295. Die Bettler.

[295] In Konstanz gab es ehedem ein ganzes Heer von Bettlern, sie zogen mit und ohne Fuhrwerk umher von einem Kirchweihfest zum andern, was, nebenbei bemerkt, der Haupttag für sie war. Man hatte an manchen Orten zwei bis drei Kirchweihen. In Konstanz hatten sich die Bettler einer bestimmten Zunftordnung unterstellt. Starb ein alter Mann oder ein armes Weib, so rückte die ihr an Alter nächststehende Person einen Platz näher an die Kirchthüre, was durch alle Bettler hindurch gleichfalls geschah. Auf der Straße nach Kreuzlingen waren an den Sonntagen ganze Bettlerfamilien gelagert. Hatten am Abend die Schmerzen nachgelassen, waren die Krücken weggeworfen, so ließ man sich's weidlich schmecken in einer lumpigen Kneipe.

Bei der Wallfahrtskirche Loretto, oberhalb Staad, wohin ganze Prozessionen von Wallfahrern aus der Schweiz kamen, hatten die ältern Bettler wieder ihre eigenen Plätze. Wollten[295] fremde Bettler eindringen, so ging die Prügelei mit Stecken und Krücken an.

Im Siechenhaus (zur äussern Tanne), wo jezt der sog. Tannenhof ist, befanden sich acht bis zehn Männer und eben so viele Weiber, unheilbar, die Siechen geheißen. Alle diese Leute bettelten die Vorübergehenden an, durften am Neujahrstage die Stadtstraßen bettelnd durchziehen unter Absingung religiöser Gesänge. Sie führten einen Wagen mit sich, um das Erbettelte fortzuschaffen.

Wie arg es mit dieser Bettlerzunft aussah, läßt sich aus Folgendem schließen: Kleinen Kindern seien Hände und Füße verdreht und die armen Tropfen auf jedmögliche Weise verunstaltet worden, um Mitleiden zu erregen.

Quelle:
Birlinger, Anton: Sitten und Gebräuche. Freiburg im Breisgau 1862, S. 295-296.
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