1.

Ehe ich zu diesem Anziehenden selbst komme, ist's billig, daß ich eine kleine Einleitung voran schicke, in welcher wir uns mit der Gattung und Natur des Romans überhaupt bekannt machen wollen.

Die Erfindung, das menschliche Geschlecht durch Erzählung allerhand rührender und anziehender Begebenheiten und Vorfälle zu unterhalten, ist vielleicht so alt, als irgend eine andre auf diese Absicht zweckende Erfindung. Vielleicht ist sie so alt, als das Epische Gedicht, und hat nur, nach veränderter Denkungsart des Menschen, eine andre Gestalt angenommen. Im allgemeinsten Sinn gehört wirklich das Heldengedicht mit allen seinen Gattungen hieher; oder vielmehr gehöret der Roman[3] einigermaßen mit zur Gattung der Heldengedichte, und die Theorienschreiber der Dichtkunst, wenn sie die Romane mit in ihren Plan zu ziehen würdigen, pflegen Epopee und Roman in eine Classe zu setzen.

Man sieht gewöhnlich die so genannten Milesischen Fabeln für die ersten Romane an; Erzählungen, die im Schooß einer üppigen, in Trägheit versunkenen Stadt entstanden, irgend einen Liebeshandel enthielten, bey welchem der unbeschäftigte Einwohner, der als Bürger keine Nahrung für seinen Geist bedurfte und haben konnte, sich eben so vergnügte, wie der Athenienser bey seinem Homer. – In der Bibliothek des Photius wird ein Antonius Diogenes als derjenige Scribent genannt, der den Romanen die gewöhnliche, und in dem Vorbericht charakterisirte Form und Einrichtung gegeben; und das älteste der in dieser Gattung auf uns gekommenen Werke, ist die Geschichte des Theagenes und der Chariklea, deren Uebersetzung wir Meinhardten zu verdanken haben. Die Zahl all' der ältern übrig gebliebenen Schriften dieser Art beläuft sich auf sieben1, wenn ich des Theodorus[4] Prodromus Geschichte des Rhodantes und der Dosikle, in jambischen Versen, dazu rechne. Alle diese Werke haben nichts, das die Aufmerksamkeit der Leser vorzüglich auf sie zu ziehen verdiente; und sie sind in einer unsrer kritischen Schriften (der Allg. Bibl.) bey Gelegenheit der Uebersetzung des Longus, sehr richtig charakterisirt. – Den Titel Roman aber hat meines Wissens die von Guillaume de Lorris angefangene, und von Jean de Meun geendigte Schrift, von der Rose, zuerst geführt. Es ist eine Art von Kunst zu lieben:2
[5]

C' est le Roman de la Rose

Où tout l' art d' amours est inclose.


Unter uns Deutschen ist, so viel ich weis, Wolfram von Eschenbach, oder eigentlich Eschilbach, der im[6] Anfange des dreyzehnten Jahrhunderts lebte, der älteste Romanendichter. –

Doch ich will hier nicht eine Geschichte oder Charakteristik der Romane überhaupt entwerfen; nur das Nothwendige hierinn hab' ich mitnehmen zu müssen geglaubt. Aus dem Eigenthümlichen, das diese Gattung von Schriften bey den verschiedenen Nationen gehabt hat, aus der Zauberery z.B. die in den barbarischen, aus der verwickelten Intrige, die in den spanischen, aus der ausschweifenden Liebe und Ehrbegierde, die in den ersten französischen Werken dieser Art durchgängig herrscht, kann der Untersucher zwar wichtige Beyträge zur Geschichte des Geschmacks und der Sitten dieser Völker holen. Es ist kein unangenehm Geschäft, die Romane aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten; und ich bilde mir ein, mit richtigen Voraussetzungen und Abrechnungen, manchen Beytrag zur Geschichte der Menschheit in ihnen gefunden zu haben; aber diese Sachen liegen jetzt außer meinem Wege. – –

Wenn der Innhalt des Romans von dem Innhalt der Epopee abgehen muß, weil sie aus einer Verschiedenheit in der Denkungsart der Menschen entstanden sind: so muß dies natürlich einen Einfluß auf die übrigen Einrichtungen des Romans gehabt haben. Den Unterschied also, der sich[7] zwischen Epopee und Roman finden muß, wollen wir aufsuchen, um die Idee eines Romans desto fester zu setzen, und um ihn von den angränzenden und so sehr verwandten Gattungen desto sicherer zu unterscheiden. – Aber ich bin nicht willens, diese Materie zu erschöpfen, und alle Kleinigkeiten anzugeben, die man als Unterschiede zählen kann. Nur das Allerwesentlichste werd' ich berühren.

