3.

[288] Wenn wir von einer Sache Vortheil ziehen, oder etwas lernen wollen: so müssen wir nur den Vortheil von ihr ziehen, nur das von ihr lernen, was wir, ihrer Natur nach, von ihr lernen können. Es ist unweise, diese natürlichen Vortheile fahren zu lassen, und an deren statt andre bey eben der Sache zu suchen, die sie nicht so füglich, so natürlich mehr gewähren kann: Vortheile, die im Grunde keine Vortheile mehr sind.

Der Dichter soll durch das Vergnügen unterrichten, er soll in seinen Lesern Empfindungen und[288] Vorstellungen erzeugen, die die Vervollkommung des Menschen und seine Bestimmung befördern können. Was hat der Romanendichter hiezu in Händen? Begebenheiten und Charaktere. Und was liegt eigenthümlich in diesen, wodurch er jenen Endzweck erreichen kann? – Zuerst vom Vergnügen.

Wenn es wahr ist, daß wir sehr angenehm bewegt werden, wenn unsre denkende Kraft Beschäftigung in dem Grade hat, der sie in Bewegung setzt, ohne sie zu ermüden, (damit ich einmal mich etwas französisch mit einem Franzosen, dem Bischofe von Pouilly ausdrücke) – wenn es wahr ist, daß es vernünftigen Wesen eigenthümlich ist, nach solchen Vorstellungen zu streben, die in einander gegründet sind, – wenn hierinn der mächtige Reiz liegt, mit welchem die Vollkommenheit alle Geister an sich zieht6: so kann es nicht anders seyn, als daß die vorgeschlagene Art von Behandlung uns höchst angenehm; – und zugleich höchst edel, höchst anständig für die Menschheit beschäftigen müsse. In ihr allein findet sich, Vorzugsweise vor der bloßen Erzehlung der Begebenheiten, das in einander gegründete, das aus der richtig[289] abgemessenen Verbindung von Wirkung und Ursache entsteht, und das uns so mächtig an sich zieht, und hier desto angenehmer unterhält, weil wir hier so wenig diese Verbindung selbst ausspähen und aufsuchen dürfen, indem der Dichter, der seine Kunst versteht, schon dies Geschäft für uns unternommen hat. Wir dürfen hier nichts als geniessen. – Es würde ein sehr überflüßig Geschäft seyn, hierüber noch mehr zu sagen. Von der Wahrheit und Gewißheit dieses Vergnügens können uns auf doppelte Art die Schriften des Philosophen überführen, den ich in der vorigen Note genannt habe; und Agathon und Musarion, Minna von Barnhelm und Emilia Galotti können als Beyspiele der Lehre des Philosophen, angewandt auf dichterische Behandlungen, dienen. Ich weis zwar, daß wir guten Deutschen noch jetzt nicht – gewohnt sind, dies Vergnügen eben aufzusuchen7; – daß wir es vielleicht eben[290] nicht so eifrig wünschen, als wir es sollten; ich weis es, daß wir es nicht genug zu schätzen und zu fühlen wissen, wo wir es finden; aber der Dichter, den der Eifer belebet, das Herz und den Geist seines Volks zu bilden; der Dichter, der nicht bloß die Dichtkunst als ein Spielwerk ansieht, der nicht bloß schreibet, um sich selbst zu gefallen, – der soll sich durch unsre – wie soll ich es nennen? Gleichgültigkeit? Trägheit? Unwissenheit? französischen, an der Oberfläche gesättigten Geschmack? nicht abhalten lassen, uns anständiger, edler zu unterhalten. Er vereinige seine Mühe nur mit der Mühe der erst genannten Dichter; wir werden schon einmal von unserm Leichtsinn zurück kommen müssen, wenn wir nur oft genug Gelegenheit dazu erhalten. Und dann wird er das Verdienst besitzen, zur Umschmelzung unsers Geschmacks das Seinige beygetragen zu haben: ein Verdienst, das, was auch einige so genannte solide Leute sagen mögen, größer ist, als zehn Finanz-Entwürfe gemacht und ausgeführt, und zwanzig Friedens-Congressen beygewohnt zu haben. –

