Römer an Godwi

[50] Zwanzig Meilen bin ich gereiset, und nichts als meine Geldbörse hat gelebt, recht in den Tag hinein gelebt. Der Anfang meines Traums war ein großes Konzert und die allmächtige Stimme eines allmächtigen Weibes, und mein Erwachen ist die süße Stimme eines liebenswürdigen Mädchens, die mit ihren kleinen niedlichen Fingerchen auf einer Pariser Guitarre spielt. Sie ist einzig wie ihr Auge, in dem die Macht von zweien wohnt, denn sie hat nur ein Auge, aber ein Herz und einen Geist. – Du wirst sagen, mit dem Römer muß sonderbar gespielt worden sein, daß er so launig geworden ist; sieh noch einmal nach der Unterschrift, überzeuge dich. Ja, ich bin es; und wie das alles? Dein Vater hat mich vor vierzehn Tagen meiner Arbeit entlassen, und mir erlaubt, meine Geschäftsreise anzutreten. Meine Stelle ersetzt ein Fremder, ein Freund deines Vaters, den er die Woche vor meiner Abreise ins Haus brachte. Er hat, wie er mir sagt, schon einen Monat auf unserm Landhause gelebt, und ich kenne ihn nur als einen fleißigen, sanften Mann, der in seinem Alter von zweiunddreißig Jahren viel muß erfahren haben. Seine Züge sind durch Leiden verwischt; wenn er lächelt, so rührt er, und wenn er blickt, so sucht er. In Handlungsgeschäften hat er sehr viel Kenntnisse, was den Geist und den ganzen Umfang betrifft; doch muß er oft bei Kleinigkeiten sich sehr anstrengen und besinnen, um das Resultat zu finden. Er ist überhaupt eine von den zarten großen Seelen, die sehr viel verzeihen, und doch von sehr wenigen gekränkt werden können. Ich hätte ihn gern näher kennen gelernt, wenn es nicht schwer wäre, ihm in kurzer Zeit näherzukommen, weil seine Oberfläche, mit der man sich zuerst berühren muß, um sie[50] ans Herz zu drücken, zerrüttet ist. Es ist mir, als habe ihm das Schicksal die Hand gelähmt und so den Freundschaftsdruck ermordet. Er muß den Menschen, den er lieben soll, gleich umarmen können, sonst kommt er ihm nimmer nahe. Dein Vater ist innig mit ihm verbunden, denn er ist oft allein mit ihm in seinem Kabinette, in das noch keiner außer ihm gekommen ist, und dennoch zeigt er auch im Umgange mit deinem Vater, daß er nur noch die Tiefe des Lebens besitzt und das Nächste verlor. Er geht mit ihm um wie ein schüchterner Anbeter mit einem coquetten Weibe, wie der bigotte Katholik mit seiner Religion, er ist der unermüdliche, stumme, ängstliche Befolger aller Winke, die dein Vater giebt, oder die er sich von deinem Vater einbildet. Wenn er ruhig vor sich hinsieht, und ich wollte dir ihn schildern, so müßte ich dich auf die Anlage des Kolorits eines Bildes des tiefsten Schmerzes, den das Bewußtsein verläßt und die Ahndung des Wahnsinns bewohnt, verweisen.

Froh, deinen Vater in den Armen eines Freundes zurückzulassen, der ihn sehr beschäftigt, weil er bedarf, stieg ich in unsern freundlichen englischen Wagen, und dein Vater war so ungewöhnlich munter, daß er mir zurief: »Nehmen Sie sich in acht, mein lieber Römer! Sie sitzen mitten in der Caprise einer Huldin meiner Vorzeit, einer Furie meiner Gegenwart.« Ich grüßte ihn, fand ihn sonderbar und rollte in der Caprise recht bequem weiter. Pläne, dein Bild und das Bild einer Caprise meines zukünftgen Weibchens setzten sich zu meiner Seite und wurden meine unterhaltenden Gesellschafter. Die Epochen meiner Reise mit offnen Augen waren mein Wohlbehagen, als ich durch die reizenden Fassaden von D. fuhr, hinter denen schlechte Häuser stecken. Chodowiekis und Jurys Titelkupfer zu den Romanen des Feldpredigers, den spasmodischen Produkten des, Gott sei Dank! im Herrn selig entschlafenen Vaters der zwölf schlafenden Jungfrauen, fielen mir dabei ein; – weiter meine Langeweile bei der schlechten Geburtshülfe, die in H. den Musen geleistet wird, denn ihre Söhne sehn an diesem Orte fürchterlich aus; weiter die unermüdliche Polizei in –, die den Baum vor dem Walde nicht sieht, das heißt: den Sparren im Kopf, den Balken im Auge, vor dem Splitterwalde in den Augen der andern, und gern jeden zum Spitzbuben machte, um allen[51] ihren Häschern und Polizeiknechten Beschäftigung zu geben. Durch diese Stadt geht der Transito der gesunden Vernunft, von wackern Marktknechten zu Ballen geschnürt und den Beschauern der Landesaccise durchwühlt.

