Wie es war und ist

[314] Der Herzen gibts nicht mehr in unsern Tagen,

Die voll Gefühl auf Erden weit und breit

Mit keinem Wunsch als nach der Einen fragen,

Der sie sich ganz und lebenslang geweiht;

Gern jedem Glück, ists Ihr nicht Glück, entsagen;

Unabgeschreckt von Haß, Verfolgung, Neid

Wie im Triumf an Ihrem Siegeswagen

Hervor sich blähn; was halb Ihr Blick verbeut,

Nicht wollen; nur mit innigem Behagen

Die Freude fühlen, die auch Sie erfreut;

Zufriednes Muts an ihrem Grame nagen,

Und Jahre durch, was Stolz und Grausamkeit

Auflegen kann, und immer willig tragen;

Zu leben und zu sterben gleich bereit,

Gefahr und Tod um Ihretwillen wagen;

Und wenn zuletzt Ihr harter Sinn Sie reut,

Die Zweifel fliehn, die um den Busen lagen

Und Sie erweicht Ihr Ohr den Seufzern leiht,

Als wär es Traum, noch fürchten noch verzagen:[314]

Der Herzen gibts nicht mehr zu unsrer Zeit!

Der Liebesgott ist nun kein Gott der Klagen:

Er kömmt und glüht und lacht der Schüchternheit

Und schleicht, will ihn ein stolzes Mädchen plagen,

Gelaßen fort, und ist er glücklich heut,

Sieht man ihn morgen schon die Flügel schlagen. –

Warum bin ich noch von der alten Zeit?

Quelle:
Heinrich Christian Boie. Beitrag zur Geschichte der deutschen Literatur im 18. Jahrhundert von Karl Weinhold, Halle 1868, S. 314-315.
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