licht.

Ich leide, ich bin müd. Doch sterben will ich nicht.


Nun, nun, nicht so, mein Herz. Was sein muß, das muß sein.

Die Tänzerin winkt und lädt zum letzten Tanz mich ein.

Sie müssen mich, Madam, Sie müssen mich ihr lassen

Und müssen sich ein Herz zum letzten Schmerze fassen,

Der Ihnen von mir kommt, von mir, den nichts so quält,

Als was er gegen Sie in Wirrheit hat gefehlt.

Verzeih, verzeihe mir! Ich weiß, ich habe dir

Unendlich weh getan. Doch weher tat ich mir.

Du stirbst vielleicht in Gott. Ich fahre gottlos hin,

Weil ich ein Sohn der Qual und ohne Zügel bin,

Ein wildes Tier, vom Sporn des Teufels angehetzt,

Gequält zu quälen, – ach, wie ist mein Herz zerfetzt

Von Wut und Gier und Angst. Hätt ich nicht dich gehabt,

Die immer wieder mich mit Licht und Trost begabt,

Ich hätte längst mich selbst aus diesem Buch gestrichen,

In dem ich immer nur als Unheilsmaske stand,

Stand ich auch manchmal hoch. Erst als dein Herz ich fand,

Sind jener Nebel schwerste grau von mir gewichen.


Ich schäme mich. Par Dieu! So schreibt kein Mann von Adel.

Gott, der Graf Thrümmel schuf, verdient drum keinen Tadel,

Und, was ich selbst mit mir, vielleicht verkehrt, begann,

Ich tats auf meinen Kopf und als ein Edelmann.

Der Pöbel mag sich selbst ziehn an den langen Ohren,

Ich respektiere mich und bleibe wohlgeboren.[354]

Bereuen ist gemein. Tugend fürs Publikum.

Der Thrümmel Wappenwort heißt stolz: Dreh dich nicht um!


Die Gräfin Wackebarth ist, wie ein jeder weiß,

Schön, stolz und voller Witz, bei ihrer Augen Blitz

Wird es den Pagen, wirds den Exzellenzen heiß.


Geruht sie mit Gefühl zu reden, schmilzt das Herz

Dem Horchenden dahin, umnebelt wird der Sinn,

Und jedes Mannesknie sinkt schleunigst erdenwärts.


Die Gräfin Wackebarth geruhte gestern nacht

Huldreich zu mir zu sein. Nacht wars und wir allein.

Und groß ist ihre hocherhabne Busenpracht.


Sie trug aus schwerem Samt ein malvenfarbnes Kleid,

Im Mondenlichte war der Schimmer wunderbar.

Um Hals und Knöchel wand sich königlich Geschmeid.


Die Gräfin Wackebarth nahm mich an ihre Hand

Und führte mich geschwind, als wäre ich ein Kind,

Zum Ende der Allee, wo eine Laube stand.


Dort zeigte sie mir mehr, als ihres Busens Schnee.

Ich aber sprach: Pardon, wo ist nur mein Lorgnon?

Gestatten Sie, Madam, daß ich es suchen geh.


Die Gräfin Wackebarth schlug wild mich ins Gesicht

Und spuckte in den Sand, dann ist sie fortgerannt,

Und heute sah ich sie, doch sie, sie sah mich nicht.


Mich traf ihr Schlag, mich trifft Verachtung ganz mit Recht.

Ist man ein Kavalier, so habe man Manier

Auch contre cour. Und ich betrug mich wirklich schlecht.
[355]

Madam, ich sag es frei:

Zufrieden sei ein jeder Mann,

Wenn er, und wers auch immer sei,

Au point d'amour was fühlen kann.

Bald ist die Zeit der Kraft vorbei,

Und dann

Sieht jede Blume ihn mit Vorwurfsaugen an,

Sein Herz ist ein Gefäß voll eklem Sauerbrei

Aus Reu und Mißgunst, keuchend im Gespann

Des Alters schleppt er die verpaßten

Gelegenheiten und wie ungeheure Lasten

Durch ein erinnerungsleeres Einerlei.

Wer aber nicht zu jenen Gottverhaßten

Gehört, in denen Wasser rann

Statt Blutes, wer sich Lust gewann,

Genießt im Lebenswinter noch einmal den Mai

Beglückter Kraft, wie einen goldgefaßten

Demanten: als Erinnerung.

So hält den Helden Lorbeer jung.

Und erst der Tod schlägt jenen Spiegelstein entzwei.


(Unter eine Statue der Melancholie)

Wagt euch nicht her, Lärm und gemeine Lust,

Geklimper und Geschrei!

Hier träumt, umschleiert Angesicht und Brust,

Melancholei.

