14. Der Geißbube

[92] Ja! Ja! sagte jetzt eines Tags mein Vater: Der Bub wächst, wenn er nur nicht so ein Narr wäre, ein verzweifelter Lappe; auch gar kein Hirn. Sobald er an die Arbeit muß, weißt er nicht mehr was er thut. Aber von nun an muß er mir die Geissen hüten, so kann ich den Geißbub abschaffen. – Ach! sagte meine Mutter, so kommst du um Geissen und Bub. Nein! Nein! Er ist noch zu jung. – Was jung? sagte der Vater: Ich will es drauf wagen, er lernt's nie jünger; die Geissen werden ihn schon lehren; sie sind oft witziger als die Buben. Ich weiß sonst doch nichts mit ihm anzufangen.

[92] Mutter. Ach! was wird mir das für Sorg' und Kummer machen. Sinn' ihm auch nach! Einen so jungen Bub mit einem Fasel Geissen in den wilden einöden Kohlwald schicken, wo ihm weder Steg noch Weg bekannt sind, und's so gräßliche Töbler hat. Und wer weiß, was vor Thier sich dort aufhalten, und was vor schreckliches Wetter einfallen kann? Denk doch, eine ganze Stund weit! und bey Donner und Hagel, oder wenn sonst die Nacht einfällt, nie wissen, wo er ist. Das ist mein Tod, und Du mußt's verantworten.

Ich. Nein, nein, Mutter! Ich will schon Sorg haben, und kann ja drein schlagen wann ein Thier kommt, und vor'm Wetter untern Felsen kreuchen, und, wenn's nachtet, heimfahren; und die Geissen will ich, was gilt's, schon paschgen.

Vater. Hörst jetzt! Eine Woche mußt' mir erst mit dem Geißbub gehen. Dann gieb wohl Achtung wie er's macht; wie er die Geissen alle heißt, und ihnen lockt und pfeift; wo er durchfahrt, und wo sie die beßte Waid finden.

Ja, ja! sagt' ich, sprang hoch auf, und dacht': Im Kohlwald da bist du frey; da wird dir der Vater nicht immer pfeifen, und dich von einer Arbeit zur andern jagen. Ich gieng also etliche Tag mit unserm Beckle hin; so hieß der Bub; ein rauher, wilder, aber doch ehrlicher Bursche. Denkt doch! Er stuhnd eines Tags wegen einer Mordthat im Verdacht, da man eine alte Frau, welche wahrscheinlich über einen Felsen hinunterstürzte, auf der Creutzegg todt gefunden. Der Amtsdiener holte ihn aus dem Bett nach Lichtensteig. Man merkte[93] aber bald, daß er ganz unschuldig war, und er kam zu meiner grossen Freud noch denselben Abend wieder heim. – Nun trat ich mein neues Ehrenamt an. Der Vater wollte zwar den Beckle als Knecht behalten; aber die Arbeit war ihm zu streng, und er nahm im Frieden seinen Abschied. – Anfangs wollten mir die Geissen, deren ich bis 30. Stück hatte, kein gut thun; das machte mich wild, und ich versucht' es, ihnen mit Steinen und Prügeln den Meister zu zeigen; aber sie zeigten ihn mir; ich mußte also die glatten Wort' und das Streicheln und Schmeicheln zur Hand nehmen. Da thaten sie, was ich wollte. Auf die vorige Art hingegen verscheucht' ich sie so, daß ich oft nicht mehr wußte was anfangen, wenn sie alle ins Holz und Gesträuch liefen, und ich meist rundum keine einzige mehr erblicken konnte, halbe Tage herumlaufen, pfeifen und jolen, sie an den Galgen verwünschen, brülen und lamentiren mußte, bis ich sie wieder bey einander hatte.

Quelle:
Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Bd. 1–3, Band 1, Basel 1945, S. 92-94.
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