Wenn das Vergnügen außer Zweifel ist, das durch solche Behandlung eines Werks erzeugt[291] werden kann: so ist es der Unterricht eben so gewiß, den diese Behandlung giebt. Die Wissenschaft, jede Begebenheit in unserm Leben richtig beurtheilen zu können, ist eine so wichtige, eine so notwendige Wissenschaft, daß der, der sie uns lehren kann, gewiß uns nichts bessers, nichts nützlichers, als dies zu lehren vermag. Eine Begebenheit richtig beurtheilen, heißt festsetzen, in wie fern ein Mensch strafbar oder nicht darinn gehandelt, – in wie fern es in seinen Kräften gestanden, so und nicht anders zu handeln; heißt, alle die Ursachen kennen und sie gegen die hervorgebrachten Wirkungen halten, um hernach einzusehen, auf welche Art und Weise die Begebenheit wirklich geworden ist. Daß wir diese Kunst, wenn die Rede von Handlungen andrer ist, inne haben müssen, wenn wir uns nicht, in der Beurtheilung dieser Handlungen; der Gefahr, höchst ungerecht und unbillig zu seyn, aussetzen sollen, ist wohl keine Frage mehr. Aber, daß den allermehrsten Menschen diese Kunst schlechterdings fehlt, davon kann sich auch jeder überzeugen, der bey dem geringsten, gleichgültigsten Vorfall die Menge urtheilen hört. Ich verstehe nicht etwan unter der Menge, das, was man Pöbel nennt; ich verstehe darunter von hundert tausend Menschen alle – bis auf einen etwan. Doch die Lieblosigkeit, die[292] Einfalt im Urtheil über andre, ist nicht der einzige und der wichtigste Nachtheil, den uns der Mangel dieser Einsicht zuzieht. Wenn wir es einsehen gelernt haben, auf welche Art, und durch welche Mittel eine Begebenheit so erfolgt ist, wie sie erfolgte; – wenn wir das, was gewisse Ursachen unter gewissen Umständen wirken und hervorbringen können, richtig zu beurtheilen, und jede Wirkung gegen ihre Ursache abzuwiegen wissen: so wer den wir uns, wenn gewisse Ursachen in uns zutreffen, uns gegen sie in Schutz zu setzen vermögen. Wir werden das Uebel vermeiden können, das daraus hätte erfolgen müssen. Und diejenigen Ursachen, welche gute Wirkungen unter gewissen Umständen hervorbringen, werden wir aussuchen; wir werden, wenn sie in uns zutreffen, Vortheil von ihnen ziehen, und jeden unsrer Zustände in der Welt zu unserm Nutzen anwenden können. – Wer sieht nicht, daß diese Kunst, Wirkungen und Ursachen gegen einander abmessen zu lernen, durch die bloße Erzehlung einer Begebenheit gar nicht; wohl aber durch die andre Art von Behandlung, und durch sie allein, gelehrt zu werden, möglich ist? – Und ist ein solcher Unterricht nicht der Mühe werth, daß man ihn gebe? – Der Dichter thut sehr viel zur Verbesserung des menschlichen Geschlechts, der durch sein Werk diese Kunst lehret,[293] der in uns die, von der Natur erhaltene Fähigkeit, andre, und unsre eigne Situationen, jene nach ihren Ursachen, diese nach ihren Folgen, richtig zu beurtheilen, übt. Daß dies nicht durch die simple Erzehlung, oder durch allgemeine Bemerkungen