I.

[147] Leonhart starrte auf die Zeitung. Ja, dort stand es wirklich:

»Am nächsten Sonnabend wird nun endgültig im ›Deutschen Theater‹ in Scene gehn ›Die Meeresbraut‹, Drama in fünf Akten von Xaver Graf Krastinik. – Die Ausstattung wird alle Welt überraschen. Die Pracht der venetianischen Kostüme und Dekorationen übertrifft noch die Leistungen der Meininger in Byrons ›Marino Falieri‹. Herr Friedmann spielt die prachtvolle Rolle des Admirals Moncenigo, Frl. Geßner die der Katharina Kornaro. Herr Kainz wird den König von Cypern, Herr Sommersdorf die ergreifende Gestalt des jungen jüdischen Rabbiners Ben Israel verkörpern. – Eingeweihte behaupten, daß eine neue Epoche des Dramas mit diesem Abend anbrechen werde. Der große realistische Stil des Geschichtsdramas, den der junge Goethe und der junge Schiller suchten, ist hier gefunden, wie unsre[147] Gewährsleute versichern. Auch sollen sich Scenen von gradezu überwältigender Schönheit in diesem Erstlingswerk eines großen Dramatikers finden. – Nun, das läßt sich ja an, als ob unserem Berliner Shakespeare Herrn v. Alvers, der mehr und mehr für das naive Volkstheater der Vorstädte zu arbeiten scheint, ein gefährlicher Rivale erstanden wäre, der im Voraus gesiegt hat. Der gräfliche Dichter, welcher schon durch seine herrlichen Gedichte so sehr in Mode kam, dürfte demnach einem großen Triumphe entgegengehn.«

Leonhart warf das Zeitungsblatt auf den Boden und sich der Länge nach aufs Sopha. Ein krampfhaftes Lachen schüttelte sein Zwerchfell. Er lachte sich einmal gründlich aus über die Posse des Lebens.

So war es denn also wirklich gelungen. Nun galt es das Weitere abzuwarten.

Vor einigen Monaten hatte Leonhart einen Brief aus Venedig, der alten Residenzstadt malerischen Farbensinns, erhalten. Kein Geringerer als jener große Verschollene, der lyrische Tenorist Francis Henry Annesley, beehrte ihn von dort mit einem längeren Handschreiben. Den Anlaß dieser überraschenden Kundgebung bot die seit Kurzem erschienene Anthologie realistischer Lyrik, welche auf Annesleys Kosten von Erich von Lämmerschreyer herausgegeben wurde und zu welcher Leonhart ebenfalls Beiträge beisteuerte. Zwar hatte Francis Henry weidlich den Krämpfen neidischer Großmannssucht gegen den unangenehmen Niederdrücker Luft gemacht und über Leonhart eine Reihe anonymer Recensionen geschmiert, des[148] Inhalts, daß dieser eigentlich kein Dichter, sondern ein »Denker« sei – ein Titel, gegen den die Dichterlinge unsrer Zeit bei ihrer schrecklichen Gedankenarmuth eine besondere Animosität nähren. Allein, da ihm Leonharts Einfluß doch unumgänglich für Förderung seiner Interessen nöthig schien, erklärte er plötzlich diesen »Volldichter« für »eine zum Höchsten berufene Natur«. In diesem Sinne schmetterte er ihm auch jenen überschwänglichen Brief aus Venedig, worin er vor allem bat, sein neuestes Werk: »Cypressen«, symphonischer Cyklus für Kammermusik von Gregor Waschuppsky (Opus 22) in allen zur Verfügung stehenden Blättern anzupreisen. Sodann sprang er auf die Anthologie seines Freundes Lämmerschreyer über und bat die Beiträge des p. p. Haubitz und Edelmann zu vermöbeln, da diese undankbaren Zigeuner ihm angeblich schon 5000 Mark Pumpgebühren gekostet hätten. Nach diesem reizvollen Thema kam er auf Venedig zu sprechen, da er in dem Palazzo, wo Richard Wagner gestorben, wohne und den Geist des todten Meisters in sich einathme. Er versuchte dann in unbeholfener Weise Venedig zu schildern, blieb aber bei den Blumenmädchen von San Marko hängen und erprobte einige Genialitätsallüren, indem er das liebliche »bona sera« gefälliger Freundinnen und sich daranschließende nächtliche Gondelfahrten schilderte. Der Stil und die Handschrift verwirrten sich zusehends, unvermittelte Cynismen sprengten sich ein und der ätherische Jünger der heiligen Cäcilia verbreitete sich über gewisse Stühle in Italien. Diese seien von Marmor, aber so niedrig, daß Niemand sich darauf setzen könne.[149] Daher die Unreinlichkeit. Dies sei die wahre Völker-Psychologie, vom Standpunkt des Verdauungsthrones aus – –