Zuerst also ist dem Heldendichter nur eine Handlung von einer gewissen Größe, von einem gewissen Umfange erlaubt. Aristoteles gab diese Vorschrift nicht allein nach Maaßgebung des Endzwecks, den alle Dichter haben, zu vergnügen und zu unterrichten; er zog auch die eigenthümliche Denkungsart seines Volks, und die Materien, die die Epischen Dichter behandelten, bey der nähern Bestimmung dieser Größe mit zu Rathe. Dies läßt sich nicht anders von dem, seinen Stoff aus allen Gesichtspunkten übersehenden Philosophen vermuthen; und ich denke, daß ihm diese Vermuthung nicht Schande machen kann.

Die nähere Bestimmung dieser Größe geht uns hier nichts weiter an, als daß der dem Roman zukommende Umfang mehr in sich begreift, wenigstens mehr in sich begreifen kann, als jene Größe. Die wichtigsten Begebenheiten eines Menschen können unter einem Gesichtspunkt vereinigt, und, als[8] Ursach und Wirkung, in ein Ganzes unter sich verbunden werden, das weder einer Milbe noch einem Elephanten gleicht, und das doch Aristoteles nie für das Ganze eines Heldengedichts erkannt haben würde. Da wir diesen Fall in wenigstens zwey Beyspielen wirklich sehen, wovon das schönste noch dazu deutscher Geburt und Ursprungs ist: so braucht meine Meynung keines weitern Beweises, als daß ich den – Agathon nenne. Wer sich wundert, daß ich dieses vortreffliche Werk so gerade zu unter die Romane setze, der beliebe hinzu zu denken, daß es nicht etwan geschieht, weil ich alles, was Roman ist und heißt, ihm gleich schätze, sondern weil ich alle Romane ihm gleich zu werden wünschte, – weil nur er allein all' die Eigenschaften hat, die solch ein Werk, seiner Natur nach, haben kann. Es ist nicht etwan sein besondrer Innhalt, deswegen ich ihm diese Vorzüge zuerkennen muß; es ist die Art und Weise, wie der Dichter desselben, den Stoff, Begebenheiten und Charaktere, behandelt hat, die dies Werk so sehr über die andern Werke dieser Art erhebt. Bey dieser Behandlung konnte der Held Tristram seyn; und das Werk war immer noch vortrefflich; immer noch vortrefflich, wenn wir auch nicht ein Muster fürs Leben darinn sich ausbilden sähen. –[9]

Wenn wir den Agathon3 untersuchen: so findet es sich so gleich, daß der Punkt, unter welchem alle Begebenheiten desselben vereinigt sind, kein andrer ist, als das ganze jetzige moralische Seyn des Agathon, seine jetzige Denkungsart und Sitten, die durch all' diese Begebenheiten gebildet, gleichsam das Resultat, die Wirkung aller derselben sind, so daß diese Schrift ein vollkommen dichterisches Ganzes, eine Kette von Ursach und Wirkung ausmacht. Weder in den Vorschriften des Aristoteles, noch in den vorhandenen Heldengedichten finden wir einen Plan zu einem Werk von solchem Umfange. Wir sehen in ihm vorzüglich den bemerkten Unterschied in Rücksicht auf die Größe der Handlung, der sich zwischen der Epopee und dem Roman befindet. Zwar haben wir viele Romane, die weitläuftiger zu seyn scheinen, als es Agathon ist. Ohne hier der Clelien und Artamenen zu gedenken, so haben die Werke des Richardsons das Ansehn eines weit größern Umfanges, in Rücksicht auf die Handlung, und haben diesen Umfang doch wirklich nicht. Agathon ist, da er zu Tarent ankommt, wenigstens einige dreyßig Jahre alt; und die ganzen Begebenheiten[10] seines vorigen Lebens, in so fern nämlich sie nicht ohne Einwirkung geblieben, sind in einen Punkt vereint. Dies läßt sich weder vom Grandison, noch von der Clarisse, noch von jenen grössern Werken sagen, wenn sie auch sonst die übrigen Vollkommenheiten, die ein Werk dieser Art haben kann, hätten.4

