66. Zwey Jahre
(1766. u. 1767.)

[249] Ueberhaupt vertrödelte ich diese Sechzigerjahre, daß ich nicht recht sagen kann, wie? und so, daß sie meinem Gedächtniß weit entfernter sind, als die entferntesten Jugendjahre. Nur etwas Weniges also von meiner damaligen Herzens- und Gemüthslage. Schon mehrmals hab' ich bemerkt, wie ich in meiner Bubenhaut ein lustiger, leichtsinniger, kummer- und sorgenloser Junge war, der dann aber doch von Zeit zu Zeit manche gute Regungen zur Busse, und manche angenehme Empfindung, wenn er in der Besserung auch nur einen halben Fortschritt that, bey sich verspürte. Nun war die Zeit längst da, einmal mit Ernst ein ganz anderes Leben anzufangen. Gerade von meiner Verheurathung an wollt' ich mit nichts geringerm beginnen, als – der Welt völlig abzusagen, und das Fleisch mit allen seinen Gelüsten zu kreutzigen. Aber o ich einfältiger Mensch! Was es da für ein Gewirre und für Widersprüche in meinem Innwendigen absetzte. Vor meinem Ehstand bildete ich mir ein, wenn ich nur erst meine Frau und eigen Haus und Heimath hätte, würden alle andern Begierden und Leidenschaften, wie Schuppen, von meinem Herzen fallen. Aber, Potz Tausend! welch' eine Rebellion gab's nicht da. Lange Zeit wendete ich jeden Augenblick, den ich nur immer entbehren – aber eben bald auch manchen den ich nicht entbehren[249] konnte, auf's Lesen an; schnappte jedes Buch auf, das mir nur zu erhaschen stuhnd; hatte itzt wirklich 8. Foliobände von der Berlenburger-Bibel vollendet; nahm dann, wie es sich gebührt, eine scharfe Kinderzucht vor, gieng dann und wann in die Versammlung etlicher Heiligen und Frommen – und ward darüber, wie es mir itzt vorkömmt, ein unerträglicher, eher gottloser Mann, der alle andern Menschen um ihn her für bös, sich selber allein für gut hielt, und darum jene – kurz jedes Bein nach seiner Pfeife wollte tanzen lehren. Jede, auch noch so schuldlose Freude des Lebens machte mir Scrupel über Scrupel; ich wollte mir bald sogar die Befriedigung eigentlich unentbehrlicher Bedürfnisse des Lebens versagen; und doch steckte mein Busen noch voll schnöder Lust, und tausend abentheuerlicher Begierden, die ich so oft ertappte, als ich nur hineinzugucken Muths genug hatte – und dann freylich fast zur Verzweiflung gerieth, doch allemal von neuem wieder Posto faßte, und meine Sachen mit Beten, Lesen – und – o ich abscheulicher Kerl! – hauptsächlich damit wieder zu verbessern suchte, daß ich meiner Frau und Geschwisterten, wie ein Pfarrer, zusprach, und ihnen die Höll' bis zum Verspringen heiß machte. Oft fiel's mir gar ein, ich sollte, gleich den Herrnhutern und Inspirirten, in der weiten Welt herumziehn, und Buß' predigen. Wenn ich dann aber so nur einem meiner Brüder oder Schwestern eine Sermon hielt, und schon im Text stockte, dann dacht' ich wieder: Du Narr! Hast ja keine Gaben zu einem Apostel, und also auch keinen Beruf dazu. Dann fiel ich darauf, ich könnte[250] vielleicht besser mit der Feder zurechte kommen, und flugs entschloß ich mich ein Büchlin zum Trost und Heil wo nicht ganz Tockenburgs, wenigstens meiner Gemeinde zu schreiben, oder es zuletzt auch nur meiner Nachkommenschaft – statt des Erbguts zu hinterlassen.

Quelle:
Leben und Schriften Ulrich Bräkers, des Armen Mannes im Tockenburg. Bd. 1–3, Band 1, Basel 1945, S. 249-251.
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