5.

[310] Nachdem ich alles das gesagt und entwickelt habe, was über das Entstehen und Wirklichwerden einer einzeln Begebenheit gesagt zu werden verdient; nachdem ich alle die Vortheile, die diese Art von Behandlung hat, gezeigt, und es augenscheinlich gemacht zu haben glaube, daß der Dichter durch sie allein seinen Endzweck erreichen, und den Namen, den er sich giebt, verdienen kann: so komme ich zum Ganzen eines Werks, in so fern es nämlich aus verschiedenen Begebenheiten zusammengesetzt ist.

Wenn der Dichter bey einer einzeln Begebenheit nur seinen Endzweck erreicht, indem er uns eine Reihe verbundener Ursachen und Wirkungen zeigt, indem er es uns ganz genau sehen läßt, wie diese Begebenheit wirklich geworden ist: so fragt es[310] sich, wie diese verschiedenen einzelnen Begebenheiten mit einander verbunden und geordnet seyn müssen, die das Ganze des Dichters ausmachen?

Ich nehme den Roman hier im weitesten Umfange, den er haben kann, in so fern er nämlich ganze Reihen von Jahren, und sehr abwechselnde Begebenheiten zu umfassen vermag. Dies bitte ich, nicht zu vergessen.

Der Dichter muß immer sein Werk den Absichten zu folge, die er damit hat, und nach Anlage der Materialien, aus denen er es aufbaut, anordnen.

Der Romanendichter, so wie jeder andre Dichter, soll billig auch mit der Anordnung seines Ganzen den Endzweck haben, durchs Vergnügen zu unterrichten: einen so edlen Endzweck, daß er sicher keinen anständigern haben kann. – Gar keinen Endzweck damit zu haben; zu gar keiner Absicht den Ausgang ordnen, oder die Begebenheiten unter einander verknüpfen, als um des Ausgangs selbst willen, würde einen sehr unphilosophischen Dichter verrathen; wenigstens einen Dichter, der nicht all' den Vortheil von seinen in Händen habenden Materialien zu ziehen wüßte, der davon zu ziehen ist. –

Bey einzelnen Begebenheiten haben wir gesehen, daß der Endzweck des Dichters nicht anders erreichet[311] werden kann, als indem wir das Wirklichwerden dieser Begebenheit, oder mit andern Worten, indem wir eine anschauende Verbindung von Wirkung und Ursache sehen, wodurch die Begebenheit erfolgt.

Jede kleinere Begebenheit macht für sich schon ein Ganzes aus. Sie hat ihre Ursache, erfolgt als die Wirkung dieser Ursache, und kann der folgenden Begebenheit, wenn sie nicht die letzte ist, wieder zur Ursache werden. Bleibt sie aber auch ohne Folgen: so hat sie dem ohngeachtet einen Anfang, Mittel, und Ende. –:

Wenn also der Dichter mit seinem großen Ganzen billig den Endzweck haben soll, den er mit dem kleinern Ganzen einer Begebenheit hat; – wenn er mit dem kleinern Ganzen seinen Endzweck nicht ohne jene Behandlung erreichen kann; – wenn dies kleinere Ganze im Grunde eben das ist, was jenes größere seyn kann: – so folgt sehr natürlich, daß der Romanendichter bey Anordnung dieses größern Ganzen eben die Maaßregeln haben solle, die er bey Anordnung seines kleinern Ganzen gehabt hat. –

Dichter heißen so gerne Schöpfer. Ich glaube, daß sie nur dann diesen Namen verdienen, wann sie ihren Werken so viel Aehnlichkeit, als es möglich ist, mit den Werken des Uneingeschränkten zu[312] geben wissen. Wenn wir eingeschränkten Geschöpfe unsre Kraft anstrengen, um das All, so viel wir vermögen, zu übersehen: so entdecken wir, daß in diesem Ganzen nichts um sein selbst willen da; – daß eins mit allem, und alles mit einem verbunden ist; – daß, so wie jede Begebenheit ihre wirkende Ursache hat, diese Begebenheit selbst wieder die wirkende Ursach einer folgenden Begebenheit wird. Wir sehn eine, bis ins Unendliche fortgehende Reihe verbundener Ursachen und Wirkungen: ein, in einander geschlungenes Gewebe, das, wenn es aus einander zu wickeln wäre, ganz ununterbrochen einen Faden enthielte; oder vielmehr dessen verschiedene Fäden sich alle in einen Anfang – die Weisheit des Schöpfers vereinen, und dessen Ende vielleicht in unsrer höhern Vervollkommung ... doch wer kann dies, wer kann das Ganze übersehen? Aber Vernunft, Natur, Erfahrung bestätigen alle das wirkliche Daseyn dieser Verknüpfung. –