Ich konnte nirgends unterkommen als im Goldnen X. Nicht einmal eine Stube für mich allein konnte ich haben, und mußte, da ich zu Bette ging, das Gespräch zweier mit mir einquartierten Studenten hören. Der eine von H. kam sehr zerstört und traurig nach Hause, und schrieb seinen Kummer in das Freudendebet eines unglücklichen Frauenzimmers, deren Bilanz er heute gezogen und ein großes Deficit gefunden habe. Der andere, ein ziemlich trockner Geselle von J., wollte den Kummer gar in keine Rechnung gebracht wissen, und ärgerte den ersten durch seinen Trost, F. behaupte, alles läge im Capital-Conto des Ichs, fast bis zu Tränen. Ich reiste vor Tages-Anbruch ab, und konnte dennoch den hebräischen Morgengebeten der polnischen Juden nicht entgehen, sie verdarben mir den Gesang der Nachtigalllieder, die mir durch die Stadt nachhallten. Weiter schlief ich bis nach B., wo – nun, du kennst den Wert des Ortes schon – nach einem zweideutigen Aufenthalt der geträumte Teil meiner Reise anfing. Ich rollte durch die schönen breiten Straßen, ein kalter, toter Wind strich mir um jede Ecke entgegen, alles, was ich sah, waren Leute, die durch Gehorsam grade, und Leute, die durch Stolz krumm gehen gelernt hatten, Soldaten und Höflinge. Einige Flüche und das Schallen der Stockschläge der Kinder des Landes, die die Kreide aus ihren Hosen, den einzigen Überfluß in ihrer Existenz, zur Parade ihrer Arbeit und die Gastfreunde aus ihren Bettdecken, die ebenso sehr zu den zehrenden Capitalien als der fürstliche Stall gehören, zur Parade ihrer Ruhe ausklopften, unterbrachen mich in meiner Angst, die mich jeden Augenblick vor dem Zauberpalast deiner Calypso vorbeiführte. Jeder zierliche Nachttopf vor einem großen breiten Fenster machte mich vor ihrer Schlafstube zittern, jeder rotseidne Vorhang schien mir das erste Prinzip der Morgenröte ihres heutigen Tages, jedes Kammerzöfchen, das mit weißem Arme ein silbernes Waschbecken vom Fenster herausgoß, schien mir ihren Schlaf und ihre süßen Träume von dir zu vergießen. Ich stieg in einem Wirtshause ab, das am militairischen Übungsplatze[52] liegt, und sah, wie sich einige Landes-Junker ihres Lebens freuten, da sie ein Landeskind mit Spitzruten überzeugen konnten, daß es ihm ein leichtes sei, das verbotne Volkslied »Freut euch des Lebens« ebenso wenig zu singen und zu denken als sein Herz Anteil an dem Sinne des »Herr Gott, dich loben wir« bei der Geburt eines neuen Rutenpflanzers nehmen zu lassen.

Morgen werden alle Wasser in dem Lustgarten seiner Durchlaucht springen, weil sich ein neuer Segensstrom in der Geburt des zukünftigen Volksvaters über das Land ergossen hat, das Wasser in seinem Kopfe und die Tränen seiner Untertanen abgerechnet, welche sich in ihrer wechselseitigen Austrocknung wie die Pontinischen Sümpfe zum Schweiße der römischen Päbste verhalten. Doch sein Kopf und seine Untertanen gehören nicht zu jenen Fontainen1, die wie eine gewisse Fontaine Wasser und immer Wasser in tausend lang- und kurzwährenden und –weiligen Strahlen zur Freude großer Damen und ihrer Kinderstuben und einer Menge litterarischen Pöbels und seiner Spinnstuben ausspeiet. Sie haben ihre Stelle im Jammertal.

Den 22ten. Ich sitze mitten in einer wollenen Schäferei, die gewirkten Tapeten meiner Stube sind voll von Schafen und Schäferinnen, aus den Zeiten der arkadischen Schafzucht unsers Geschmacks, aus den Zeiten Geßners. Hinter meinem Bette ist eine hingewebt, die immer recht mit mir harmoniert, wenn ich einschlummernd das Ritardando, Decrescendo und Diminuendo meines heutigen Lebens ertönen lasse. Ihre lange langweilige Taille verträgt sich gar nicht mit unserm jetzigen kurzgebundnen Geschmack – la pointe de sa taille est encore au bas ventre et celle d'à présent se finit au cœur. – Da ich, wie du weißt, gewohnt bin, seit mehrern Jahren vor dem Schlafengehen Geßners Idyllen zu lesen, so sind mir diese Surrogate sehr willkommen, weil ich, obschon ich sehr auf pag. 5 der kleinen Taschenausgabe gespannt bin, sie vergessen habe, mitzunehmen. Doch so wie die Kriegskunst von jeher ein Feind und Zerstörer der hirtlichen Ruhe war, so verhindert seit zwei Abenden auch die lärmende Taille eines in der angrenzenden Stube an dem Pharotische eines Bürgers aus F., der seine Bierbank; zu einer Goldbank[53] exaltiert hat, spielenden Kriegers, den Einfluß der langen Taille der Schäferin. Dieser Krieger gäbe sein Herz gern zum Karten-Sinnbild hin, hätte seine ganze Kompagnie je an einem andern Flecke Herz gehabt als unter dem Ellnbogen, das heißt herzförmige Tuchflecken, damit sie ihre Montur und die Ellnbogen derselben drei Jahre lang durchbringen könne, denn diese Pursche sind alle wie Simson und haben die Eselskinnbacke stets in den Händen.

Es ist Zeit, daß ich in die Caprise steige und mich nach dem Lustschlosse fahren lasse, wohin heut alles lustwandelt, und ich mir die Leute ansehen will. Ich bin bei meiner jetzigen Freiheit ein ganz anderer Mensch geworden, und freue mich über die neuen Seiten, die ich an mir entdecke. Ich glaube fast, könnte ich mich nur so wenig über meine Sphäre erheben, daß ich die dummen Streiche von Individuen alle bemerkte, ich wäre fähig, einen satyrischen Almanach wie F. zu schreiben.