Hier brach der Brief plötzlich ab, der dem Psychiater vielleicht ein interessantes Dokument geboten hätte, und es folgten einige Zeilen von fremder Hand. Die Tante Annesley's hatte nämlich die Nachschrift darunter gesetzt: Sie sende den nicht ganz vollendeten Brief, für den bereits das beschriebene Couvert dagelegen habe, da sie aus dem Inhalt ersehe, es handle sich um wichtige künstlerische Dinge. Sie bäte den unvollkommenen Zustand des Schreibens zu entschuldigen, da ihr unglücklicher Neffe, urplötzlich wiederum von einem Nervenleiden befallen, in einer Kaltwasserheilanstalt Linderung suche u.s.w. – –

Leonhart zuckte mitleidig die Achseln. Zugleich aber fühlte er, wie diese verworrenen Andeutungen über Venedig ihm das Bild der Lagunenstadt mächtig vor Augen bannten, so daß es seine Phantasie nicht wieder loßließ. Am andern Tag verschaffte er sich Daru's Geschichte von Venedig aus der kgl. Bibliothek und vertiefte sich darin. Immer mehr wuchs und reifte in ihm der Gedanke, ein paar bronzene Charakterköpfe aus der venetianischen Staatsgeschichte herauszuschneiden.

Bald darauf war er von Xaver Krastinik bei einer merkwürdigen Beschäftigung überrascht worden. Dieser, geräuschlos eingetreten, fand seinen Freund über allerlei Karten und Mappen gebeugt, einen Zirkel und Nadeln mit farbigen Knöpfen in der Hand, ringsumher selbstgezeichnete Pläne und Tabellen mit allerlei Berechnungen.[150]

»Zum Teufel! Was machen Sie denn da?« rief der Ex-Militair erstaunt, nachdem er einen scharfen Blick auf all diese Gegenstände geworfen.

»Ich – ich –« Leonhart suchte verlegen die Sachen zusammenzupacken, Jener hinderte ihn aber daran. Mit sachkundigem Blick griff er einen Hauptplan auf:

»Wollen Sie mir einmal erlauben? Was seh ich da! Das sind ja seltsame strategische Studien. Wie sie wissen, war ich früher ein sogenannter ›gelehrter‹ Militair. Die Sache interessirt mich und ich verstehe 'was davon.«

Leonhart verbeugte sich stumm und ging langsam auf und ab, die Hände auf dem Rücken gekreuzt, in tiefem Nachdenken.

Krastinik schwieg ebenfalls lange Zeit, indem er die Pläne verglich, die Tabellen zu Rathe zog und mehrere sauber geschriebene Papiere durchlas, die schematisch geordnet und »Dispositionen« über schrieben waren. Plötzlich drehte er sich um und fragte:

»Sie waren auf keiner Kriegsschule?«

»Nein.«

»Sie treiben diese heimlichen Studien auf eigene Hand? Wer brachte Sie darauf?«

»Meiner Treu, Niemand. Es rumorte in mir seit frühster Jugend.«

»Nun, dann ist das wieder eins jener Wunder des Genies, die unerklärlich bleiben. – Warum ergriffen Sie nicht die militairische Carriere?«