Eine natürliche Folge dieses bemerkten Unterschiedes zwischen dem epischen Gedicht und dem Roman, ist die Frage: Warum kömmt dieser größere Umfang vorzugsweise dem Roman vor dem epischen Gedichte zu? die Untersuchung dieser Frage ist nicht so ganz gleichgültig, wenn wir uns mit der Natur des Romans bekannt machen wollen. Wenn Aristoteles in dem drey und zwanzigsten Kapitel der Dichtkunst auch diejenigen epischen Dichter zu tadeln scheint, die entweder einen ganzen Krieg, oder die ganzen Begebenheiten eines Menschen besingen: so kann es freylich seyn, daß diese Dichter diese ganzen Begebenheiten nicht unter einen Gesichtspunkt zu bringen verstanden, und sich dadurch den Tadel des Philosophen zugezogen haben; ich werde auch nie glauben, daß, wenn Aristoteles das Ganze[11] des Agathon beurtheilen sollte, er es nicht zugestehen würde, daß es ein solches Vergnügen gewährte, als immer irgend ein vollständiges Werk der Natur gewähren kann; aber dem ungeachtet bin ich eben so fest überzeugt, daß, wenn auch Hr. Wieland seinem Werke, in Rücksicht auf den Styl, die epischen Eigenschaften geben wollte, es dennoch für den Aristoteles nie ein episches Gedicht seyn würde. Aristoteles foderte für das Heldengedicht die Nachahmung einer großen Handlung5, und obgleich das Wort (σπουδαιων), wodurch er den Gegenstand epischer Gedichte ausdrückt, mehr als eine Bedeutung haben kann, und auch den Uebersetzern ein Stein des Anstoßes gewesen ist, die es bald auf diese, bald auf jene Art erklärt; bald auf die Personen, bald auf die Handlung gezogen haben: so dünkts mich doch sehr wahrscheinlich, daß der eigentliche Sinn des Philosophen sehr leicht zu finden ist, wenn man hier, so wie man bey ihm billig immer es sollte! sich den Sinn des Worts, nach Maaßgabe der Absicht, die er damit hatte, aus der Denkungsart und den Begriffen, die die Griechen vermöge ihrer politischen Einrichtung, Religion, Sitten und ganzen Verfassung von der Sache haben mußten,[12] abstrahirt. Wenn die Commentatoren des Aristoteles praktisch werden wollten: so sollten sie jedesmal die Veranlassungen, die er zu dieser oder jener Vorschrift gehabt haben kann, ausfindig zu machen suchen. Gewiß ists, daß hier der Philosoph nichts anders meynen kann, als eine Handlung und Personen, die, nach der Denkungsart der damaligen Zeiten, viel Anziehendes für die Griechen haben sollten. Nach diesen Begriffen nun getrau ich mir es zu sagen, daß ein Gedicht, in welchem alle Handlungen dahin nur zweckten, den Geist und den Charakter eines einzelnen Mannes zu bilden, und sollte dieser einzige Ulysses oder Achilles seyn, nicht das charakteristische Große gehabt haben würde, das Aristoteles für ein Heldengedicht fodert6. Und[13] dieser Charakter von Große würde Aristoteles auch nicht dem Dichter, bey der Wahl seiner Handlung, empfohlen haben, wenn er ihm nicht davon den mehrsten Beyfall versprochen hätte, so fern nämlich solch eine Handlung den mehrsten Einfluß auf das damalige Publikum hatte, und von ihm für wichtig gehalten wurde.