Hat der, welcher, in einförmigen Arbeiten eingeschlossen, aus langer Weile gerne moralisiert und guten Freunden gern mit gutem Rate an die Hand geht, wohl Anlage, in der Freiheit hie und da Bemerkungen zu machen, die unter die launigen und satyrischen gehören? Können die Umstände aus dem Kothurn eines vortrefflichen Iflandischen Hofrats wohl den Stiefel eines bissigen Katers erschaffen – mir geht es fast so, ich habe mir durch den einförmigen Gang meiner Geschäfte einen einförmigen, systematischen Gang meiner Ideen und Grundsätze erschaffen, die mich selbst am Ende mehr langweilten als Hermann Lange, wenn der seltene Zufall mir schneller die Bilder vor den Augen vorüberjagte, weil ich viel gesehen und so wenig bemerkt hatte, als Nikolai in seiner zwölfbändigen Reisebeschreibung; wenn man umgekehrt geärgert wird, so hat man wenig gesehen und so viel bemerkt, wie der Verfasser des Romans Godwi, und da kommen nun deine Briefe hinterdrein und sprechen von Kaufleuten und praktischen Menschen etc. – Doch die Caprise will fort, sie gefällt allen Leuten wohl, sie ist gewaschen und geputzt, und erregt allgemeinen Neid. Bis aufs Wiedersehn. Es geht mir bei dieser Fahrt wie einem Menschen, der immer witzelt, und deswegen manchmal treffen muß. Er ist zu Menschen von Stande zu Tische gebeten, und will nun[54] recht witzig sein, weiß aber noch gar nicht, ob er bemerkt werden wird, und es bangt ihm vor dem Ausfalle der Schlacht, da noch alles im tiefen Frieden liegt. Da bin ich wieder, und wie blaß, zerstört, ängstlich. Haben deine Bemerkungen nicht getroffen, armer Römer? O! ich wollte gern nicht bemerken, wenn die verdammte Caprise nicht wäre bemerkt worden. Ich kann dir nicht sagen, Karl, wie mir zu Mute ist, verliebt bin ich wahrlich nicht, hundert Menschen habe ich umgerennt, hundert Flegels habe ich erhalten, Xenien habe ich gemacht, Straßen bin ich durchlaufen, wer weiß, wie viele stille Liebende gestört, wie viele argwöhnische Alte erweckt, wie vielen Podagristen auf die Zehen getreten, und wie vielen Laufern zwischen die Beine gekommen. Da ich, um nach Hause zu kommen, über die Fulda setzen mußte, bekam ich fast Händel mit dem Schiffer, dem Übersetzer der kleinen italienischen Gondel, der gerade auch ein paar Damen mit schwarz und weißen Federn übersetzte. Merkur soll diesen Charon etwas verdorben haben.

Gott sei Dank, daß alles dies vorbei ist, ich habe dies alles von B. bis nach F. ausgeschlafen; aber doch ist es mir sonderbarer und wilder dabei zu Mute, als es dir sein mochte, als du mir deine sanftern Abenteuer an eben diesem Orte erzähltest. Ich saß also in der Caprise, und fuhr durch die Leute durch, die alle geputzt nach W. fuhren, ritten und gingen. Man zog vor meinem Wagen alle Augenblicke den Hut ab, und ich mußte diesem Gruß unaufhörlich antworten; man ist nun einmal hier gewöhnt, sich vor Caprisen zu beugen. Die Leute, die um meinen Wagen herum spazierten, hatten alle ihre fette Seite zu Tage gelegt, und suchten sich gegenseitig in der Beurteilung ihrer Glücksumstände zu übertölpeln. So sind nun die Menschen, statt ihre Tage der Ruhe und Erholung, wie Beckers Erholungen, zur Mitteilung ihrer Armut und langen Weile anzuwenden, so wenden sie sie an, um zu heucheln, und erliegen der Arbeit an ihrer Ruhe. Wie wenig brauchen doch diese Menschen, um glücklich zu scheinen, und der Schein in fremden Augen ist ihnen alles, weil sie zu ermüdet und zu geistlos sind, sich selbst zu genießen; sie kennen nur den Genuß im Neide des Nachbars, umgekehrt wie ermüdende und geistlose deutsche Produkte allein im Lobe des Nachbars leben. – Sonderbar, daß die Engländer[55] uns die guten Arbeiten ihrer Hände so teuer bezahlen lassen und die schlechten Arbeiten unserer Geister so teuer bezahlen – Wer ist der angeführte Teil?

Der ganze Schwarm mit seiner Stimmung war mir unerklärbar; so ist der Pöbel über die Krone auf dem Haupte und die Krone auf dem Castrum doloris gleich verwundert; so ißt man Brezeln beim Leichen- und beim Hochzeitsschmaus; so lacht und tanzt der Dummkopf mit dem lustigen Bruder und dem Patienten an der Chorea sancti Viti; so geht der Marseillaner Marsch vor den Scharen der bekannten Halsabschneider her, und ist in Deutschen gesellschaftlichen Zirkeln ein sehr beliebtes Gesellschaftslied. – Ich sitze in der Caprise, und kann nicht mitlächeln mit dem Lächeln des Schlafenden, dem ein Vampir Kühlung und Ruhe zufächelt, während er ihm das Blut aussaugt. Viel hübsche Gesichter hab ich gesehen, aber fast alle gehaltlos, am gehaltlosesten waren immer die, die im fürstlichen Gehalt standen, und am ausgezeichnetsten und schärfsten waren die gezeichnet, die pfennigweise ihren Unterhalt bettelten, und sie hatten doch ein Eigentum, das ihnen der Staat nicht nehmen konnte oder wollte, ihre Armut. Überhaupt ist jeder Sonntag und jeder Tag der Freude eine wahre Seelen-Masquerade; mit dem Sonntagsrocke zieht der Bürger auch seinen Sonntags-Charakter an, und nur der Arme wird nicht oder wenig verändert, weil er entweder kein Sonntagswams oder ein zerrissenes hat, so daß sein Werkeltags-Charakter entweder ganz erscheint oder durchsieht. Ich glaube, daß der Fürst daher ebenso wenig vom Glück des Volks aus seinem Jubeln auf Tanzböden und eine vernünftige Hostie, die im Hochamt emporgehalten wird, ebenso wenig von der Andacht der Christen überzeugt werden kann, als das Volk von der Huld und Güte seines Fürsten aus seinem Grüßen im Schauspiel-Haus, und seinem huldreichen Lächeln bei der offnen Tafel, und die betende Kirche von der Höhe und Heiligkeit ihres Gottes aus der Länge und Kürze der Arme des emporhebenden Priesters. Auf den Tanzböden wird durch Gläsergeklirre und Geigengequieke der Verdruß, der sich nur in der Ruhe über den Niveau unsers Inhalts verbreitet, niedergeschlagen, so wie in der Kirche die reine Tätigkeit, die nur in der Ruhe aus unsrer Tiefe emporwallet,[56] exaltiert wird, so wie der Fürst, wie der Götzendienst nie bei einer öffentlichen Ausstellung beurteilt werden können, wo alle Sedative der Sklaven- und Herrscherkunst in voller Arbeit sind.