Wenn der so gepriesene Grundsatz der Nachahmung irgend einen Sinn hat: so ists wohl kein andrer, als der: verfahret in der Verbindung, der Anordnung eurer Werke so, wie die Natur in der Hervorbringung der ihrigen verfährt.

Der Dichter hat in seinem Werke Charaktere und Begebenheiten unter einander zu ordnen und zu verknüpfen. Diese müssen nun, nach den obigen[313] Voraussetzungen, so unter einander verbunden seyn, daß sie gegenseitig Ursach und Wirkung sind, woraus ein Ganzes entsteht, in dem alle einzelne Theile unter sich, und mit diesem Ganzen in Verbindung stehen, so daß das Ende, das Resultat des Werks eine nothwendige Wirkung alles des vorhergehenden ist. Das Werk des Dichters muß eine kleine Welt ausmachen, die der großen so ähnlich ist, als sie es seyn kann. Nur müssen wir in dieser Nachahmung der großen Welt mehr sehen können, als wir in der großen Welt selbst, unsrer Schwachheit wegen, zu sehen vermögen. Wir müssen die Verbindung der Theile unter sich, und mit dem Ausgange des Werks anschauend erkennen, ihr Verhältniß gegen einander prüfen, die Wirkungen und Ursachen abmessen, und es mit Gewißheit sehen können, warum die Sachen vielmehr so, als anders erfolgen? Ist diese Verbindung nicht anschauend vor uns da: – was hilft uns ihr Daseyn? Wenn wir sie nicht zu erkennen, wenn wir sie nicht zu unserm Vergnügen und zu unserm Unterricht anzuwenden vermögen: so ists für uns so viel, als ob sie gar nicht da wäre. In dem großen All sehen wir immer schon etwas von dieser Verbindung; und wenn wir es nicht anschauend erkennen, wenn die Erkenntniß dieser Verbindung erst das Werk der Erfahrung und Ueberlegung ist: so ist es, wie gedacht, unsre Schwachheit,[314] nicht der Mangel ihres Daseyns, die uns verhindert, sie gewahr zu werden. –

Was also vorhin von dem Wirklichwerden einer einzeln Begebenheit vor unsern Augen gesagt worden ist, das wird eben auch von diesem Ganzen gelten. Wir werden alle die innern Ursachen, alle die geistigen Zustände, verbunden mit ihren äußern Veranlassungen, vermöge derer die äußern Begebenheiten so, und nicht anders erfolgt sind, anschauend erkennen.