Die epischen Dichter der neuern Zeiten (wenn ich vielleicht meinen treuen Freund Ariost und einige andere ausnehme, die von den strengen Kunstrichtern kaum unter die Heldendichter pflegen gestellt zu werden) haben sich in Rücksicht auf den Umfang und den Innhalt der Handlung, im Ganzen gerechnet, so sehr nach dem Homerischen Heldengedicht gebildet, sie haben sich so getreu den Regeln des Aristoteles unterworfen7; und unsre Kunstrichter[14] sind in ihren Vorschriften, was diese Gattung von Gedichten betrifft, so genau dem Philosophen gefolgt,[15] daß ich wohl nicht befürchten darf, getadelt zu werden, wenn ich also den Begriff des Aristoteles[16] von der Epopee (der vielleicht zu dem deutschen Titel, Heldengedicht, Anlaß gegeben) als allgemein annehme, und dann folgere, daß also der Unterschied zwischen Heldengedicht und Roman, in Rücksicht auf den Umfang der Handlung, aus der Wahl der verschiedenen Begebenheiten zu entspringen scheine. So wäre denn auch zugleich ein zweyter Unterschied bemerkt, der sich zwischen diesen beyden Gattungen befindet, und beyde Unterschiede zusammen sind darinn enthalten, daß, so wie das Heldengedicht öffentliche Thaten und Begebenheiten, das ist, Handlungen des Bürgers (in einem gewissen Sinn dieses Worts) besingt: so beschäftigt sich der Roman mit den Handlungen und Empfindungen des Menschen.

Diese beyden Unterschiede gründen sich auf die Verschiedenheit in den Sitten und der Einrichtung der Welt. So wie aber vorzüglich in der Epopee die Thaten des Bürgers, in Betracht kommen:[17] so scheint in dem Roman das Seyn des Menschen, sein innrer Zustand das Hauptwerk zu seyn. Bey jenen Thaten läßt sich für den Bürger eine anziehende Unterhaltung denken, weil diese Thaten entweder den Ruhm der Vorfahren, oder die Wohlfahrt ihres Landes enthalten können. Wenn die Epopee den gehörigen Eindruck machen soll: so muß ihr Innhalt aus dem Volk genommen seyn, für das sie geschrieben wird. Wie könnte der Muselmann sich bey der christlichen Epopee gefallen? – Und wenn sich der Romanendichter auf Thaten und Unternehmungen des Menschen allein einschränken wollte, was kann heraus kommen, das den vorangeführten Thaten gleich interessant wäre? – Aber wohl kann uns das Innre des Menschen sehr angenehm beschäftigen. – Bey einer gewonnenen Schlacht ists nicht das Innre des Feldherrn, um das wir uns bekümmern; die Sache selbst hat ihren Reiz für uns; aber bey den Begebenheiten unsrer Mitmenschen, ist es der Zustand ihrer Empfindung, der uns, bey Erzählung ihrer Vorfälle, mehr oder weniger Theil daran nehmen läßt. Dies lehrt Jeden die Erfahrung. Sind es Thaten und Begebenheiten, die uns so sehr angenehm im Tom Jones unterhalten; oder ist es nicht vielmehr dieser Jones selbst, dieser Mensch mit seinem Seyn und seinen Empfindungen? Er[18] thut nichts, wenigstens sehr wenig, das wir nur gut heißen können, und doch lieben wir ihn herzlich, und nehmen deßwegen sehr viel Theil an seinen Begebenheiten.


Einige der Vortheile, die hieraus für die Menschheit entstehen, wenn die Romanendichter diese Winke der Natur; diese Folgen der Einrichtung der jetzigen Zeiten nutzen, hab' ich schon vorher angezeigt; und die Eigenthümlichkeiten, die sich hieraus für den Roman ergeben, werd' ich, am gehörigen Orte, bemerken. –


Daß die Gefühle und Handlungen der Menschheit, der eigentliche Innhalt der Romane sind, wird dadurch nicht widerlegt, daß in einigen Werken dieser Art Könige und Helden, Clelien und Artamenen auftreten. Die Verfasser und Verfasserinnen dieser Werke, behandeln ihre Personen als Menschen, und nicht als Bürger; wenigstens ist die Empfindung des bloßen Menschen, und nicht des Bürgers, der Grund der Handlungen, die das Ansehn bürgerlicher Handlung zu haben scheinen.


