Der Vögel Vorgesicht

[181] (Herrn Wilhelm Weigand zugeeignet.)


Auf einem Baume, träumt ich, saßen drei

Ganz kleine Vögel, rot und grau und grün,

Mit schwarzen Schnäbeln, und sie zwitscherten.

Ich stand am Stamm des Baums und hörte zu,

Und ich verstand genau den Sinn des Sangs.

Und in mir blieb der Sinn.


Der Rote sang:


Katüh! Katüh! Es blaßt der Sommer schon;

Ich seh ein flammig rotes, grelles Licht;

Und alle schönen Vögel fliegen fort.

Katüh! O weh! Katüh!


Der Graue sang:


Tjo – it! Tjo – it! Die Flamme sinkt; es raucht;

Und unterm Rauche rasselts laut im Takt;

Nichts Buntes seh ich, und es klingt kein Lied.

Tjo – it! Oh weh! Tjo – it!


Der Grüne sang:


Tjütoh! Tjütoh! Die Luft ist wieder klar

Aus grünen Aeckern steigt das freie Lied;

Und voller Blumen steht das ganze Land.

Tjütoh! Tjütoh! Tjütoh!
[182]

Und alle drei

Vereinten sich im Gleichsang, und es klang,

Als kam von Zukunftschören dieses Lied:


Aus Blut und Rauch und leerem Lärm

Hebt sich im Glanz ein neuer Tag,

Und mit dem reinen Morgen kommt

Von allen Seiten bunt geschwärmt

Der schönen Vögel lichtes Volk.


Wie wenn ihr Lied sie in den Himmel höbe,

So flogen die drei kleinen Vögel auf.


Hoch, immer höher, flogen sie, bis schwarz

Die Nacht sich über meinem Scheitel wölbte.

Die kleinen Vögel aber, rot und grau und grün,

Als Sterne standen sie und leuchteten.


Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 181-183.
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