In solch einem Werke wird ferner nichts zu viel seyn, das ist, entweder eine Ursache, die grosser wäre, als sie zur Hervorbringung ihrer Wirkung nöthig ist, oder eine Ursache, die gar keine Wirkung hätte, und deren Nothwendigkeit wir beym Ende des Werks nicht anschauend erkennen könnten. Es wird auch nichts zu wenig in diesem Werke sich finden können, das ist, eine Wirkung, von der wir nicht die Ursache sehen sollten, die sie hervorgebracht haben muß, oder eine Ursache, die zu schwach wäre, die ihr zugeschriebene Wirkung hervorzubringen. Es wird ferner sich nirgends ein Sprung oder eine Lücke finden. Wenn ein Charakter bey einem Vorfall anders handelt, als wir ohne Rücksicht auf den Zusammenhang des Werks, vermuthen konnten, daß er, der Wahrscheinlichkeit nach, handeln solle: so werden wir in[315] diesem Zusammenhange die Ursache finden, warum er jetzt vielmehr so, als anders erscheint. Anschauend werden wir all' die Veränderungen erkennen, durch die er gegangen ist, um sich uns ganz anders darzustellen, als wir es, ohne diesen Zusammenhang, für wahrscheinlich halten würden. Ein gewöhnlicher Romanen Dichter würde uns vielleicht auch, wenn er die Geschichte des Agathon zu schreiben gehabt hätte, diesen Agathon im Hause der Danae ganz anders gezeigt haben, als zu Delphi; aber in dem Zwischenraum dieser beyden Zeitpunkte, bey der Wahl der Begebenheiten vorzüglich auf diejenigen zu sehen, die diese Veränderung im Charakter des Agathon herbey führen, sie wahrscheinlich, und gar nothwendig machen konnten, das war nur von einem Dichter zu erwarten, der über die Verbindung von Ursach und Wirkung, über das Eigenthümliche, das aus einer Reihe von Begebenheiten, ausgeführt durch gewisse Charaktere, erfolgen muß, – reiflich nachgedacht hatte. Denn –

Jede Begebenheit in einem Werke, ist da, um Wirkungen hervorzubringen. Die Nothwendigkeit davon haben wir gesehen. Dies allein kann den Dichter rechtfertigen, warum er vielmehr diese als jene Begebenheit gewählt hat? und hieraus läßt sich auch, um es gleich im Vorbeygehn zu bemerken,[316] ein Maaßstab für den Werth der Begebenheiten selbst festsetzen. Je sicherer, je anschauender sie die Wirkung hervorbringen, die sie, nach der Anlage des Dichters hervorbringen sollen, je mehr sie, als Mittel zu dem vorgesetzten Entzweck sich passen: je größer wird ihr Werth für das Werk seyn. Sie selbst mögen noch so klein, noch so geringfügig uns dünken; der Platz, den sie einnehmen, die Folgen, die sie haben, werden ihnen Werth genug geben.

Wenn jede einzelne Begebenheit eines Romans nur billig ihr Daseyn erhalten soll, um dem folgenden als wirkende Ursache zu dienen; wenn ein Roman sehr abgesonderte, von einander sehr verschiedene und mancherley Begebenheiten enthalten kann: so fragt es sich, wie, und auf welche Art wird der Romanendichter unter diesen Begebenheiten die innre anschauende Verbindung, die genaue Beziehung der einen auf die andre erhalten können, so daß ein Ganzes daraus werde, wie es vorher charakterisirt worden ist? –

Da die Personen nicht handeln, das heißt, da keine Begebenheiten wirklich werden können, ohne daß nach den vorigen richtigen Voraussetzungen der eigentliche Gemüthszustand dieser Personen in solcher Bewegung ist, als er seyn muß, wenn diese Begebenheiten erfolgen sollen: – Da bey einer[317] zweytern Begebenheit, der Gemüthszustand der handelnden Personen schon durch die erstere Begebenheit geformt seyn muß, weil diese erstere Begebenheit sonst ohne Wirkung geblieben wäre; und in der zweytern sich, ohne dies, nicht eine Ursach angeben ließe, warum die Person vielmehr so handelt, als anders? so folgt sehr natürlich, daß nur die handelnden Personen der Faden seyn können, an den, um mich so auszudrücken, die Begebenheiten angereiht werden müssen, wenn unter ihnen eine genaue Verbindung von Wirkung und Ursache, sich befinden soll. Es ist nämlich sehr natürlich, daß wenn die erstere Begebenheit wieder als Ursach der zweytern im Werke erscheinen soll, sie auf die handelnde Person zurück wirken müsse, weil ohne diese Person alle fernere Wirkungen aufhören müßten. Die Begebenheiten erhalten nur ihr Daseyn, ihre Möglichkeit durch die handelnden Personen.

Es versteht sich, daß hier die Rede von den Begebenheiten einer und derselben Person ist.

Vorhin ist schon angemerkt worden, daß diese Verbindung der Theile eines Ganzen anschauend seyn müsse, weil sonst die Absicht, wozu das Ganze verbunden ist, und warum der Dichter eigentlich gedichtet hat, nicht erreicht werden kann.