Sie will das Leben nur durch Schleier sehn

Und weit von ihm entfernt;

Sie kennt die süße Ruh: in sich zu gehn

Und hat der Wehmut großes Glück gelernt.[356]

Ein Spiegel stand vor mir. Als ich darin mich sah:

Wie ward mir wunderlich, wie ängstlich ward mir da.

Du, fragt ich mich, um Gott, Fremdling, wer bist denn du?

Was siehst du mich so an? Was nickst du mir so zu?

Jetzt hältst du an den Mund den Zeigefinger dir.

Still soll ich sein? Warum? Es ist ja niemand hier.

Wir zwei sind hier allein. Es schweigt die stumme Nacht,

Hört sie das Zwiegespräch der Zweie, die hier leise

Sich sagen, wie verrucht ihr Leben sie verbracht,

Zu lange töricht, ach, und viel zu späte weise.

Der andre lächelte. Wie tat dies Lächeln weh!

Ich sah es schon einmal: so, daß ichs immer seh.

Es kam vom Galgen her, daran ein Mörder hing.

Die Leiche lächelte, daß mir die Lust verging

Zu lächeln wochenlang. Es war so grauenvoll,

Daß Angst im Herzen mir wie eine Kröte schwoll.

Und nun erblickte ich dasselbe Lächeln mir

Im Spiegel vis-a-vis, bis sich der Mund zum Schreien

Wild auseinanderriß. Ich möchte, schrie ich, dir,

Elendes Hohngesicht, in deine Larve speien.

Der andere schloß den Mund und starrte vor sich hin.

Trotz lag auf seiner Stirn, Wollust auf seinem Kinn.

Er schien mir nicht bereit, der Reue Kreuz zu tragen

Und fürderhin der Lust der Welt Valet zu sagen.

Doch war in seinem Blick ein Grauen: bald ists aus:

Es sitzt und nagt und pocht der Moderwurm im Haus.

Mein Spiegelkamerad verfiel und ward ein Greis.

Sein Kinn sank auf die Brust, die Augen wurden blöde.

Ich schlug ins Spiegelglas. Es splitterte wie Eis.

Und mich umwinterte des Alters bange Öde.
[357]

Gern les ich den Horazius,

Das war ein Kavalier.

An heutigen Karminibus

Find ich nicht viel Pläsier.

Nach Rüböl riechen sie, das ranzt,

Und wenn die deutsche Muse tanzt,

So wackelt das Quartier.


Das ist gewiß, und wenn ichs nicht gestünde,

Wärs gegen meines Blutes reinen Adel Sünde:

Ich bin kein Heiliger, der sich für Gott verzehrt.

Ich habe ihn auf meine Art verehrt,

Als Gott der Liebe, der es selbst erfuhr,

Daß Zeugen Wonne ist, und der voll Gnaden

Darum jedwede kleine Kreatur

Mit seiner Lust, zu zeugen, hat beladen.

Mir scheint es gottlos, ohne Lust zu leben.

Was so ein großer, guter Herr gegeben,

Wirft nur ein schlechter Diener ekel hin.

Ich laß mich gern von Blutes Wallen heben,

Weil ich Gott treu und gern sein Diener bin.


Wer Gott auf andre Weise dient,

Ist ganz in Trotz und schief geschient.


Pflücke die Stunden!

Zum Kranze gewunden

Hat sie die Macht,

Die dich erschuf.
[358]

Lust ist, o Sterblicher, Last nur den Toren,

Die ihrer Sinne Kompaß verloren,

Weisen ists wundervoll leichter Beruf.

Carpe diem, – und sei es bei Nacht.


Gestern nacht an meinem Bette

Stand das grinsende Skelette

Jenes Mannes mit der Hippe

Und der Uhr.

Langsam sprach er ohne Lippe,

Ohne Gaumen, ohne Zunge,

Ohne Wangen, ohne Lunge,

Knochen, Knochen, Knochen nur:

Lieber Graf, ich bin zur Stelle,

Da die Stunde zum Appelle

Vor dem Generalissimus naht.

Wenig braucht es Vorbereitung,

Denn er sieht nicht viel auf Kleidung

Und er kennt nur einen Staat:

Tugend, die ergötzlich helle,

Engelreine Lichtmontur.


Werter Herr, ich bin parat,

Sagte ich, ein wenig leise,

Während ich zur letzten Reise

Ungern in den Schlafrock fuhr.


Höflich stützt er mich beim Gehen,

Seine dürren Knochenzehen

Klapperten auf dem Parkett.
[359]

Manchmal blieb mein Führer stehen,

Sich ein Bildnis anzusehen,

Kennerierte,

Rezensierte:

»Hm, nicht übel, hm, ganz nett.«


Gerne hätt ich ihn gebeten,

In die Galerie zu treten,

Weil dort Meisterwerke viel

Leuchtend zum Verweilen laden,

Doch es drängten seine Gnaden

Sehr bestimmt nach anderm Ziel.