Ich war angekommen und lief durch die Menge durch, und es ward mir nicht schwer, mich allein zu denken; denn wir sind nie mehr allein als bei einer Menge von Umständen, die ganz und gar verschieden von uns sind. In den Eindrücken der Anlagen liegt Pracht, Reiz, Rührung und Beruhigung abwechselnd, und der Fehler nach meiner Meinung liegt in der zu großen Ähnlichkeit dieser Eindrücke mit dem Augenblicke und seinen Freuden, die nur einen Augenblick brauchen, es nicht mehr zu sein. Jedes Einzelne ist nur Einzelnes, indem es das vergangene Einzelne verschluckt. Man kann hier nichts als dem Tode der Vergangenheit nachweinen, durch die Geburt der Gegenwart überrascht werden, und kommt man zu sich selbst, so ist ihr Leben höchstens noch das Nachundnach des Verschwindens. So ist auch hier durch die Zusammenstellung aller dieser Verschiedenheiten keine Gegenwart, man sieht nicht, man sieht nur nach und entgegen. Den schweigenden Geist der Musik, den mir ein marmorner Faun, der in der größten Vollkommenheit auf einem hohen Felsen zwischen Gebüschen ausgehauen ist, zu ahnden giebt, zerstört der Körper der Musik, der mir aus den Glöckchen am chinesischen Hause sinnlich entgegengaukelt. Der Reiz einer mediceischen Venus, dessen Zauberlicht durch die Schatten kosender Zweige hervorbricht erfüllt mich mit den Schauern der Kunst und der Natur. Die Lüge der Kunst ist so unausstehlich wahrscheinlich, daß die reizendste, seltenste Möglichkeit durch die Verführung der Unmöglichkeit mich in Begierden durchzittert; ich möchte mich in diese steinerne Flut stürzen, daß die Wogen des Genusses über mir zusammenschlügen, und kann doch nichts fühlen, nichts sehen als den Satyr meiner getäuschten Sinnlichkeit, der allmächtig meine Vernunft wie eine weinende zarte Nymphe davonschleppt. Lüstern folgen meine Blicke meiner Begierde, die trunken über die Wellenlinie der Grazie hintaumelt und an der gefährlichsten Stelle hinter dem Aste einer Zypresse entweicht: so hängt die Angst der Nachwehen um die Schläfe des[57] Genusses – O warum muß der Trank der Freude ein heller Trank sein, daß man bei dem kleinen Maße, das uns gereicht ist, immer den Boden sieht? Sollte man nicht, wie Diogenes, den Becher wegwerfen, und lieber aus seiner Hand trinken, die selbst vom Rausche zittert; nicht lieber den Rausch aus dem Becher trinken, der selbst berauscht ist, da wir nicht schwimmen können, um uns in der allgemeinen Masse zu erfreuen, deren Tiefe uns keinen Boden sehn läßt? Weg mit dir, Freudenstörer! schrie ich den Zypressenast an, und dies ist wahrlich das Zweckmäßigste, was ich in meinem Leben gesagt habe, sowie das Zweckmäßigste, wo nicht das Mäßigste, was ich in meinem Leben gelesen habe, die Worte sind: Weg mit dem dummen Halstuch, was soll das dumme Halstuch! Weg mit dir, Freudenstörer! Wer über dem Zählen der Falten auf der Stirne der Zukunft die Küsse der Gegenwart unzählig zu machen vergißt, der wird alt und blind, ehe er die Fülle seiner Jugend erblickte. Wer nicht nehmen will, weil er befürchtet, eine Lücke zu machen, der wird auch nie hingeben, um eine Wunde auszufüllen. Wohl dem, der in dem Leben durch seinen Genuß eine so tiefe Spur zurückläßt, als die Lücke ist, die er im Grabe ausfüllen muß. Der Zweig ist weg, eine Hütte steht vor mir, ich schreite träumend zu, trete hinein, und stehe unter einem halben Dutzend alter Männer, die sich sehr ernsthaft ansehen; ich entschuldige mich, ziehe den Hut ab, sie sperren die Mäuler auf und sprechen nicht – Husch, fliegt dem einen ein Vogel aus dem Munde; ich schaue auf und finde mich unter einem halben Dutzend hölzerner Philosophen der Vorzeit, die zur Dauer mit Ölfarbe angestrichen sind. Platon, der den Männern mit Baßstimmen die Gefühle der lebendigen Orgelpfeifen in Rom unterschieben wollte, hatte sich ein Sperling mit allen Freuden seines Ehebetts in den offnen Mund einquartiert. Nie habe ich einen stummern Lehrer gesehen, nie ist einem Lehrer Stoff der Selbstverleugnung und die Wahrheit so in den Mund gelegt worden. Meine verfolgte Begierde war mit dem Sperling davongeflogen, und ich nahm mir vor, mich hier keiner Laune mehr zu überlassen, weil das Ganze für Menschen erschaffen ist, die weder froh noch traurig, sondern amüsiert und zerstreut werden sollen. Ich setzte mich auf eine Bank an einer Einsiedelei, und sah die ungeheure[58] Menge von Menschen um mich her wandeln, die mich in die ödeste Einsamkeit versetzten, weil sie mich alle nichts angingen. Plötzlich geschahen einige Schüsse. »Es lebe der Fürst! es lebe Casimir, der Fürst!« hallte die ganze Wüste wieder, und strömte dem andern Ende des Gartens zu. Es war mir wie einem ehrlichen Muselmann zu Mute, der die Wüste Arabiens hinter sich hat, und der Moschee des großen Propheten schon entgegensieht. Ich ging ruhig den Pfad gegen die Moschee hinauf. Chinesische Brücken trugen mich über tosende Katarakte. Das ewige Stürzen, Wogen und Schäumen flieht und kömmt wie die unendliche Zeit. Ich hänge mitten darin, auf das schwache Geländer der Treppe gestützt, Tropfen spritzen mir in das Gesicht, und erwecken mich aus meinem dumpfen Dahinbrüten, ach! nur so wenige Tropfen, nur Tropfen mir! – Ich weiß nicht, was ich gefühlt habe, bis (mich) eine Gestalt, die durch die Säulengänge der prächtigen Moschee, wie die süße Trunkenheit der Andacht und der allmächtige Zauber des Traums einer Religion, hinwallte, mich durch ihre fast handgreifliche Wahrscheinlichkeit aus meinen sonderbaren Reflexionen über die schreckliche Zeit erweckte. Ich war bis unter die langen Arkaden gekommen, da ein leiser Fußtritt an dem gegenüberstehenden Gange neben mir vorüberhallte. Nie habe ich so viel Stolz aus Selbstgefühl, so viel Demut aus Mitgefühl in der gebildetsten Hoheit eines weiblichen Umrisses, in der heiligsten Tiefe einer weiblichen Fülle vereint gesehen. Die Moschee, der Turban der Dame, ihr Schleier versetzten mich in die Feerei des Auslands, schüchtern eilte ich ihr durch alle die zierlichen Irrgänge nach, oft sah ich eine reizende Falte ihres wallenden Gewandes um eine Säule herumschweben. Mitleidig bedauerte ich jede Falte ihres Gewandes, die an den Säulen des Tempels der Religion anstreifte, um einer Schwester Platz zu machen, die nun innig die Säulen des Tempels der Liebe umschloß. Ich scheute mich, meine Schritte zu verdoppeln, und sie schien mich zu vermeiden. Ich ging einen entgegengesetzten Weg, trat in die Moschee, und die Gottheit stand mitten in dem erhabenen einfachen Betehaus. Nie war ich verwirrter, ich habe nie mitten im Gebet eine Gottheit vor mir niederschweben sehen. Eine junge Nonne, deren heilige Jungfräulichkeit sich mit ihrer menschlichen Jungfräulichkeit verwirrt[59] hat, die die Pfeile im Busen des heiligen Sebastians nicht mehr von denen der Liebe trennen kann, kann nicht verlegner sein – ich dachte an dich und wünschte mir deine Kühnheit; hätte ich diese nicht entbehrt, so würde ich gar nicht an dich gedacht haben.