Wenn nun die Wirkungen der verschiedenen Begebenheiten uns also sichtbar bleiben müssen, so[318] bald nämlich das Ganze übersehen, erkannt, richtig beurtheilt und genützt werden soll: so muß natürlich der zweyte Eindruck, den der Charakter erhält, nur nach Maaßgabe des erstern Eindrucks, den der Charakter erhalten hat, wirken, so daß die zweyte Begebenheit also gleichsam ihre eigenthümliche Gestalt durch die vorhergehende (vermöge des Eindrucks, den diese auf den Charakter gemacht haben) bekommt. Mit einem Wort, jeder Eindruck, jede Begebenheit muß Spuren zurück lassen, die wir an dem Eindruck, den die folgende Begebenheit macht, erkennen. Die ganze Erziehung, die Agathon erhalten hatte, mußte ihn zu einem geistigen Schwärmer machen; wir sehn das Wie, das Wirklichwerden dieser Sache sehr innig, sehr anschauend. Aber dieser, vor sich bestehende fertige Eindruck, das bloße Daseyn desselben, würde für uns so viel seyn, als wenn es nicht wäre, wenn Agathon sich nicht vermöge dieses erstern Eindrucks in Danaen verliebte, wenn nicht seine Liebe eine Wirkung dieser erstern Eindrücke, dieser erhaltenen Erziehung wäre. Also nur, vermöge der Person des Agathon, vermöge des Eindrucks, den diese erstern Begebenheiten auf ihn gemacht haben, findet die innre Verbindung, die Verbindung als Wirkung und Ursach zwischen den erstern und den folgenden Begebenheiten statt. Man sicht, daß[319] dieser Eindruck, diese Form, die Agathon durch die erstern Begebenheiten erhalten hatte, nothwendig war, wenn eine innige, anschauende Verbindung im Ganzen statt finden sollte. Wenn die erstern Vorfälle nicht Einfluß auf seinen Charakter gehabt hätten, wenn dieser Einfluß nicht bleibend gewesen; mit einem Wort, wenn Agathon nicht durch sie gebilder, nicht durch sie dazu gemacht worden wäre was er ist: so könnten die letztern mit den erstern in keiner Verbindung stehen. Man nehme einmal den Fall an, daß wir die Geschichte von Agathons Liebe mit aller der Wahrheit läsen, mit der sie jetzt geschrieben ist; – Nun käme Agathon, aus dem Hause der Danae geradeswegs nach Syrakus; – wir sähen dort z.B. aber eben den Agathon, wie er in das Haus des Hippias kam; würde sich eine Verbindung als Wirkung und Ursach zwischen diesen zwey getrennten, aber auf einander folgenden Begebenheiten finden? diese Begebenheiten würden, als ein paar einzele Dinge da stehen, von denen wir eine, welche es auch wäre, wegschneiden könnten, ohne daß wir sie als nothwendige Wirkung oder Ursache vermissen würden. Diese Verbindung zwischen den verschiedenen Begebenheiten einer Person kann sich also nur vermöge der, sie empfundenen, und durch sie geformten Denkungsart erhalten; das heißt –[320] ich wiederhol' es – indem jede Begebenheit auf diese Person gewirkt hat: so sind die verschiedenen Eindrücke die Grundlage gewesen, auf welche die nächstfolgenden haben treffen müssen; und auf welche sie, nur nach Maaßgabe dessen, was der Mensch durch die erstern geworden war, haben wirken können. Hieraus ist am Ende das Ganze entstanden, in welchem alles unter sich, und alles mit dem Ausgang dieses Ganzen verbunden, eine Reihe in einander gegründeter Ursachen und Wirkungen geworden ist, deren Resultat, aus den vorhergehenden, nothwendig und anschauend erfolgte. Und dies Resultat, dieser festgesetzte Zweck eines Werks dieser Art kann also kein andrer seyn, als die Ausbildung, die Formung des Charakters auf eine gewisse Art. So dienen die Begebenheiten im Agathon dazu, den Agathon dazu zu machen, was er ist; so wird Phanias durch den Innhalt von Musarion aus einem unglückseligen Afterweisen, in einen glücklichen und wahrhaft weisen Mann verwandelt. Nur vermöge dieser Formung der Charaktere erhält sich der anschauende Zusammenhang in einem Werk, den wir, als eine nöthige Eigenschaft des Ganzen, erkannt haben; nur auf diese Art können die Begebenheiten eines Menschen der Innhalt eines Romans seyn. Wenn ich mir den Agathon denken will, wie er zu Tarent an kommt: so kann[321] ich ihn mir nicht denken, ohne daß mir nicht Delphi, – Psyche, – die Priesterinn, – Athen, – Hippias, – Danae, – Syrakus einfallen müssen. Der Dichter hat mich dazu zu zwingen gewußt; so genau, so anschauend sind die einzelne Theile seines Werks zu einem Ganzen verbunden! Aber man versuche es – man verzeihe mir das Beyspiel! – Der letzte Band ist eben vom Grandison geendigt, was ist nun da, das mich im Ueberdenken des Manns, der mir zum Muster dienen soll, gerade z.B. auf Grandisons Begebenheit mit der Lady Beauchamp führe? In dem Ganzen, das ich jetzt von diesem Grandison, von diesem Individuo vor mir habe, finde ich nichts, das mich gerade auf diese Begebenheit bringen müßte, wenn ich mir das ganze Seyn des Grandison, seine ganze Verfassung begreiflich machen soll. – –

