Die Nonne

[206] In einer Nacht, schwülheiß, da ich schlief,

Da meine Seele nach Liebe rief

In Träumen,

Da ist einer gekommen;

Hat mich bei der Hand genommen

Und ist fort mit mir gangen:

Zwischen schwarzen Bäumen

Tief

In einen Wald voller Rauschen und Bangen.


Ich sah ihn nicht an

Den fremden Mann,

Mußte an ihm hangen,

Als wie im Bann

Und mit ihm gehn.
[206]

Er war ganz stumm.


Aber Flüstern ringsum

Und in den Büschen ein schaurig Wehn

Und Stimmengesumm.


Unter einer Linden im Walde tiefinnen,

Da blieb er stehn und ließ mich los.

Da sah ich zwei Thränen groß

Ihm aus den Augen rinnen.


Und sah, wie sein Antlitz war.


Das war wie der Tag so klar,

Aber voll Trauern.


Und es kam ein Erschauern

Ueber mich kalt,

Und in mir eine Gewalt

Zwang mich in die Kniee

Vor dem stummen Mann:

»Herr, Herr, siehe.

Siehe mich an, –;

Was ist dein Wehe?«


Da fühl ich seine Hand

Und sehe,

Indessen ER verschwand,

Leuchten die heiligen Wunden.[207]

Und habe IHN erkannt,

Und habe mich heimgefunden

Aus Wald und Welt,

Darinnen Begehren rief,

In einen Frieden tief,

Von IHM erhellt.

Quelle:
Otto Julius Bierbaum: Irrgarten der Liebe. Berlin/Leipzig 1901, S. 206-208.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Irrgarten der Liebe
Der Neubestellte Irrgarten Der Liebe: Um Etliche Gaenge Und Lauben Vermehrt, Verliebte Launenhafte, Moralische Und Andere Lieder, Gedichte U. Sprueche . Bis 1905. 1 Bis 6 Tausend. (German Edition)