Schleppte mich zum Spiegelsaale,

Wo wer weiß wie viele Male


(Fragment)


Zwei Chaisenträger, blau und rot und gold livriert,

Die Zöpfe tadellos gepudert, doch beschmiert

Gesicht und Hände ganz mit Kienruß: echte Mohren

Aus Borgo San Lorenzo, haben gestern nacht

Mich zum Palast des Herrn von Pratosan gebracht,

Als Tor vergnügt zu sein auf einem Fest von Toren.

Und Törinnen. Denn dies ist Pratosanos Ruhm:

Er ist ein Junggesell, sein Haus ein Heiligtum

Der Venus ohne Kleid, wie einst Athen sie sah,

Die – Andere, vous savez, nicht Amathusia.

Trotzdem ist Pratosan ein Mann von Frömmigkeit,

Der oft zur Beichte geht, erweckend Reu und Leid

In seinem Innern, auf daß er um so mehr

Erfühle, was sich stets nachmeldet hinterher.[360]

Va ben! Mich schaukelte die Sänfte sanft im Takt.

Maskiertes Volk ergoß gleich einem Katarakt

Sich rechts und links vorbei, buntlappige Figuren:

Chinesen spitzen Huts, pelzmützige Panduren,


(Fragment)


Sechs Monate im Land der Schönheit, die noch lebt,

Obgleich sie älter ist, als jene graue Lehre,

Die ewiges Leben predigt, – und nun eingeklebt

Ins ewig Gleiche öder Residenzmisere.

Ma foi, es ist nicht leicht, kommt man aus Rom, Florenz,

Ein Kavalier zu sein in einer Residenz,

Wo man französisch zwar mundangelernt parliert,

Jedoch aufs deutscheste die Grazien ignoriert.

Hier herrscht der Herr Pastor, obwohl sein feister Rücken

Die Kunst versteht, sich bis zum Spucknapf tief zu bücken,

Es herrscht sein Geist, pardon, Apoll, es herrscht sein Tran,

Die Religion ward hier zum Tee aus Baldrian.

Man schläft, selbst wenn man tanzt, und wenn man »liebt«, erst recht.

Dies Volk ist wach und laut, nur wenns barbarisch zecht.

Und wenn es klatscht. O Gott, begnade meine Ohren

Mit Taubheit, denn ich bin für Worte nicht geboren,

Die plump und ohne Witz im ewigen Einerlei

Des Nachbars Ruf zerkaun zu einem eklen Brei.

Noblesse, fürcht ich, gibts hierorten nur im Stall

(Der Pöbel, entre nous, fühlt schließlich überall

Anständiger, als wir, doch muß man das nicht sagen;

Sonst wird er frech und nimmt uns an den goldnen Kragen).

Ganz oben schon beginnt das völlig Ordinäre,

Und widrig säh es aus, wenn nicht Allüre wäre.[361]

Eh bien, ich bin nach Haus in Barbarei verbannt

Und habe Heimweh nach dem schönen fremden Land,

Wo leicht das Leben fließt, der leichte Sinn regiert

Und selbst der Theolog die Grazien adoriert.


Ein Zelt der Venus sei das Bett der Frau.

Spart nicht Gardinen! Laßt in weichen Wellen

Mußlin und Seide fallen, bauschen, schwellen!

Es sei aus Schleiern wie aus Traum ein Bau

Ohn alle Schwere. Sei ein Duft, ein Hauch.

Hell seis, doch sanfter Helle; alles Gleißen

Ist Barbarei


(Fragment)


Ein altes armes Weib hat sich vor mir gebückt

Und einen Kuß auf meines Mantels Saum gedrückt.

Der Mantel, samten, war mit Gold bordiert,

Das Weib in Lumpen. Ach, ihr Blick hat mich berührt

Wie Angst, die aus mir selber tiefstens kam.

Und ich empfand die bitterlichste Scham.

Ich gab ihr Geld, mehr, als man Bettlern beut,

Doch als ich abends meine Börse leerte,

Hat michs wie fürchterliche Schuld gereut,

Daß ich ihr nicht dazu ein gutes Wort bescherte.

Und schnitt vom goldnen Saum an meinem Kleide

Die Stelle ab, berührt vom Menschenleide,

Und trag es nun als Band an meiner Uhr

Und denke stündlich an den einzigen Kuß

Von einem Weib, der Reue, Reue nur[362]

Mir schuf und daß ich immer denken muß:

Wie sagen wir doch, wenn die Gläser klingen,

Dem Nachbar ein Lebehoch zu bringen? –:

Toujours l'amour!