Es versteht sich von selbst, daß der Umfang, der vorher dem Roman zuerkannt worden, der weiteste ist, den er haben kann; aber daß nicht eben jeder Roman diesen Umfang haben müsse, um ein[19] Roman zu seyn. Das mehrere hierüber kann sich erst in der Folge ergeben. –

Es werden ferner die mehresten der folgenden Bemerkungen auf die höchste Wirkung gerechnet seyn, die der Roman hervorzubringen vermag, ohne daß ich jeder Schrift, die nicht alle diese Wirkungen hervorbringt, deßwegen (wenn das Publikum sie sonst Roman nennen will, oder ihr Verfasser sie so zu nennen beliebt hat) diesen Namen absprechen will. Auf den Namen kömmt es überdem nicht an. – Es dürfte auch wirklich die Zahl der Ausrangirten so groß werden, daß nur sehr wenige übrig bleiben möchten, die, wie Hr. Lessing vom Agathon sagt, verdienten, von einem Manne von Classischem Geschmack gelesen zu werden. Genug, daß ich alles das aufs sorgfältigste zu entwickeln gedenke, was aus einem Werke werden kann, das sich mit den Handlungen und mit den Empfindungen des Menschen beschäftigt.

Es befinden sich zwischen dem epischen Gedichte und dem Roman noch allerhand andre Unterschiede, die aus dem erstern herzukommen scheinen; und von welchen ich mir nur dann die beste Rechenschaft zu geben weis, wenn ich sie als natürliche Folgen derselben ansehen darf. Der eine dieser Unterschiede betrift die Schreibart.[20]

Oeffentliche Handlungen werden, in aller Art, mit einer Feyerlichkeit, mit einer Würde vollzogen, die bey Privatbegebenheiten mehr als Geziere seyn würde. Wer spricht unter Freunden, so wie er in einer öffentlichen Rede, vor einer öffentlichen Versammlung spricht? – Wenn auch der Styl des Heldengedichts andre Schönheiten hat, als daß er nur dieser Uebereinstimmung wegen allein, viel Wirkung und Reiz haben sollte, und deßwegen eingeführt worden ist: so dünkts mich doch gewiß, daß das Oeffentliche der epischen Handlungen eine mit von den Veranlassungen zur dichterischen Schreibart gewesen seyn muß8. Und so würd' es dann auch sehr pretiös und sehr unwahrscheinlich klingen, wenn ein Romanendichter den epischen Ton anstimmen wollte. – Es versteht sich aber wohl von selbst, daß alles, was uns die ideale Gegenwart der behandelten und vorgestellten Gegenstände verschaffen kann, hierdurch nicht verworfen wird.[21]

Ein dritter Unterschied ist zwischen dem Heldengedicht und Roman zu bemerken, der, so wie der vorhergehende, eine Folge der erstern zu seyn scheint. Die Epopee gestattet ein gewisses Wunderbares, das man Maschienen nennt; und der Roman dürfte es vielleicht nicht vertragen.