erreicht werden könne, ist außer allem Zweifel. Die Bemerkung, daß es unverzeihlich sey, von einem empfehlenden Gesichte Mißbrauch zu machen, ist sehr gut; aber sie wird gewiß sehr geschwinde vergessen, und um desto ehe vergessen, da wir sie schon so oft gehört haben; aber wenn ich nun eben dies empfehlende Gesicht geradeswegs als die Ursache einer unangenehmen oder traurigen Begebenheit erkenne; wenn ich mir diese Begebenheit gar nicht gedenken kann, ohne geradeswegs auf dies empfehlende Gesicht zu stoßen; wenn ich an all' den Aeußerungen der von ihm betrogenen Person sogleich die Wirkungen erkenne, die solch ein Gesicht macht (denn ohne diese innere Wirkungen kann ein empfehlend Gesicht nicht ein Verführer werden); – wenn ich diesem ganzen Eindruck nachfühle, den er auf die, von ihm betrogene Person gemacht haben muß, um sie zu hintergehen: so werd' ich, so bald ich einen ähnlichen Eindruck fühle, auf meiner Huth seyn. Freylich der, der nicht gewohnt ist, auf seine Eindrücke Acht zu haben, der gar nicht gewohnt ist, zu denken, wird vielleicht auch[294] diesen nicht nützen; aber eben der wird sich auch noch zehnmal weniger an die bloße Bemerkung der Sache erinnern. Und da wir weit ehe die gelesenen Begebenheiten, als die gefundenen Reflektionen zurückrufen, weil wir bey jenen einen Faden haben, an den wir uns halten; Gestalten, bey welchen wir uns zurück erinnern und unsre Vorstellungen auffrischen können: so ist weit mehr Wahrscheinlichkeit für den Nutzen, den eine anschauende Verbindung von Wirkung und Ursache hat, aus der wir sehen, wie die Begebenheit aus der in einer Person entstandenen, und durch eine gewisse Person oder Begebenheit gewirkten Empfindung und Vorstellung erfolgt ist; – als für den Nutzen, den die bloße Bemerkung oder Erzehlung der Sache, vergraben und verschüttet unter hundert Auswüchsen haben kann. – Denn nicht bloß auf der Stelle, wo wir der Bemerkung nöthig haben, daß ein empfehlendes Gesicht, wenn man ihm allein sich anvertraut, Schaden anrichten kann, ist diese Erinnerung genug. Da kann der Schade leicht schon geschehen, der Eindruck schon gemacht seyn. Aber vorher, ehe wir noch in den Fall kommen, müssen wir Gelegenheit haben, über diesen Eindruck, über die Wirkung, die diese Ursache hervorbringen kann, nachzudenken; wir müssen Veranlassungen haben,[295] diese und ähnliche Vorstellungen in uns zu üben, damit, auf den Fall, die Bemerkung in uns schon zur Hand sey, deren wir bedürfen. Und diese Gelegenheit nun, diese Veranlassung, über die Ursach einer Wirkung nachzudenken, erhalten wir durch die anschauende Verbindung dieses Eindrucks, mit der Begebenheit, wenn wir uns diese Begebenheit gar nicht gedenken können, ohne daß wir zugleich ihre Ursache sehen müssen. Und bey einer fortgehenden Reihe von Wirkung und Ursache, anschauend vor uns verbunden, können wir eine Begebenheit uns nicht zurück rufen, ohne auf ihre Ursache zu treffen. –