Wenn es wahr ist, daß der Dichter keine andre Ursachen zur Wahl seiner Begebenheiten haben könne, als weil sie vorzüglich fähig sind, die ihnen zugeschriebenen, und zukommenden Wirkungen hervorzubringen: – wenn in der Natur jede Begebenheit, die in der Wahrheit einen Eindruck macht, das ist, einen Eindruck, der nicht geradeswegs durch die folgende Eindrücke ausgelöscht wird, (eine Sache, die in dem Werke des Dichters nicht Rechtfertigung[322] finden kann, weil alsdenn keine Ursache da ist, warum sie lieber erfolgt, als nicht erfolgt ist?) – wenn, sag' ich, jede Begebenheit in der Natur zur Formung und Ausbildung unsers Charakters etwas beyträgt; wenn sie auf unsre Denkungsart wirkt, und unsre Denkungsart nur nach der, durch sie erhaltenen, und mit ihren übrigen Vorstellungen zusammen geschmolzenen Vorstellung, in dem nächsten Falle wirkt: so stehen natürlich die allerentferntesten Begebenheiten in einer Verbindung als Wirkung und Ursach, und nur dadurch in dieser Verbindung, daß sie zur Bildung unsrer Denkungsart, zur Formung unsers ganzen Seyns mehr oder weniger beygetragen haben. Wenn wir dies in der Natur nicht erkennen, wenn wir nicht gewahr werden, wie unsre Art zu denken und zu handeln, durch den Einfluß der uns zugestoßenen Begebenheiten dazu gebildet worden ist, was sie ist: so ist zum Theil die Flüchtigkeit im Beobachten unsrer selbst Schuld daran, zum Theil ist diese Formung, diese Bildung so unvermerkt zur Wirklichkeit gekommen, daß es, uns selbst unbewußt, hat geschehen können. Denn natürlich haben all' die uns zugestoßenen Vorfälle, sie mögen nun so klein, so unwichtig scheinen, wie sie wollen, auf unsre Art zu denken, zu empfinden, zu handeln irgend einen Einfluß gehabt: so daß unser jetziges Seyn, unser[323] jetzige ganze Zustand das Resultat aller derselben ist. Wenn wir aber selbst diesen verschiedenen Einfluß aller unsrer Vorfälle, und ihren Beytrag zu unsrer Formung in der Natur auch nicht ausmitteln können: so verhält sich die Sache doch ganz anders bey unsern Foderungen an den Dichter. Wir wollen, wie gedacht, und wir müssen die Wirkungen der Begebenheiten erkennen, weil sich sonst keine Ursache angeben läßt, warum sie vielmehr da, als nicht da sind? –

Quelle:
Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman, Leipzig und Liegnitz 1774. , S. 310-324.
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