Die Neuern scheinen zu glauben, daß die Würde der Epopee und die Wichtigkeit der epischen Handlung, den Beystand und die Einmischung der Götter und der höhern Wesen erlaube, ja so gar fodern könne; zufolge des sehr unphilosophischen Grundsatzes, daß sich diese mehr ums Ganze als ums Einzelne bekümmern müssen. Sie glauben auch, daß das Ansehn vom Wunderbaren, welches dem epischen Gedicht dadurch gegeben wird, es um sehr vieles anziehender mache; und dadurch scheinen sie sich rechtfertigen zu wollen, daß sie auch hier, so unbedingt, sich den Vorschriften des Aristoteles und dem Beyspiel des Homers unterworfen haben. Die eigentlichen Ursachen aber dieser Vorschriften, und dieses Gebrauchs der obern Wesen, liegen wohl in andern Veranlassungen. Erstlich gab sie die Religion des Altertuhms mehr, wie die unsrige; wenn sich Jupiter und Juno, Mars und Venus, für oder wider die Griechen erklärten: so waren es Familienhändel, in die sie sich mischten. Und dadurch wurden denn diese Einmischungen zugleich[22] höchst anziehend, weil unter den Lesern Homers noch immer sehr viele seyn konnten, denen natürlich die Erinnerungen so naher Verhältnisse zwischen sich und ihren Göttern, sehr schmeichelhaft und angenehm scheinen mußten. Die Maschienen verschafften also dem Homer gewiß mehr, wie einen Leser, weil das besondre Interesse so manches Griechen damit verknüpft war; ob sie unsern epischen Dichtern mehr Leser zuführen, weis ich nicht? – Da indessen der Romanendichter keine von diesen Veranlassungen haben kann, Maschienen in seinem Werke zu gebrauchen; weil sie sich nicht so gut mit denen Gegenständen vertragen und vereinigen lassen, die er behandelt, als mit dem Vorwurf des epischen Gedichts; ferner, da er sich nach dem Vorurtheil und den Meynungen des Ganzen bequemen muß, (wenn es auch noch so unphilosophisch denkt,) wofern er diesem Ganzen gefallen will: so enthält er sich wohl aus all' diesen Gründen der Maschienen in seinem Werke; zumal da der Reiz des Wunderbaren (die einzige Ursache, warum er sie noch gebrauchen könnte) ihm größere Vortheile rauben würde, als er ihm gewähren kann, wie wir dies an seinem Orte sehen werden. Aus diesen Vergleichungen des Epischen Gedichts und des Romans scheinen sich einige Bemerkungen ergeben zu haben, die es uns begreiflich machen, warum einige Einrichtungen[23] in beyden Werken lieber so, als anders sind? Und dies scheint uns nicht so ganz gleichgültig seyn zu dürfen, wenn wir die Natur und Bestimmung des einen uns näher bekannt machen wollen.

1

Sie sind – die angeführte Geschichte des Theagenes und der Chariklea vom Heliodor, – des Clitiphons und der Leucippe vom Achilles Tatius, – des Daphnis und der Chloe vom Longus, – des Ismenes und der Ismenia vom Eustathius, – des Chäreas und der Calliroe vom Chariton, – des Aprocamus und der Anthia vom Xenophon von Ephes, – und die oben genannte Geschichte des Rhodantes und der Dosikle. Der erste, zweyte, dritte und fünfte dieser Romane sind auch schon ins Deutsche übersetzt.

2

Vielleicht ist es manchem nicht unlieb, hier von diesem Roman so viel zu hören, als ich selbst ohngefähr davon weis: hier ist es in den eigenen Worten eines französischen Scribenten: Au milieu de chansons on vit éclorre le Roman de la Rose, que les gens de gout estiment encore aujourd' hui. – Il renferme les expressions vives de cette passion si douce & si cruelle, qu'on ne se lassera jamais de peindre, & dont les peintures sont toujours intéressantes même pour les malheureux qu'elle a faits. Cet ouvrage eprouva tout ce qui accompagne les grand succès, les éloges outrés, & les contradictions ridicules. Les Religieux qui s'y voyoient maltraités crioient au blasphême; les Prédicateurs lançoient contre lui toutes les foudres de l' eloquence Apostolique; & Gerson, Chancelier de l' Université crut l'ensevelir sous un énorme Traité Latin; – mais les Graces toujours victorieuses se jouent des criailleries des Moines, des Anathèmes de la Chair & du Latin de l' Université. – Les Partisans du Roman de la Rose tombèrent dans un autre excès à les entendre, c' étoit le livre universelle. Fable, Histoire, Morale, Theologie, Religion, Chymie, tout étoit renfermé sous cet ingenieux emblème. Cette Rose, d' après eux, representoit tout – à tour la Science, la Sagesse, les mysteres de la Grace, la Piété Chretienne, & le Port du Salut: quelques – uns même y appercevoient la Rose virginale de Marie, la blanche Rose en Jéricho plantée, le Verger d' infinie Liesse, le Rosier de tout bien & gloire, qui est la béatifique vision de l' essence de Dieu. – Cette Rose est cependant celle qui fut transplantée depuis à l'opera – comique par l' auteur de la Metromanie. (Piron) – le Roman célébre fut en quelque forte l' Aurore de la Poesie françoise; il est à la fois voluptueux & fatyrique. Les femmes fur – tout n' y font pas menagées; les Epigrammes contr' elles y reviennent à tout moment; en voici une:

Penelope même il prendroit,

Qui bien à la prendre entendroit –

Quand cela seroit faut-il le dire avec cette dureté, & outrager un sexe charmant qui n' a pas toujours le courage de se defendre contre les idées du bonheur que nous attachons à ses foiblesses. – Oeuvr. de Dorat T. IV. Disc. prél. p. 13. (Ed. de Paris.)

3

Ich besitze nur die erste Auflage des Agathon, ob ich gleich dies zu einer Zeit schreibe, wo die neue, vollendete Ausgabe desselben unlängst erschienen ist. – Ich habe also nur diese erstere Auflage hier nützen können.

4

Man mag diesen weitern Umfang vom Innhalte des Agathon für einen neuen Grund ansehen, warum ich ihn auch lieber zuerst nennen wollen.

5

Es verstellt sich von selbst, daß hier die Rede von innerer Größe ist.

6

Wenn doch unsre Kunstrichter (wie es einige sehr rühmlich gethan) indem sie uns die Gesetze des Aristoteles so ganz unbedingt vorlegen, immer ein wenig Rücksicht auf ihre Entstehung, Veranlassung, eigentliche Abzweckung und wahren Innhalt haben wollten! Oder, wenn doch ein neuer Aristoteles aufstehen, und eine deutsche Poetik schreiben wollte, wie jener eigentlich eine Griechische Poetik schrieb. Freylich müßte es aber kein andrer Gottsched seyn, der diesen Einfall, so wie Gottsched, hätte. Doch vielleicht ist in unserer jetzigen ganzen politischen Verfassung, Denkungsart und Sitten nichts, auf das sich ein Kunstrichter bey Abfassung seiner Vorschriften mit beziehen könnte, wie es Aristoteles, nachdem er gewiß zuerst Rücksicht auf die menschliche Natur gehabt hat, thun konnte? – – Diese Frage wäre einer Untersuchung werth – Ich will aber nicht etwan, das man eine Celtische Dichtkunst schreibe; oder daß man für Vaterländisch erkläre, was Ossian und die barden sangen.