Der bloße Wille, eine That zu vermeiden, eine Sache nicht zu thun, ist ganz und gar nicht hinlänglich, uns vor dieser Sache zu schützen. Mit dem besten Willen, dem besten Vorsatz, dieser Sache aus dem Wege zu gehen, können, durch allerhand Zufälle und Begebenheiten, unsre Vorstellungen und Empfindungen eine solche Richtung erhalten haben, daß sie nun gerade, zu unserm eignen Erstaunen, auf die Sache treffen, die wir vermeiden wollten. Wenn wir also nicht vorher gewohnt worden sind, über das Entstehen der Begebenheiten und Empfindungen, und ihrer Verbindung unter einander, nachzudenken: so werden wir weit ehe, unwissend am Ziele ankommen,[296] vor dem wir zurückschaudern, als wenn wir zu dieser Uebung Veranlassungen gehabt haben. Clarissa wußte es gewiß, daß, einem Liebhaber sich auf Gnade und Barmherzigkeit überlassen, weit übler ablaufen könne, als in dem Hause des Vaters, auch unterm Druck von Anverwandten zu bleiben. Sie hatte also gewiß den Willen nicht, mit dem Loveless zu entfliehen; aber doch entfloh sie mit ihm. Mägdchens, die in einer eben so kritischen Lage sind, könnten aber, dieses Romans ohngeachtet, mit ihren Liebhabern davon gehen, weil ihnen selbst Richardson nicht Gelegenheit genug giebt, den eigenthümlichen Gemüthszustand Clarissens zu sehen, vermöge welchem die ersten Empfindungen und Vorstellungen in ihr entstanden sind, die sie zuletzt zu diesem Schritte leiteten. Die äußern Begebenheiten, die zu diesem Vorfalle führen, sind sehr genau gegen einander abgemessen; aber das Innre von Clarissen sehn wir nur von einer Seite, von welcher es uns ganz unglaublich bleibt, daß sie solche Schritte, als den geheimen Briefwechsel, u.a.m. habe unternehmen können8. Wir werden an ihrem Innern nie[297] den Eindruck gewahr, den das Aeußere auf dasselbe hätte machen sollen, um die folgende Wirkung[298] hervorzubringen; und um desto ehe hätte machen sollen, da sie der Dichter höchst empfindsam und[299] zärtlich in andern Fallen gebildet hat. Wenn das Mägdchen, das aus ihr lernen will, die ganze Reihe von Wirkungen und Ursachen sähe, die am Ende den Gemüthszustand veranlaßt haben, der sie von einer Seite unbiegsam und stolz, von der andern Seite zu unternehmend und unüberlegt zeigt; mit einem Wort, wenn sie sähe, wie die innre Clarissa, die sich entschließt, mit dem Loveless geheime Unterredungen zu halten, das geworden ist, was sie innerlich seyn muß, und sich hierzu zu entschließen: so würde das Werk noch lehrreicher seyn, als es ist.[300] Wir sehen jetzt nichts, als die unglückliche Clarisse, unglücklich durch die Härte ihres Vaters, und der übrigen Menschen, mit denen sie lebt; aber diese unglückliche Clarissa, mußte durch ihre vorigen und jetzigen Begebenheiten auch eine gewisse Art zu denken und zu empfinden erhalten haben, wodurch dies Unglück wirklich gemacht wird. – Auch die Person, die nie in den Fall kommen kann, in dem Clarisse ist, – und so gar diejenige, bey der Clarissens Beyspiel fruchtlos gewesen wäre – würde dann an dieser Behandlung, wo das innre und äußere Seyn eines Menschen gleichen Schritt hält, wo alles Wirkung und Ursache ist, gelernt – sie würde Gelegenheit gehabt haben, ihre denkende Kraft zu üben. Wenn also auch, zur besondern Anwendung auf einzelne Fälle des wirklichen Lebens, nichts aus dieser anschauenden Verbindung des Innern und Aeußern genützt wird: so lernen wir an ihr denken, und müssen es an ihr lernen. Diese Art von Behandlung zwingt uns, so zu sagen, dazu. Wir können alsdenn keine Begebenheit uns vorstellen, oder zurück rufen, ohne daß wir nicht genöthigt sind, der genauen Verbindung wegen, die Verhältnisse zu überdenken, Wirkung und Ursache zu vergleichen, wodurch sie wirklich geworden ist. – Und ist dieser Unterricht nicht wichtig genug? Lohnt es sich nicht der Mühe, die Menschen denken[301] zu lehren? – Es ist gewiß das Edelste, das der Dichter lehren kann. Und wer an Möglichkeit dieses Unterrichts zweifelt, muß nie den Agathon, Musarion, Emilia Galotti, mit einem andern Vorsatz in die Hand genommen haben, als um – die Zeit hinzubringen, oder um, ohne Gegenwart seines Verstandes, ein Geschäft zu haben. –