Ich grüßte das Weib aus sittlicher Lüge, und sah sie nicht an aus dem menschlichen Gefühl des Wagstücks der innigsten natürlichsten Vertraulichkeit mit ihr. Ich glühte und war frei, hingestoßen, mich in ihre Arme zu werfen; ich zitterte und war gefesselt, mit Gewalt zurückgehalten, an ihren Hals zu fallen. Wir drehten uns den Rücken. Ich sah an die Decke des Gewölbes, weil ich gen Himmel blickte, und las unter vielen Sprüchen, die mit goldnen Buchstaben an die Wände geschrieben waren: Hier sei keine Furcht als die Furcht des Herrn. Dies erfüllte mich mit einem unerwarteten Mut, ich drehte mich um, um die Dame an zureden, aber sie kam mir zuvor und bat mich mit vieler Anmut um mein Augenglas, um eine weiter entfernte Sentenz zu lesen. Ich gab es ihr zitternd, indem ich die äußerst gemeine Bemerkung machte: »So schöne Augen, und ein Augenglas!« Sie sah mich lächelnd an und sprach mit einer wehmütigen Stimme: »Die Tränen.« Ich schämte mich und hörte sie die Worte laut lesen: »Lege hier nicht dein Leiden, lege dein Handeln in die Waagschale«. Hier gab sie mir das Augenglas zurück, sah tiefgerührt zur Erde, und schien ganz von dem hohen Sinn der Wahrheit getroffen zu sein. Die Hände nachlässig zur Erde herabsenkend sah sie nieder, als suche sie ihre Handlungen und fände verlorne Freuden. Ach! ich wäre gern vor ihr niedergesunken, hätte ich nur die mindeste Hoffnung gehabt, zu ihren verlornen Freuden zu gehören. Ich seufzte etwas laut, das hohle Gewölbe ertönte und weckte sie auf. »Sie scheinen ein Fremder zu sein, mein Herr!« redete mich die Dame an. Ich bejahte die Frage. »Nun so können wir«, fuhr sie fort, »miteinander nach der Stelle gehen, wo die Wagen die Spaziergänger erwarten, ohne daß der eine in Gefahr ist, morgen zu hören, was der andere Böses von ihm gesprochen hat.« Ich konnte sie nicht begreifen und ihr nicht antworten; ich bot ihr meinen Arm, und wir verließen die Moschee schweigend. Ich wagte es, sie zu fragen, wie sie zu so einsamen Spaziergängen verführt[60] würde; auch hierauf erhielt ich eine eigne sonderbare Antwort. »Ich habe diese Frage schon so oft beantworten müssen,« erwiderte sie lächelnd, »daß es mir schwer wird, zu antworten, ohne mir den Vorwurf machen zu müssen, ich hätte die Antwort auswendig gelernt. Doch ich will es versuchen, mich mit der Vielseitigkeit meiner Sprachgewalt selbst zu übertreffen: es ist, weil ich nichts an der Welt zu fodern und ihr nichts zu geben habe. Man hat mir so viel genommen, daß man bei der Harmonie meines Daseins das zerstümmelt hat, was mir noch zugehört; mehr kann ich nicht sagen, und Sie werden so gütig sein, Ihre Neugierde zu unterdrücken und mir die Freude zu lassen, Ihre Frage befriedigend beantwortet und dennoch mich Ihnen nicht anvertraut zu haben.« »Madam!« erwiderte ich, »ein Mann, der an Ihrer Seite geht, müßte der undankbarste Mensch sein, wenn er noch einen andern Wunsch in seinem Busen hegen könnte als den, zu wissen, ob er Ihnen nicht mißfällt.« »Lassen Sie das, mein Herr!« erwiderte sie, »das sind Zierereien, die Sie nicht hierherbringen müssen, wohin ich den Zierereien des bürgerlichen Lebens entfloh. Wundern Sie sich nicht über alles, was ich von Ihnen fodern will; wenn Sie können, so freuen Sie sich darüber. Wir werden uns wohl nicht mehr sehen; lassen Sie uns das Stückchen Weg, das wir miteinander zu gehen haben, einstens zu den wenigen Minuten zählen können, die wir Menschen waren. Wie heißt du?« – »Karl; und du?« – »Molly.« Unsere Arme verschlangen sich. »Wo bist du her?« – »Aus B.« – »Aus B.«, sagte sie mit gedämpfter Stimme und ließ ihren Arm aus dem meinigen sinken. Der Ton ihres letzten Worts und das ganze sonderbare, allein dastehende Impromptu in meinem Leben benahm mir den Mut, weiterzusprechen. Schweigend, wie auf den Wink eines Geistes, der mich Schätze zu heben führt, ging ich mit ihr. Der Mond hatte sein Licht über die Gegend gegossen. Ich glaubte den Schritten Glyzerens auf den Pfaden des Lohns ins Elysium zu folgen. Fern hörte ich das Geräusch des Volks vor den Toren der Unterwelt. Bald huschte wie ein Geist der Schatten eines wankenden Wipfels durch die milde Verklärung der Gestalten, bald sahen kalt und weiß Marmorbilder durch den regellosen zitternden Umriß der Bäume, kleine Vögel schwirrten wie der Flügelschlag meines[61] ahndenen Genius um mich her. Anspruchslos wankte die kleine Gondel im Spiegel des Teichs, und das Glöckchen der Eremitage ertönte wehmütig in dem Wehen des Abendwindes, als wolle es meiner scheidenden Freiheit Lebewohl sagen. Neben mir schwebte stumm die Zauberin mit leisen Tritten, ihre Locken wallten glänzend und zügellos durch die himmlischen Lichter. Hieroglyphisch sprachen flatternd die Wellen ihres Graziengewandes zu meiner Seele, sie schwebte in den Schatten und Lichtern der Mondnacht, als habe jemand die Allmacht der Liebe unter die Sternbilder versetzt – und ich, ich war im Zustand eines hungrigen Dichters, der der Phantasie eines Genies nachläuft.