7

Mit wie viel Recht oder Unrecht mag ich nicht so ganz genau bestimmen; aber da wir weder solch Vaterland, noch solche Gesetzgebung, noch solche Denkungsart haben, als die Griechen hatten, (eine Sache, die ich hier wiederholen zu müssen glaube) so scheints unmöglich, daß solche Handlungen, wie Homer behandelte, den Einfluß auf ein deutsches Publikum haben können, den sie auf ein griechisches hatten. Was noch mehr ist, ich zweifle schlechterdings, daß für uns Deutsche irgend eine Handlung für die Epopee ausfindig gemacht werden könne, die auf uns so wirke, wie die Iliade, zum Beyspiel, auf die Griechen in einem gewissen Zeitpunkt wirkte. Selbst die Eneide machte nie auf die Römer den Eindruck, den die Werke Homers auf die Griechen machten. Und sie konnte es nicht. – Das Heldengedicht enthält vorzüglich Thaten, Unternehmungen; und für den bloßen Unterthanen kann darinn keine Theilnehmung liegen. – Man klagt so oft und so viel, daß Homer jetzt so wenig gelesen werde, in Vergleichung mit denen Zeiten, wo noch ein Griechenland war; – daß unsre Heldendichter, in Vergleichung mit denen Lesern, die er in jenen Tagen hatte, so sehr wenige, und noch dazu so sehr kalte Leser haben; – daß wir die Muster der Alten von Tage zu Tage mehr vernachläßigen, und unser Geschmack immer schlechter wird; – es giebt Leute, die da behaupten, daß, so vortreflich auch das Colorit Homers ist, dennoch einige unserer Dichter, nach Maaßgebung des Unterschieds, den die Sprache und andre Umstände in der Sache machen (und wobey folglich, wenn die Dichtkunst verliert, die Nation den Verlust nicht empfindet, weil sie den Vorzug nicht gekannt haben kann) diese freylich sehr wenigen Dichter, in ihrer Art, und nach Möglichkeit der ganzen Lage der Zeit, für uns so vortreflich beynahe sind, als es nur Homer für die Griechen seyn konnte, ohne daß sie jemals so gelesen worden sind, und gelesen werden dürften, als er; – man folgert hieraus sehr richtig, daß dies in der Wahl des Vorwurfs liege, den die verschiedenen Dichter behandeln: – und doch sucht man nicht, nach all' den Verhältnissen, in welchen wir uns befinden, das Eigenthümliche zu bestimmen, das vorzüglich der Stoff haben müsse, der uns so an sich ziehen solle, wie der Innhalt der Iliade die Griechen an sich zog. – Je weiter wir von der Denkungsart des griechischen Volks entfernt sind; je kälter muß uns geradeswegs alles das dünken, was sich nur auf dies Volk allein bezog, und nichts, als was die bloße Menschheit angeht, kann uns also noch in diesen Werken interessiren. Wer also unser Homer im wahren Sinne werden will, muß zuerst einen Stoff ausfindig machen, der eben so anziehend ist, als der Stoff, den Homer behandelte, es für die Griechen war; und dann muß er ihn freylich auch so behandeln, wie Homer. – Die neuern Epischen Dichter, die zu ihren Heldengedichten den Innhalt aus der Religion genommen, scheinen über das Anziehende, das solch ein Stoff immer haben muß, und auch trotz dem Gott von Ferney, (wie ein Epigrammatist den alten Voltaire irgendwo nennt) immer behalten wird, richtig geurtheilt zu haben; aber ich weis nicht, ob dies allein die Sache ausmacht? – Die Schuld unsers Kaltsinns und der Vernachläßigung immer und allein auf die Nation zu schieben, die oft einen unbedeutenden französischen Roman, eine fade Nouvelle, verschlingt, hilft dem Uebel nicht ab; und ist vielleicht ungerecht. Denn wenn ein Volk zu so einem Gerichte Appetit haben kann, wie würd' es sich bey einem andern ergötzen, bey dem die Natur des Menschen, und all' die Eigenthümlichkeiten, die es durch Religion, Gesetzgebung u.s.w. erhalten hat, zu Rathe gezogen worden wären? »Aber vielleicht« ... ich verstehe! aber dann habt erst Mitleiden mit diesem Volk, das, nach seiner ganzen Einrichtung keinen andern Geschmack, als für französische Possen haben kann. An ihm allein liegt die Schuld nicht! – Und am Ende bleibt ihm wenigstens Eins übrig, das ihm durch nichts genommen werden kann. Wir müssen immer Menschen bleiben; und in den Eigenthümlichkeiten des Geschmacks unsrer und der benachbarten Nationen, findet sich die Bestätigung, daß wir immer mehr und mehr hierauf zurück kommen. Auch verliert die Menschheit im Grunde nichts hierbey, wie man vorher schon gesehen haben wird. – Dies Feld also laßt uns aufs sorgfältigste anbauen! Es ist bis jetzt noch zum Theil sehr vernachläßigt worden. Wenigstens haben einige unsrer Dichtungsarten noch nicht das Ansehn, als ob wir darauf allein eingeschränkt wären; sondern daß sie da gewachsen sind, wo für uns keine Blumen mehr wachsen. Wie bedaur' ich unsre deutsche Pindare und Horaze! Ich würde sie nicht so bedauern, wenn ich sie nicht so sehr verehrte.

8

Wer auf die Art zurücke denkt, wie öffentliche Begebenheiten in Griechenland behandelt worden, wird hierin wohl nichts Widersprechendes finden. Es ließe sich hier noch viel von dem Unterschiede sagen, der aus diesen Gründen sich zwischen unsrer und jener dichterischen Schreibart befinden kann.

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 3-24.
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