270. Das Rutenfest in Ravensburg.

[270] Nach Ebens Geschichte von Ravensburg. Mündlich.


Es ist sehr zu bedauern, daß über den eigentlichen Ursprung des Schuljugendfestes: »Rutenfest« genannt, und der Gebräuche desselben keine Nachrichten vorliegen. Manche leiten dieses Fest von dem im Jahre 1311 am Bartholomäustage dahier stattgehabten Turnier ab und gründen ihre Vermuthung auf die Thatsache, daß diese Schulfeier von jeher in der Bartholomäiwoche mit den eingeführten kriegerischen Emblemen, als: Fahnen, Trommeln, Degen, Säbeln, Wehrgehängen, Federbüschen etc., abgehalten wurde. Andere hingegen schreiben die Einführung dieses Festes einer Seuche zu, die eine große Sterblichkeit unter der Schuljugend herbeiführte, so daß beim Nachlaß der verheerenden Krankheit Eltern und Lehrer mit ihren verschont gebliebenen Kindern einen Festtag anstellten und mit grünen Zweigen in den Händen (woher der Name »Ruten« kommen soll) feierliche Umzüge hielten. Die Benennung »Ruten« will man[270] aber auch von jener Seuche selbst, als einer über die Stadt verhängten Plage (Zuchtrute) herleiten.

Welche Ansicht der Wahrheit am nächsten liege, muß dahingestellt bleiben; genug, das Fest war von jeher zunächst ein Schuljugendfest und wurde jedesmal am Montag nach Mariä Himmelfahrt mit folgenden Gebräuchen begangen.

Der erste Schüler hieß »Oberst Fähndrich«, die folgenden fünf »Fähndriche«; sie bekleideten sich mit Federhüten, Degen, Säbeln oder Hirschfängern und hatten eine weiße und blaue Fahne (die Farben der Stadt). Zwei Partims- (Sing-) Knaben waren Tambours.