Die Abendlieder der Nachtigall verhallten mehr und mehr unter dem sich nähernden Geräusch der Menschen, und das freundliche Mondlicht ermattete bei dem Glanze des erleuchteten Schlosses und der mit Fackeln um die Wagen herlaufenden Bedienten; das Rufen der Kutscher, das Rollen der Wagen, das Pfeifen und Singen und Plappern der Menge weckte mich unsanft aus meinem Himmel. Umgekehrt, wie ich oft nach dem Geräusche eines Balls in meiner einsamen Stube weinte, ergriff mich hier ein Unmut, dessen ich mich jetzt freilich schäme. Alle die Leute, die fröhlich und munter durcheinanderströmten, hielt ich für gefühllose und tierische Menschen, und ich wäre gewiß aus mitleidiger Neugierde keine Salzsäule geworden, wenn Sodoms Feuerregen über sie herabgefallen wäre. Die Dame wurde von einem jungen Sansfaçon empfangen, der sie nach ihrem Wagen bringen wollte. Sie drückte mir die Hand und bat mich, wenn ich noch einige Tage in B. bliebe, sie doch zu besuchen. Ich beteuerte es, und stieg in meinen Wagen. Er war durch die herumgezogenen Vorhänge verdunkelt, ich setzte mich in die Ecke und fühlte nichts als den Händedruck der Dame; sehr beschäftigt, auch die kleinste ihrer Handlungen zu meinem Vorteil auszulegen, kam ich mehr tot als lebend in die Nähe von B. Das Trommeln in der Stadt erweckte mich, und eine Stimme erschallte in meinem Wagen: »Madam, lassen Sie mich doch bei meiner Mutter aussteigen.« Ich wurde wie vom Donner gerührt. »Wer sind Sie? Herr Jesus! ein Mann! ein Mann!« schrie die andere Stimme; »Kutscher, halt!« Die[62] Kutsche hielt, und die Sache kam zur Auflösung. Vor allen bat ich Mademoisell zu schweigen, damit der Lärm nicht eine Menge Menschen herbeilockte, und mir dann zu sagen, wie ich zu der sonderbaren Ehre ihrer Gesellschaft käme. Aber sie fing nur desto stärker an zu lärmen: »Was? wie ich hierherkomme? Wie kömmt Er hierher? Wo ist die Lady, wo ist sie? Dieb! Räuber!« – »So schweigen Sie doch!« sagte ich, »ich kenne keine Lady, und wie ich in meinen Wagen komme, brauche ich keinem Menschen zu sagen.« – »Aber, mein Herr, das ist ja Ihr Wagen nicht,« erwiderte sie, als sie bei dem Anblick meiner Person, beim Schein einer vorübergetragenen Fackel, etwas höflicher wurde; »es ist der Wagen der Lady Hodefield, die so gut war, mich in die Stadt mitnehmen zu wollen.« – »Meinen eignen Wagen muß ich besser kennen, als Sie der Lady ihren. Lärmen Sie nur nicht so, ich will Sie ebenso gern nach Hause bringen als die Lady. Es kann ja wohl sein, daß unsere Wagen einander sehr ähnlich sehen; damit Sie sich überzeugen, so lassen Sie uns den Kutscher fragen.« Der Kutscher war eben derselbe, der mich herausgebracht hatte, und bestätigte meine Behauptung. Meine Gesellschafterin aber war nicht zu beruhigen und stieg aus, weil sie mir nicht zu trauen schien. Sie weinte. Das arme Mädchen dauerte mich recht herzlich, ich bot ihr an, sie zu Fuße zu begleiten; sie sagte: »Nein, mein Herr! gute Nacht,« und weinte immer dabei, »das geht auch nicht, denn ich bin mehr, als Sie von mir zu denken scheinen, ich bin ein ehrliches Mädchen«, und verlor sich unter der Menge. Ich mochte nicht mehr einsteigen, und da wir nicht mehr weit von einem Gasthofe in der Vorstadt waren, hielt ich still, um ein kleines Abendbrot zu mir zu nehmen. Ich ließ meinen Wagen beleuchten, um mich völlig zu überzeugen, daß ich meinem Gaste nicht unrecht getan. Aber Himmel, das ist ja die Caprise nicht, auf der Tür steht ja kein M.H., sonst ganz dieselbe Gestalt. Der Wirt sagte mir, dies sei der Wagen der Lady Hodefield, die gleich hier in der Gegend ein Gartenhaus bewohne. Ich entschloß mich also, zu Fuße nach Hause zu gehen, und befahl dem Kutscher, nach dem Gartenhause hinzufahren und meinen Wagen wieder zurückzubringen.