»Warum verließen Sie dieselbe so früh?«

Krastinik biß sich auf die Lippen und starrte finster[151] vor sich hin: »Wohl wahr. Sie taugen auch gar nicht zum Offizier, in keiner Weise. Würden bald wegen Insubordination entlassen oder schössen sich eine Kugel vor den Kopf. Selbst wenn die Möglichkeit vorhanden wäre, daß Sie Ihre Begabung je ausnutzen könnten, wozu doch ein Oberbefehl gehört, müßten Sie darüber alt und grau werden. Sie, ein so ungeduldiger Feuerkopf! Ja, unmöglich. Traurig! Sie haben Ihren Beruf verfehlt, hätten in den Generalstab gemußt.«

Leonhart schüttelte den Kopf. »Ich zweifle. Auch das würde mir nichts nützen. Ich gehöre zu Denen, die nur an erster Stelle commandiren können oder gar nicht. In irgend einer Ausnahmezeit wäre ich viel leicht 'was geworden, wie der Ackerbürger Cromwell und der verhungernde Bonaparte. Aber an so etwas darf man nicht denken. ›Der Mann seines Schicksals sein‹ – jaja, wenn das Glück so nachhilft! Der Corse hatte gut reden! Mein Schicksal ist zu schweigen und zu dulden

»Aber darin liegt etwas Unerträgliches, eine Infamie des Schicksals!« Krastinik gerieth in ordentliche Aufregung. »Ich wiederhole, ich verstehe genug davon, um zu erklären: Sie sind ein geborenes strategisches Genie. Und wenn Sie das nicht wären, hätten Sie ja wohl nicht von Jugend an sich heimlich mit Dingen beschäftigt, die Sie ja gar nichts angehn und Ihnen keinerlei Nutzen bringen.«

»Wohl möglich. Aller psychologischen Logik nach, müssen Sie wohl recht haben. Allein, was ändert das! Hier ist der Lessing'sche Unsinn von dem ›Rafael ohne[152] Arm‹ einmal anwendbar. Rafael ohne Arme ist eben gar kein Rafael; aber Rafael, der zu Grunde geht, weil ihm Niemand Bilder bestellt, da steckt der Knoten! O diese Tragödie, die furchtbarste des Menschenlebens, der Kampf des Genius mit der Welt! Dem Erfinder vorsagt man das Geld, um es an Uniformknöpfe zu vergeuden, oder steckt den Erfinder der Dampfmaschine ins Irrenhaus als Ideologen, wie Napoleon dies fertig brachte. Kolumbus erbettelt sich kaum ein paar wacklige Nußschalen für eine weltumgestaltende Großthat. Natürlich! Der Geniale, dessen Intuition kraft göttlicher Eingebung mit eins die innere Wahrheit der Dinge erschaut, wird von der blöden Unfähigkeit der Weltautoritäten nach seiner amtlich patentirten Beglaubigung gefragt. Ja, die kann er nicht vorzeigen! Cromwell, das geborene Staats- und Feldherrngenie, kann sich nur als schlechter Landbauer ausweisen, Kolumbus hat gar kein naturwissenschaftliches Doctordiplom hinter sich, Shakespeare vermochte nicht einmal Gymnasialstudien obzuliegen. Was nun? Was fängt die Welt mit einem solchen Größenwahnsinnigen an? – Jajaja, Größe und Größenwahn, wer soll die recht unterscheiden! Der Alchymist, der den Stein der Weisen fand, spöttelte gewiß über die Narrheit des Kopernikus. Und wenn ein Conquistador in erhabener Liebessehnsucht nach einer jungfräulichen neuen Welt sich sehnt, so lacht gewiß die kindsköpfige Liebessehnsucht eines Ritters nach einem schönen Weibe über solche Phantasterei. – Das alles, lieber Graf, ist alt wie die Welt, alt wie die Welt. Warum sollte ich glücklicher sein, als meine Altvordern?«[153]

»Nein und abermals nein!« Krastinik hob heftig beide Arme empor und schüttelte sie. »Das kann nicht so geduldet werden. Sie Genie-Ungeheuer Sie! Wer das ruhig mit ansieht, wie Sie hier bleicher und bleicher, stiller und stiller hinsiechen auf Ihrer einsamen Klause – ich habe Sie fast niemals lächeln gesehn –, Der macht sich derselben Todsünde schuldig, wie das Gesindel, das Sie begeifert. Die oberflächliche Mittelmäßigkeit sich auf dem Markte blähend – der hohle Gemeinplatz-Bumbum eines Phrasendreschers wie dieser Alvers als Hohepriesterthum des hehren Idealismus weihestänkernd – und Sie, der Berufene, immer noch ins Hintertreffen gedrängt, weil Sie kein geschniegelter Süßholzraspeler und Ihre Werke zu hoch sind für den dummen Lesepöbel – – es krampft Einem das Herz zusammen! Das ist die Sünde, welche nimmer vergeben wird, die wider den heiligen Geist.«