Die erste Schülerin wurde »Oberst Königin«, die folgenden fünf »Königinnen« genannt und schmückten sich mit Kränzen und künstlichen Blumen. Am Festtag Morgens 4 Uhr begaben sich die Tambours vor die Wohnungen der Fähndriche und Königinnen, um sie durch das Rühren der Trommeln zu wecken. Vor 6 Uhr versammelten sich hierauf die Fähndriche bei dem Oberst Fähndrich und zogen dann, diesen an der Spitze, mit einem der Oberst-Königin gewidmeten Kränzchen und seidenen Band (was er gewöhnlich auf einem blinkenden Teller trug) unter Vortritt der Tambours in der Stadt herum und hierauf zu der, inzwischen ebenfalls von ihren Königinnen umgebenen Oberst-Königin. Hier entledigte sich der Oberst-Fähndrich mittelst einer kleinen Anrede seines Geschenkes an dieselbe, welche, den Gruß erwiedernd, ihm zum Andenken eine mit Namenszügen von Perlen und goldenen oder silbernen Verzierungen, dann einem flatternden seidenen Bande versehene Citrone auf die Degenspitze steckte. Nach hierauf eingenommenem Frühstück ging der Zug der Fähndriche, wie vorher mit dem Kränzchen,[271] so jezt mit der Citrone, abermals durch einige Straßen der Stadt und zurück zum Oberst-Fähndrich. – Um 8 Uhr versammelten sich alle Schüler und Schülerinnen auf ihren Schulen und zogen von da aus in die Kirchen zum Schulfests-Gottesdienst, nach dessen Beendigung wieder auf die Schulen gezogen und hier den Lehrern von jedem Schüler, je nach Vermögen, ein kleines Geschenk, der sog. »Ruten-Pfenning«, übergeben wurde. Von hier aus begab man sich vor das Rathaus, von wo aus um 10 Uhr der Zug durch die Markt- und Herrengasse auf die Kuppelnau stattfand, welchem sich immer auch eine große Zahl Erwachsener anschloß und in den Gesang der üblichen geistlichen Lieder mit einstimmte. Während dieses Zuges schwangen die Fähndriche ihre Fahne vor dem Hause des Bürgermeisters, der Ratsherren und Honoratioren, wofür der Oberst-Fähndrich unter dem Namen »Schwenkgeld« Geschenke bekam, die zwar ihm allein zufielen, wogegen er die übrigen Fähndriche die Woche über mehrmals zu regaliren hatte, weßhalb, da ein Gleiches auch von der Oberst-Königin gegen die übrigen Königinnen geschah, ein Sechstel des Schwenkgeldes der Oberst-Königin als einige Entschädigung überlassen werden mußte. Während dieses Fahnenschwingens wurden vormals von einigen katholischen Schülern noch kleinere Fähnchen und Reife geschwungen, auf deren innern Rand sie ein volles Gläschen Wein sezten, ohne solches bei Schwingung des Reifs zu verlieren oder vom Wein etwas zu verschütten! Auf der Kuppelnau angelangt, wurde nach altem Herkommen unter die Schuljugend weißes Brod und Papier (je einem Kind zwei sog. Murren und zwei Bogen Schreibpapier125) ausgetheilt, worauf[272] man sich nach Hause begab. – Mittags 12 Uhr hielten die obrigkeitlichen Mitglieder, städtischen Bediensteten und übrigen Honoratioren mit ihren Frauen in der auf der Kuppelnau errichteten Laubhütte ein Gastmahl126 und waren, sowie die folgende Zeit des Tages über der größte Theil der Einwohnerschaft (was dem Feste zugleich die Eigenschaft eines Volksfestes gab), Zeuge sowohl des jugendlichen Verdienstes, das sich durch die nach dem Mahle vorgenommene Schulprämien-Vertheilung kundgab, als auch der jugendlichen Freuden, welche durch freiwillige Beiträge an Kleiderstoffen, nützlichen Gerätschaften etc.127 bereitet und theils zum Wettrennen (Springen), theils zur Lotterie (Ziehen) bestimmt wurden. Ersteres geschah gewöhnlich nach der Prämienvertheilung dadurch, daß man jene Gegenstände einzeln an[273] mehrere Reihen in die Erde gepflanzter Stöcke (später an ausgespannte Seile) hing und auf ein von dem betreffenden Lehrer gegebenes Zeichen (eins, zwei, drei: lauft!) die Schüler und Schülerinnen je klassenweise darnach springen und haschen ließ. Was ein Kind erfaßte, blieb sein; da jedoch mancher gewandtere Bursche mehrere Stücke erbeutete, während mancher Schwächere oder im Springen Gestürzte leer ausging, so wurde die Anordnung getroffen, daß jedes nur Ein Stück behalten dürfe, und da immer gerade so viele Stücke ausgehangen wurden, als die Zahl der in Einem Tempo Springenden betrug, so konnte Keines mehr leer ausgehen. Die gewöhnlich am folgenden Tage vorgenommene Lotterie (das Ziehen) war für die kleineren, zum Wettrennen noch nicht fähigen Kinder bestimmt. Eine Lotterie ohne Niete, mithin so viele Kinder, so viele Preise. Jeder Preis erhielt eine Nummer, eben so viele Nummern wurden auf einzelne besondere Zettelchen geschrieben, solche dann zusammengewickelt und in einen Hut geworfen; derjenige Preis nun, welcher die von einem Kinde gezogene Nummer trug, gehörte demselben. An andern Gelegenheiten, sich zu ergötzen, fehlte es, besonders den Erwachsenen und der größern Schuljugend, nicht, wozu besonders auch das Würfeln um Porzellangeschirre, das Ringschlagen, das Plumpsackspielen, Tanzmusik etc. gehörten. Wein- und Bierschenken, Zuckerbäcker, Obsthändlerinnen, Würste-Austrägerinnen etc. sorgten für den Gaumen, überhaupt gab sich Jung und Alt, wer es vermochte, besonders am ersten Festtage, ganz der Freude hin. – Abends 6 Uhr erfolgte dann der feierliche Heimzug unter Absingung passender Lieder; die Kinder begaben sich, von den Erwachsenen begleitet, auf ihre Schulen, woselbst noch ein entsprechendes Gebet gehalten, ein Danklied gesungen[274] und dann von den Schulen aus der Oberst-Fähndrich und die Oberst-Königin unter fortwährendem Gesang nach Hause begleitet wurden, wo dann freilich der eingerissene Mißbrauch einen Vollauf erheischte, der bis in die späte Nacht dauerte und unbemittelteren Eltern des Oberst-Fähndrichs und der Oberst-Königin oft wehe thun mußte. Dieser Umstand und die nach und nach eingeschlichene Ausdehnung des Festes auf die ganze Woche, ja selbst bis auf den Montag der folgenden Woche einschlüssig (das sog. »Rutenbegraben«), veranlaßte mehrfältige obrigkeitliche Verbots-Verordnungen, zu welchen wir außer den Dekreten von 1765 und 1768 auch die neueren Verfügungen von 1787 und 1788 zählen, welche jegliches Uebermaß in welch' immer einer Beziehung, sowie alles der Eigenschaft und Würde des Festes unziemliche Schwelgen und Schmarotzen bei Strafe untersagten.