Verdrüßlich, den Tag, an dem ich so transparent war, an[63] dem ich zum erstenmal, da ich in meinen Busen schaute, so fremde und warme Bilder sich bewegen sah, auf eine so prosaische Weise zu endigen, entschloß ich mich, in ein Konzert zu gehen, um zu sehen, ob die Harmonie meine süßen Schwärmereien wieder ins Leben rufen könnte. Dies Konzert, mein Lieber! war der Anfang meines Traums und des schlafenden Teils meiner Reise. Es sollte meine durch die Szene in dem Wagen erstarrten Gefühle wieder erwecken, und machte sie so wach, daß ich der Anstrengung unterlag, und nun wirklich geistig matt einschlief.

Ich eröffne die Türe; »st! st! st!« lispelte man mir entgegen; ich schleiche mich durch die Menge durch, allein ich konnte die Sängerin nicht sehen, die den Saal und die schlechte Begleitung der Instrumente mit dem Himmel ihrer Stimme durchgoß. Ich steckte mich in eine Ecke und tröstete mich mit dem Unglück der katholischen Kinder, die vor der Taufe sterben und die Last der Erbsünde noch nicht abgewaschen haben; sie müssen daher linkerhand neben der Vorhölle eine kleine Kinderstube beziehen, wo sie die Freuden der getauften Kinder zwar hören, aber nicht mit ansehen und genießen können. Ich hatte so ziemlich meinen Endzweck erreicht, meine Gefühle kamen wieder, so zart als sie uns an der Hand der Erinnerung zugeführt werden; sie haben dann das Überraschende, das Ungestüme nicht, das uns immer ihre ersten Küsse raubt, man kämpft nicht mit ihnen, sie kommen uns sanft und schüchtern entgegen, wie die Umarmungen eines züchtigen Mädchens, die uns die bürgerliche Ehe ihren von den Sitten aufgedrungenen Zierereien entrissen hat.

Die volle gediegene Stimme des Weibes entlief durch unendliche Wendungen meinem geizenden Ohre, wie meinem suchenden Blicke die hohe Gestalt der Türkin durch die Irrgänge der Moschee, dann tönte plötzlich ihre Stimme ernst und doch voll liebender Wärme durch den Saal; alles schwieg; auf der heitern Stirne manchen Greises las ich die Weisheit und in manchem nassen Blicke eines sanften Mädchens die warme tröstende Wahrheit der Sprüche im Tempel. Die Göttin stand in ihrem Werke, in ihrem Lied noch einmal vor mir. Hagestolze und Witzlinge fühlten ein Herz und konnten es nicht[64] finden, hier fand ich beschämt mich wieder. Mein Augenglas ist hundertfach in den Händen der umhergaffenden Stutzer, sie drehen es verwirrt zwischen den Fingern und flüstern mit halboffnem Munde: »Quelle volubilité de gosier!« und ich machte in der Moschee die schlechte Bemerkung: »So schöne Augen, und ein Augenglas!«

Ihre Stimme eilte noch einige Minuten mit leichtem Wechsel durch wehmütig belebte und sanft ersterbende Akkorde, und verschwand dann in dem allgemeinen Einstürmen einer unerträglichen Menge Instrumente; ich hörte noch einmal das Kutschengerassel, eine leichtfertige Pleyelsche Sinfonie beschloß das Konzert, ich sah in ihr den jungen Sansfaçon noch einmal, wir wurden noch einmal geschieden.