Ich bin in tiefen Nöten

Und habe keinen Gott,

Zu glauben und zu beten.

Hilf mir, o gnädiger Spott!


Hilf mir zu einem Lachen,

Und wenns ein Grinsen sei!

Sonst muß ich davon mich machen

Aus dieser Wüstenei,


In der selbst die Oasen

Nichts weiter spenden, als

Gelegenheit zum Grasen

Und Schlafen allenfalls.


O dunkle, dunkle Reise

Ins Land Vergessenheit!

Wär ich so stark wie weise,

Ich nähm das Reisekleid:


Das Hemd aus weißer Seide,

Das ich als Bräutigam trug.

Ich trug es mir zum Leide

Und ihr zum Leid genug.


Sehr schön. Mich dünkt, ich schreibe

Mit reichlich viel Gefühl.[363]

Der Rest ist doch: ich bleibe

Ganz gerne im Gewühl


Von Lieben und von Hadern.

Ein Narr ist, wer verzagt

Und, Leben in den Adern,

Des Lebens Trieb verklagt.


Wer Atem hat, der preise

Des Lebens Lustgeschenk

Und sei der dunklen Reise

Beflissen eingedenk.


Und alle bittern Stunden

Sein wie ein Nebelzug

Ertragen und verwunden.

Des Glückes blieb genug.


Gepriesen sei das Leben!

Willkommen sei der Tod,

Wenn alles ausgegeben:

Lust, Liebe, Gram und Not.


Eher nicht eine Sekunde!

Küsse mich, küsse mich, Leben,

Küß mich mit lachendem Munde.


Ma foi, je suis content. Es ist so still im Hause,

Daß ich vernehmen kann, wie still es ist. Mein Herz

Ist wohl das lautste hier. Sein Pulsen ist Gebrause

Von immer noch viel Lust mit nur ein bißchen Schmerz.
[364]

Das ist durchaus so gut. Wär nicht das bißchen Weinen,

Gleich Regenrinnen leis am hellen Fensterglas,

Die Stille würde mir wie schale Leere scheinen.

Melancholie ist Glück, Schmerz ist des Glückes Maß.


(Über ein Porträt Gottes)

Heut sah ich le bon Dieu. Es war ein alter Mann,

Man sah ihm ungefähr siebenzig Jahre an.

Trug einen langen Bart und langes Ringelhaar,

Mir schiens, daß er von Zeus ein Ururenkel war.

Der Maler hatte nicht mit seiner Kunst gespart.

Es war das Kolorit sehr klar, sehr fein, sehr zart,

Die Wangen rosig, voll und kirschenrot der Mund,

Lebhaft das blaue Aug, dem gut die Braue stund:

Schön bogenhoch gewölbt und, sonderbar, nicht weiß,

Als thronte Jugend dort. Jedoch: es war ein Greis.

Und dies gefiel mir nicht. Ich dacht an Jupitern

In Rom, der hatte nichts von einem alten Herrn.

Zwar schien auch er bejahrt, doch konnte man wohl sehn:

Das war der starke Freund von Ledan, Omphalen:

Die Wolke und der Schwan, und auch Europens Stier,

Ein Gott für Männer stand: ein Gott-Mann stand vor mir.

Nun hat man ihn entthront, und nichts als Haar und Bart

Hat man von ihm dem Gott von heute aufgespart,

Und diese greisenweiß, daß schon das Bild bedeute:

Dies ist der liebe Gott für pastorale Leute.

Ich bin gewiß, er spricht durchaus wie ein Pastor,

Und seine Welt kommt ihm wie jenem übel vor.

Er kritisiert sich selbst, und er bereut wohl gar,

Daß er einmal so stark die Welt zu schaffen war.[365]

Schüf er sie heute, oh, sie wäre ein Kristall,

Glatt, mathematisch, kalt; zu keinem Sündenfall

Gäb es Gelegenheit auf dieser Form aus Geiste,

Die aus Berechnung müd ein Greis zusammeneiste.


Gott Lob und Dank, die Welt stammt nicht von diesem her,

Und stammt auch nicht von Zeus. Der große Gott ist mehr

Als Greis, ist mehr als Mann. Ich sah auf Götzenbildern,

Die Indien uns gesandt, die zeugende Natur,

Das Eins von Mann und Weib, verworrne Urkraft schildern

Und ahnte, dies ist mehr, als wilde Fratze nur.

Das Volk im Osten ist der großen Wahrheit näher

Als wir entgötterten und müden Europäer,

Die das Urheilige beschmutzen: das Geschlecht.

Europa hat am Stier sich tantenhaft gerächt.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Gesammelte Werke. Band 1: Gedichte, München 1921, S. 352-366.
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