Zweite Scene

[30] ROSE allein. Das war es, das! Dies gedankenlose Kind nimmt mir die Binde von den Augen. Darum unterschlug man mir Briefe, darum sollte ich die Heimath nicht wiedersehen! – Aber welch ein Wahn blendet diesen sonst so klarblickenden Mann, daß er Liebe für Charles in meinem Herzen liest? – Ach – der Wunsch ist's, der ihn täuscht! – Für den Sohn riß er mich von den Meinen los – für den Sohn hat er mich erzogen – und ich selbst soll seine Hoffnungen nun zerstören? – Ich muß fort – fort aus diesem Hause ehe Leblanc mir von Charles sprechen kann – ehe Adolph die Versuche erneuert sich mir zu nahen. – Ich darf ihn ja nicht wiedersehen, ihn – den ich liebe, ich kann es nicht! Gott, mein Gott! Hilf mir, befreie mich aus der Gewalt dieser Leidenschaft, die mein ganzes Wesen beherrscht, seit das unselige Geheimniß über unsere Lippen trat! Geht ein paar Schritte. – Nur in der Heimath ist Rettung für mich – dort, wo ich vielleicht längst verurtheilt – vielleicht verstoßen bin für immer! Selbst die Schwester ist mir verstummt. – Niemand antwortet auf meine flehentliche Bitte! Pause. Ahnt mein Dorle – daß ihr Schreiben noch unerbrochen Nimmt unter einem Briefbeschwerer den Brief hervor, den Bastian ihr brachte. hier vor mir liegt, nach zehn langen Tagen? Und warum bebe ich zurück, so oft ich das Siegel brechen[30] will – war es nicht Krankheit die mich festhielt, war ich denn nicht bereit, dem Ruf des Vaters zu gehorchen? – Ausbrechend. Ja, ich wollte meine Pflicht erfüllen – aber nicht freudig – mit gebrochenem Herzen wollte ich's! Wie eine Last fiel es von meiner Brust als ich erfuhr: der treue Bastian sei fort! O ich bin sehr schuldig, ich verdiene die Schmerzen die dieser Brief mir bringen wird, der mich loslösen soll, wie Bastian sagte, und wäre ich mit Ketten hier angelegt. Ach, ich wollte nicht losgelöst sein, ich liebte meine Ketten! – So laß denn jetzt deine Stimme mahnend an mein Gewissen schlagen, Dorothee, damit ich Deiner Liebe würdig bleibe! Reißt entschlossen den Brief auf, nimmt zwei Blätter aus dem Couvert, das eine ist der Brief den Dore im ersten Act vorliest. Liest. »Treuliebe Schwester!« O mein süßes Dorle! »Gott der Herr gebe Dir und mir die Gnade, daß Du den Grafen Adolph nicht liebst!« Entsetzt. Herr meines Lebens! Sie weiß? Wie kann sie wissen? Sieht wieder in den Brief. »Bist Du aber so schwer heimgesucht und mußt ihn gern haben, so lies den andern Brief – er wird Dich stark machen den rechten Weg zu gehen.« Oeffnet rasch das zweite Blatt. Eine fremde Hand? Liest. »Hochgeborener Herr Graf!« Mein Gott! Ihre Hände zittern, nach einer kleinen Pause. »Graf Adolph wie einen Sohn lieben« – »die junge Deutsche« – Was ist das – o was ist das! Sinkt in das Sopha und liest still für sich fort, in heftiger Bewegung.


Quelle:
Charlotte Birch-Pfeiffer: Gesammelte dramatische Werke, Band 10, Leipzig 1863, S. 30-31.
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