Das gemeinschaftliche Schuljugendfest wird fortwährend, gewissermaßen auch als Volksfest alljährlich im Monate August am Montag nach Mariä Himmelfahrt gehalten. Im Jahre 1826 stiftete Verfasser fünf neue Gesänge an die Stelle der seit 1809 gehabten alten Lieder, um auch zu Veredlung dieser Feier ein Scherflein beizutragen. Einen wesentlichen, veredelnden Zuwachs aber erhielt das Fest seit der Reorganisation der lateinischen und Realschule dadurch, daß die Schüler dieser Lehranstalten je am Mittwoch der Schulfests-Woche Vormittags, unter Leitung ihrer Lehrer und unter Mitwirkung der dramatischen Gesellschaft ein Declamatorium, theils ernsten, theils komischen Inhalts, verbunden mit eigentlichen Jugendschauspielen, aufführen, wobei das hiezu dienende städtische Schauspielhaus gewöhnlich gedrängt voll von Zuhörern angetroffen wird. – An diesen Theil des Festes reiht sich am nämlichen Tage Nachmittags das den[275] erwähnten Schülern gewidmete Vogelschießen auf der Kuppelnau, eine wahre Volksfreude. – Die Schüler, nachdem sie sich gewöhnlich mehrere Wochen vorher schon mit ihren Armbrusten eingeübt haben, ziehen dann gewöhnlich Mittags 1 Uhr vom Schulgebäude128 aus in ächt militärischer Haltung und nun mit einer durch die Bemühungen des Kapellmeisters der Bürgergarde-Musik, Hahn, gebildeten eigenen Musik von Kameraden aus ihrer Mitte auf den Festplatz, woselbst ein auf eine hohe Stange gepflanzter Doppeladler mit Scepter und Reichsapfel zum Herunterschießen ihrer harrt. Dieser Adler besteht nämlich aus lauter lösbaren Theilen, wovon jeder derselben auf der hintern Seite numerirt ist. Ebenso sind auch die Preise, bestehend in Stoffen zu Kleidungsstücken, Schulgeräten etc., numerirt. Diejenigen Nummern nun, welche ein Schüler geschossen, werden ihm von diesen Gegenständen zu Theil. Nach beendigtem Schießen marschirt das junge Schützencorps mit den errungenen, gewöhnlich schön und reichlich ausfallenden Preisen, um die Armbrusten gehängt, mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel wieder zur Stadt zurück, durch einige Straßen derselben vor das Schulgebäude und begibt sich daselbst auseinander.

125

Dieses Rapier haben die Schulen der Güte der Fabrikbesitzer zu verdanken, von denen sie solches acht Tage vorher bei ihren Auszügen nach den Papiermühlen, wobei ebenfalls gesungen wird, empfangen.

126

Eine obrigkeitlich entworfene Speisenvorschrift spricht von Suppe mit Carviol und Hühnermägen; Lungen und Brieseln in saurer Sause mit Citronen und aufgelegter gerösteter Leber; Rindfleisch mit Zugehör, Sauerkraut mit geräucherten Zungen und Schweinenfleisch, Carviol mit gebackenen Hühnern, Kalbsbraten, Schinken, Salat; gespicktem Wildpret mit Tabaksrollen; Gänsebraten und Salat; Brod- und Weichseltorten, feinem Obst, Trauben und Confekt, Kaffe mit Rahm und verschiedenen Weinen.

127

Jeder gab, wozu ihn sein Herz und die Liebe zu jugendlichen, unschuldigen Freuden ermahnte; der Kaufmann, der Professionist Stoffe aus ihren Läden; andere Gewerbsleute Produkte ihrer Hände; der nicht Gewerb- oder Handeltreibende ließ zu diesem Behuf da oder dort holen, was ihn gut und nützlich dünkte, und so wurden auf diese Weise immer eine schöne Partie ordentlicher Sächelchen zusammengebracht. Jedes Stück erhielt von den Lehrern, welche mit ihren Gattinnen die Preise ordneten, den Namen des Gebers angeheftet, damit der Empfänger sich des Danks bei demselben entledigen konnte!

128

Das ehemalige Karmeliten-Kloster wurde im Jahr 1825 mit einem Aufwande von 20-22,000 fl. zu einem allgemeinen Schulhause umgeschaffen.

Quelle:
Birlinger, Anton: Sitten und Gebräuche. Freiburg im Breisgau 1862, S. 270-276.
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