Wenn wir gegen den Unterricht, den diese Behandlung einer Begebenheit gewährt, den stellen, den die bloße Erzehlung derselben gewähren kann: so werden wir uns desto ehe von seinem Werthe überzeugen. Man sieht, daß wir, durch das bloße Entstehen, durch das bloße Wirklichwerden eines Vorfalls diesen Unterricht durchs Vergnügen erhalten haben; dies findet schlechterdings gar nicht bey der Erzehlung derselben statt. Bey dieser ist es entweder der Innhalt der Begebenheit, der uns beschäftigt; und wer sieht nicht, daß hier noch gar nicht die Rede von dem mehr oder weniger Anziehenden oder Unterrichtenden des Innhalts ist? In dem Fall nämlich, wo die Rede davon wäre, müßte er schon bestimmt seyn, weil nicht jeder Innhalt das gewähren kann, was wir hier suchen. Wenn wir dies aber durch das bloße Entstehen eines Vorfalls erhalten: so folgert sehr natürlich, daß jeder Vorfall, jede Begebenheit dazu geschickt ist. –[302]

Oder, das, was uns, bey der Erzehlung einer Begebenheit alsdenn beschäftigen, vergnügen oder unterrichten kann, muß in der Art und Weise liegen, wie der Dichter den Vorfall erzehlt hat, ob so angenehm als Marmontel, oder so langweilig als Madam Gomez? Hier ist also bloß von der Kunst des Dichters die Rede, in wie fern er nämlich Meister seiner Sprache, mehr oder weniger elegant erzehlt; in wie fern Witz oder Humor in seiner Erzehlung sich zeigen u.s.w. – Diese Sachen können und müssen sich zum Theil bey der vorgedachten Entwickelung einer Begebenheit, bey ihrem Wirklichwerden vor unsern Augen finden, wenn wir dies mehr oder weniger besser sehen, mehr oder weniger angenehm dabey unterhalten werden sollen; aber, zu geschweigen, daß wir vielleicht Witz und Humor, wodurch die bloße Erzehlung so sehr aufgestutzt werden muß, wenn sie gefallen soll, entbehren können, und den Witz in dem eigentlichen Sinn des Worts, gar entbehren müssen: so ist noch vorhin, bey dem Entwickeln des Unterrichts durch das Vergnügen, den das Entstehen einer Begebenheit gewährt, gar nicht an die Kunst des Dichters, und an die Verschiedenheit, die sich in Rücksicht auf den Vortrag desselben dabey zeigen kann, gedacht worden. –[303]

Ich rede in der Folge, am gehorigen Orte, von all' den Vortheilen und Nachtheilen, die eine bloße historische oder erzehlende Einrichtung eines Werks haben kann; so wie noch umständlicher von dem Werth der einzelnen moralischen Reflektionen und Bemerkungen. –

Wenn es billig, wenn es nöthig ist, daß wir die Natur einer Sache zuerst in Erwegung ziehen, wenn wir die Wahrheit dieser Sache zeigen, und sie behandeln wollen; wenn es strafbar, wenigstens höchst nachläßig ist, die Vortheile, die aus der Natur dieser Sache entstehen, alsdenn fahren zu lassen, wenn wir doch gewisse Vortheile mit dieser Sache verknüpfen wollen, und andre an deren statt aufzusuchen, die, (wie wir schon zum Theil gesehen haben, zum Theil noch sehen werden,) weit ungewisser, weit geringer sind, als jene: so ist diese, der Natur der Begebenheiten angemessene, und ihrem Entstehen in der wirklichen Welt ähnliche Behandlung dieser Begebenheiten, die dem Dichter seinen Endzweck, durch das Vergnügen zu unterrichten, allein im Roman erreichen helfen kann, die bessere, die wahre dichterische Behandlung.

6

Mendelss. Werke 1ster Th. S. 31. 32. N. Aufl.

7

Als Lessings Minna von Barnhelm erschien, hab' ich einen sehr witzigen Mann, der, nach dem Zeugniß aller Welt, mit dem größten Recht, Anspruch auf den allerfeinsten Geschmack machen kann, über dies Meisterstück sprechen, und es bewundern, aber gerade das allein bewundern hören, was ganz zuletzt hätte kommen sollen, – einzele Stellen! Von der so richtigen, übereinstimmenden, zweckmäßigen Zeichnung der Charaktere, von der Entwickelung der Begebenheiten aus diesen Charakteren, von der so genauen Verbindung der äußern und innern Geschichte, – kein Wort!