Meine Erwartung, die Sängerin zu sehen, war äußerst gespannt, ich dachte mir eine Gestalt wie die Türkin, als ich plötzlich den nämlichen Windbeutel neben mich hintreten sah, der die Dame in W. in den Wagen gehoben hatte. Ich hätte ihn gerne gefragt, wer die Sängerin sei, wenn ich diese Klasse Menschen nicht ebenso sehr haßte, als ich erschrecke, wenn ich eine Grazie schnell und viel essen, sich jucken oder kratzen sehe. »Madame vient«, flüsterte ihm ein anderer seinesgleichen zu, und er empfing ein Weib aus der Menge, die keine andere als meine Türkin war. Sie sah blaß und zerstört aus, und da sie an mir vorbeiging, durchfuhr sie wie ein Blitz jenes Nichtbemerken, das bei Weibern in Augenblicken, wenn sie sich ganz mit sich selbst schon beschäftigen und dieses Zurücktreten in sich selbst dennoch sehr merklich wird, ebenso sehr der Beweis des schärfsten Bemerkens als eine doppelte Verneinung eine Bejahung wird. Ich beneidete den jungen Herrn, der mit ihr sprach gar nicht, denn er erhielt auf seine Bitte, sie begleiten zu dürfen, die einfachste Verneinung, eine kaltes Nein. Ich konnte nicht mehr bleiben, und das Ausrufungszeichen, das der Stutzer an seinen verzweifelnden Abschied aus der Orthographie seines Tanzmeisters mit seinen Füßen sehr kühn anhängte, konnte mich nicht aufhalten, obschon es sich in meine Schritte, die, so wie die langen Gedankenstriche in den »Ruinen des Schwarzwaldes« den guten Einfällen des Verfassers und seiner Tendenz nachlaufen, die Dame verfolgten, verwickelt hatte. Auf der[65] Treppe erreichte ich sie und ihren Namen. Sie sagte mir ihn freundlich, damit ich sie besuchen könne, und hätte sie mir einen andern als Hodefield genannt, so würde ich ihn gewiß verhört haben, denn ihr Vortrag war so lieblich, daß er auf den Genuß des Inhalts gar nicht gierig machte. »Madam! so sind Sie wohl die Dame, deren Wagen ich aus Versehen genommen habe? Ich muß Sie wegen einer großen Ähnlichkeit um Vergebung bitten.« – »Sie sind aus B., der Wagen, in dem ich fuhr, ist der Ihrige?« fragte sie bestürzt. »Nein, es ist der Wagen des Banquier Godwi, in dessen Geschäfte ich reise.« – Es stieg ihr eine Röte in die Wangen, sie wurde verlegen und drückte mir die Hand. »O daß ich dies gestern nicht wußte!« sagte sie; »Sie können mich nicht sehen, bemühen Sie mich nicht umsonst, und wenn Sie einige Achtung für mich haben, so entfernen Sie sich, und trösten Sie sich mit dem Schwur, daß ich Ihnen ein großes Opfer gebracht habe, ein Opfer, das die Natur nur selten ohne Unnatur bringt.« Sie beschleunigte ihre Schritte, ich stand, auf die Treppe hingebannt, bis mich der Schwall der Menschen heruntertrug. Da ich auf die Straße kam, sah ich ihren Wagen wegrollen, in dem ich kurz vorher noch so ruhig saß und mich erkühnte, ihren Eindruck auf mich aus ihrer Coquetterie herzuleiten. Ich streckte die Arme in die Luft dem Wagen nach; ach! welchem sind alle seine Grundsätze auf vier Rädern so weggerollt. So streckt der Alchymist seine Arme dem Vermögen nach, das ihm durch den Rauchfang entwischt, und dennoch sieht er nach seinem Stein der Weisen zurück, und hofft, aber auch dieser ist zum Caput mortuum geworden. Ich rannte durch die Straßen und glaubte mich in einer Wüste, denn Lady Hodefield schien mir die ganze menschliche Gesellschaft. Ich spazierte durch die große Promenade, störte manche höchste Verindividualisierung, schaute nicht auf bei dem »Aufgeschaut!« der Sänftenträger, um die Unsanftheit ihrer Rippenstöße zu fühlen, die der Etymologie des Namens dieser Affenkasten gar nicht parallel liefen, rannte wie der Jalousieladen, erweckte die Eifersucht, störte manches langerwartete stille Rendezvous in der Abendstunde und kam so nach Haus, wie ich dir geschrieben habe. Ich kann nicht mehr bleiben, die wollenen Szenen aus Geßners Idyllen schienen mir unausstehlich langweilige[66] Tapeten, ich nahm Abschied von ihnen wie der zärtlichste, durch die Langeweile der Liebe unglücklichste Schäfer. Man bringt mir ein Billet, es enthält folgende Zeilen: »Wenn Sie an den jungen Godwi schreiben, so melden Sie ihm folgende Worte: Seine Standhaftigkeit würde bald durch die Erlaubnis, den bewußten Brief zu erbrechen, belohnt werden. Molly.«

Nun – du hast gesiegt, deine Molly und meine Engländerin, sind sie nicht beide, wie Phöbe und Proserpina, Hekate? Hier hast du das Billet, mich brennt es zwischen den Fingern und dir ist es ein Kleinod. Ich stieg in meinen Wagen und war also auch ein Träumer in B. geworden. Verbrenne meinen ersten Brief, ohne den dieser nicht eine Sünde gegen meinen so sehr angepriesenen Charakter wäre. Ich kann die Handlung nicht aufheben, um jene Predigt zu erretten, und könnte ich es, so würde ich es doch nicht tun, denn die Sünde, durch die ich zur Selbsterkenntnis gekommen bin, ist mir lieb.

Dieser ganze Brief besteht aus einzelnen Bruchstücken, die ich nach und während der Geschichte in B. für dich niedergeschrieben habe. Die liebliche Stimme, die mich aus dem Traume weckte, die mich wie ein Sirenengesang aus meinem trüben Leben in mir selbst in das fremde Element des hiesigen leichten Lebens rief, ist die Stimme der geistreichen, witzigen Mademoiselle Budlar. Ich hänge mich an die bunte Reihe ihrer Anbeter, wie oft ein kleines beinernes Totenköpfchen das Ende der Aves und Paternoster im Rosenkranze macht. Ave und Vale.

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 2, München [1963–1968], S. 50-67.
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