»Und grade diese begeht doch die Welt am häufigsten,« ergänzte Leonhart ruhig. »Lieber Graf Krastinik, Sie sind der erste anständige Mensch, den ich im Leben getroffen habe. Sie sind der Einzige, der die jämmerliche Eitelkeit dem Höheren gegenüber, solange dieser nicht durch äußeren ›Erfolg‹ gefeit ist, und den kleinlichen Neid in sich bezwang. Seien Sie stolzer darauf, als wenn Sie eine Batterie erstürmt hätten! Aber lassen Sie mich ruhig verbluten, mir ist nicht zu helfen, weder so noch so. – Sehn Sie hier diese Briefe über mein Drama ›Die Männer von Appenzell‹. O unsere Theaterdirektoren, diese Rotte von Verbrechern am heiligen Geist!«[154]

Da hatte der Eine nach persönlicher Rücksprache mit dem Autor denn doch entdeckt, daß dem Stücke der geeignete dekorative Hintergrund fehle. Ein andrer beklagte den schnöden Realismus, ein andrer den abgestandenen Idealismus des Werkes. Einer konnte es aus Rücksicht auf sein Hoftheater, ein Andrer aus dito Rücksicht auf sein liberales Publikum nicht aufführen. Und doch war das Drama weder conservativ noch liberal, weder idealistisch noch realistisch, sondern einfach erhaben, schlicht und groß. Es behandelte den heldenhaften Freiheitskampf der Appenzeller gegen Oesterreich und die ganze Ritterschaft des Rheingaus und Tyrols unter dem Florian Geyer dieses Bauernkrieges, dem wackern Grafen Werdenberg, der seinen Titel ablegte und brüderlich den Bauernrock anzog. Mit herzerwärmender Frische und Kraft war die naive Begeisterung des Alpenvölkchens geschildert, das nach Niederwerfung aller vornehmen Feinde zu Haus von seinen Bergen ins Deutsche Reich einfällt, um die Welt zu befreien – die Welt, von deren Größe sich solche Herzenseinfalt recht nebelhafte Begriffe macht. Mit ergreifender Wehmuth entwickelte der Dichter dann, wie diese naive Sehnsucht nach Menschenverbrüderung sie immer weiter vom Pfad der Weltklugheit und auch des Rechts verlockte, bis die Männer von Appenzell, welche die ganze Menschheit verbrüdern wollten, sich um schnöde Beute zankten und ihrem Bruder Werdenberg mit Undank lohnten, so daß endlich doch die selbstsüchtige Bauernnatur zum Vorschein kam.

Ueber diese Dichtung, die wie von Alpenzinnen[155] aus menschliches Recht und Unrecht mit milder Ruhe überschaute, hatte der Dramaturg eines Hoftheaters sich weisheittriefend verbreitet: »Sollten hier am Ende socialistische Umtriebe in dichterischer Gewandung vorliegen? Man erkennt gar wohl, wohin der Herr Verfasser zielt,« und so ging der Gallimathias drei Seiten lang fort.

Aber als nun Krastinik tobte und wetterte bei Lectüre dieser Briefe, da trat Leonhart nahe an ihn heran und fragte ihn: »Nun wohl, wollen Sie mir wirklich vorwärts helfen? Sie können es. Ich hätte da wohl eine Bitte..«

»Ist schon erfüllt. Befehlen Sie über mich! Wir wollen doch mal sehn, ob man diesen Schweinepriestern nicht irgendwie auf den Pelz klopfen kann.«

»Nun wohl, so hören Sie:« – – – – – –

Quelle:
Karl Bleibtreu: Größenwahn. Band 3, Leipzig 1888, S. 147-156.
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