8

Ich begreife es sehr gut, warum vielleicht Richardson uns nicht das Innre seiner Clarisse von der Seite, und überhaupt die genaue Verbindung von äußrer und innrer Ursach und Wirkung hat zeigen, warum nicht vor unsern Augen, den Gemüthszustand hat werden lassen wollen, der uns ihre Aufführung begreiflich hätte machen können. Unser Mitleid sollte auf die höchste und stärkste Art erregt werden; dazu glaubte Richardson ein höchst unschuldiges und höchst unglückliches Frauenzimmer nöthig zu haben. Ein Fehltritt, wie ihn Aristoteles für die leidende Person des Trauerspiels fodert, schein ihm genug zu seyn, den Vorwurf zu vermeiden, als ob er leidende Unschuld aufführe: und die Art, wie dieser Fehltritt im Trauerspiel zum Theil nur erfolgen kann, – zum Theil aber auch, durch die Vernachläßigung der Dichter, erfolgend, gezeigt wird, ward das Muster für den Erfolg von Clarissens Fehltritt. Es geschieht, Clarisse läßt sich mit dem Loveless in Verständniß ein, und damit ist die Sache gemacht. Er ist ein Versehen in ihrer äußerlichen Aufführung. Wenn nun aber dies Versehen nicht wirklich werden konnte, ohne daß nicht gewisse innre Zustände, Vorstellungen und Empfindungen vorher giengen: so mußten wir diese sehen, und in der Art, wie wir diese, und was wir von ihnen sehen, liegt ein sehr großer Unterschied zwischen Trauerspiel und Roman. In der Tragödie nämlich, auch wenn uns diese vorhergehenden innern Zustände und Empfindungen, die den Fehltritt hervorbringen, gezeigt werden, kann zuerst dieser Fehltritt nicht sowohl als Wirkung, sondern als Ueberraschung der Leidenschaft erfolgen; er kann, so zu sagen, der Person entwischen; – die ganze Einrichtung des Drama läßt dem Dichter nicht Zeit, die Wirkung durch alle Grade vorzubereiten. Auch in dem bessern tragischen Dichter, der uns in dem Charakter seiner Personen all' die Eigenschaften zeigt, von welchen der Fehltritt eine Wirkung ist, haben wir immer noch mehr mit der That, und ihren Folgen zu thun, wir sind in zu großer Bewegung, und was vorgeht, ist zu ernsthaft, zu schrecklich, als daß wir jenen Fehltritt, wie eine entehrende Schwachheit, die uns am Mitleiden verhindere, ansehen, als daß wir die Eigenschaft, woraus er entsteht, als erniedrigend für die Person erkennen könnten. Wer sieht nicht, daß, in diesem so wohl, als in dem vorhergehenden Fall, diese innern Zustände uns gleichsam nur, als Blitze, erscheinen können, von denen der Leser oder Zuschauer immer nur sehr wenig zu sehen vermag? – In dem gewöhnlichen Trauerspiele aber sieht er noch weniger von ihnen. Da erfolgt der Fehltritt – weil er erfolgt. Genug, daß er da ist. Er ist ein bloßer äußerlicher Vorfall, der mit einem Charakter so gut, als mit dem andern bestehen kann; und der oft vollkommen das zu seyn scheint, was z.B. der Einsturz der Decke eines Zimmers ist: ein Ohngefehr, das aber viel Schaden und Unheil anrichten kann. – Dies glaubte nun Richardson auch für den Roman genug; und in ihm wollen wir doch noch mehr, als in dem bessern tragischen Dichter, von jenen innern Zuständen sehen. Er fängt nämlich sein Werk weit von dem Ziele an, wohin er will; er führt uns durch viel Zeit und Raum dahin; er nimmt, weil sein Werk es gestattet, seine Personen gewöhnlich in einem Zustande auf (wie es hier auch der Fall ist) in welchem wir noch nichts von dem, wenigstens sehen, was wirklich werden soll. Aber eben, weil er uns allmählig zu diesem Ziele führt, weil er die Wirkung nicht so schnell erfolgen läßt, als der tragische Dichter, so soll er uns auch mehr von den wirkenden Ursachen zeigen. Dies sind nun jene innern Zustände, zu denen, wenn wir auch die Personen anders auftreten sehen, doch der Saame schon immer in ihnen liegen muß. Und weil wir nun von diesen innern Zuständen, von dem allmähligen Erfolg der Wirkung im Roman mehr sehen müssen, weil wir den Zustand werdend vor uns haben, der im Trauerspiel schon fertig erscheint: so dünkt uns dort die Eigenschaft, der Zug, aus welchem der Fehltritt erfolgt, mehr bleibend, mehr dauernd als hier. Wir sehen dort nämlich mehr von ihm, mehr von diesem Innern des Menschen; seine Schwachheit, sein Versehen wird uns mehr Zug, mehr Eigenschaft im Charakter; sie muß Einfluß auf alle Folgen haben; – die Eigenschaft ist gemacht; sie kann in der Folge nicht aufgehoben, nicht vernichtet werden; sie verschwindet gleichsam nicht wieder vor uns. –

Und dadurch glaubte nun Richardson vielleicht, daß die Vortreflichkeit von Clarissens Charakter zerstört, und unser Mitleid bis zu dem Grade zu steigen, verhindert werden würde, bis zu welchem er es, in uns, erregen zu müssen glaubte. Er fürchtete vielleicht, daß wir dann nicht mehr Clarissen lieben oder beweinen wurden. – Dies wars, was ich oben sagen wollte, als ich die Ursachen zu begreifen vorgab, warum Richardson vielmehr auf die eine, als auf die andre Art bey Abfassung seines Romans zu Werke gegangen. –

Ob er Recht oder Unrecht darinn gehabt, überlaß ich andrer Entscheidung.

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 288-304.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Angelus Silesius

Cherubinischer Wandersmann

Cherubinischer Wandersmann

Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«

242 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon