Werdo Senne an Lady Hodefield

[67] Madam! ich schreibe Ihnen im Namen Eusebios, der krank geworden ist und mit Sehnsucht nach Ihnen verlangt. Er sitzt auf seinem Stühlchen, das er sich aus Weiden selbst geflochten hat, und weint sehr heftig; er bat mich, Ihnen zu schreiben, und an das Ende des Briefs will er einige Zeilen von sich anhängen, die er mir in die Feder sagen will. Jetzt ist er ruhig und denkt nach, was er Ihnen alles zu sagen hat. Ich bin froh, daß dies ein Mittel ist, ihn etwas zu zerstreuen; ich werde es noch oft anwenden, er lernt dadurch seine Gedanken ordnen, und tröstet[67] sich, wenn es anders möglich ist, daß bei der Schnelligkeit des Wechsels in allen seinen Freuden und Beschäftigungen dies ihm lange unterhaltend sein könnte. Ich kann ihm wenig Hülfe geben. Meine Otilie allein hat durch Erzählung von Märchen, die sich in ihrer zarten Phantasie entwickeln, und durch ihre Lieder das Mittel gefunden, seine mit außerordentlicher Wärme auflebende Einbildungskraft zu beschäftigen. Der Arme dauert mich sehr, er scheint ein mächtiger Beweis für die Glut der Empfindung der Unseligen zu werden, die ihr Dasein der Glut der Empfindung ihrer Eltern verdanken.

Überhaupt, Madam! haben Sie mir keinen Dank für die Bildung Ihres Lieblings. Nur meiner Otilie gehört er. Und sollte ich ein Verdienst um ihn haben, so ist es mittelbar, so ist es dadurch, daß Otilie so gut durch mich und die Natur ist. Ich liebe dieses Mädchen unendlich, sie ist eine holde Blume, die sich aus den Trümmern meines Lebens emporwindet. Sie ist eine liebliche Sprache der Versöhnung, die aus meinem Grabe zu den Menschen, die mich erdrückt haben, spricht: Ich verzeihe und liebe euch. O! ich freue mich dieses freundlichen Nachhalls meines Lebens. Ich habe zuviel gelitten, und hänge noch viel zu innig an meinen Tränen, den einzigen, die mir treu blieben, als daß ich mehr als selten zum Bildner taugte. Unter meinen Händen können sich nur in jammervollen Zügen die still und traurig wandelnden Gestalten meines Lebens entfalten. Ich wage nichts mehr. – Einen einzigen Weg habe ich Eusebion geführt, den Weg meines Trostes und meiner Dankbarkeit, den Weg zur Natur und zu Ihnen, edles Weib. Ich habe ihn schweigend beten gelehrt, aber sein Dank ist laut, wie der meinige schweigend, weil für das Gefühl meines Dankes die Worte eines Greises zu leise sind. – Eusebio ist gut und wird tätig werden, ich habe manche Stunde seiner horchenden Seele meine Wahrheiten hingereicht, die nur, welche ihm so nahe lagen, wie die Natur den Greis an das Kind gestellt hat. Einigemal sprang er heftig auf, stürzte in meine Arme und weinte zitternd. Otilie fragte ihn neulich bei einem ähnlichen Falle, was ihn so bewege. Er erwiderte: »Bei euch kann ich nicht bleiben; du Vater bist gut, und du Otilie, ach wie gut bist du! bringst du den Armen das Brot nicht entgegen, und batst du nicht für[68] meinen Freund das Reh, als es der böse Jost totschießen wollte? Euch beiden kann ich nichts helfen, ich will zu den andern armen Menschen, von denen der Vater mir sagt, daß sie nicht gut seien, die will ich lieben, so lieben, so freundlich mit ihnen sprechen, daß sie alle werden müssen, wie ihr seid. Ach! und meine Mutter, meine Mutter, die große freundliche Frau, will ich sehen – wie sie meiner denken wird, und wenn sie mich sieht, dann wird sie erst meiner gedenken.«

Madam, ich hoffe Sie bald zu sehen, denn ich werde nicht lange mehr hier wandeln; was soll ein Toter hier im Leben? Meine Augen können das Licht der Sonne nicht mehr ertragen. Der West erstarret meine Glieder, und das Lied meiner Harfe hallt nicht mehr so laut aus den Gewölben meiner Wohnung, und ich leide zu viel, um Otilien mitleiden zu sehen. Meine Hülle vermag die Glut meines Herzens nicht mehr zu umfassen, ich werde bald ein Aschenhaufen in mich selbst zusammensinken.


Weste säuseln; silbern wallen

Locken um den Scheitel mir.

Meiner Harfe Töne hallen

Sanfter durch die Felsen hier.

Aus der ewgen Ferne winken

Tröstend mir die Sterne zu.

Meine müden Augen sinken

Hin zur Erde, suchen Ruh.


Bald, ach bald wird beßres Leben

Dieses müde Herz erfreun,

Und der Seele banges Streben

Ewig dann gestillet sein.

Schwarzer Grabesschatten dringet

Um den Tränenblick empor,

Aus des Todes Asche ringet

Schönre Hoffnung sich hervor.


Meines Kindes Klage hallet

Durchs Gewölbe dumpf und hohl,

Idolmios Zunge lallet

Jammernd mir das Lebewohl

Zu der lang ersehnten Reise.

Senkt mich in der Toten Reihn.[69]

Klaget nicht, denn sanft und leise

Wird des Müden Schlummer sein.


Und du Gute nimmst die Beiden

Mütterlich in deinen Arm,

Linderst meiner Tochter Leiden,

Lächelst weg des Knaben Harm.

Aus des Äthers lichter Ferne

Blickt dann Trost der Geist euch zu.

Es umarmen sich zwei Sterne

Und ihr Kuß giebt allen Ruh.


Schwermut glänzt des Mondes Helle

In mein tränenloses Aug,

Schatten schweben durch die Zelle,

Seufzer lispeln, Geisterhauch

Rauschet bang durch meine Saiten,

Horchend heb ich nun die Hand,

Und es pochen, Trost im Leiden,

Totenuhren in der Wand.


Sie werden meine Tochter lieben, und werden bald ein glückliches Weib sein. Es ahndet mir eine große, große Freude. Dürfte ich ihn wählen, den süßen Tropfen, in dessen Rausche ich das große Maß meines Kummers vergessen möchte, so wäre es das Bild der Versöhnung durch Reue und der Erkenntnis gegenseitigen Werts, so wäre es meine Seligkeit, das Kind meiner Marie in einem edlen Manne zu sehen. Der ist kein edler Mensch, der sich nicht freut der Liebe im Arme seines Nebenbuhlers, und der ist ein niedriger Mensch, der sich nicht freut des Werts der Kinder, deren Vater er hätte sein können. Wir beide waren die Betrognen, wir beide werden verzeihen können, und ich werde fröhlich sterben, vor Freude werde ich sterben; der einzige Plan meines Lebens, der mir gelingen sollte, sollte der meines Todes sein. Sonderbar steht dieser ungeheure Gedanke vor mir. Ach! alle meine Tränen sind geweint. Wo soll ich Tränen der Freude hernehmen? Ich werde in die Nacht meines Grabes sinken über dem Tage, der an seinem Rande aufgehen wird.

Sonderbar ist das Gewebe meines Lebens gewesen, ein Geheimnis[70] liegt über ihm, keine Staaten-Verhältnisse, keine sogenannten Wichtigkeiten, Menschenliebe und Duldung haben ihm das Siegel eiserner Verschwiegenheit aufgedrückt. Und das alles wird sich um uns drehen, diese Freudensphäre wird auf meinem Grabe stehen wie der Fuß des Regenbogens, unter dem in meinem Vaterlande ein freundlicher Aberglaube Schätze wähnt. Trösten Sie sich, edles Weib, Sie werden hier und ich dort belohnt sein. Ich breche ab, ein Fremder tritt herein, es ist mir leid um die Zeilen, die Eusebio Ihnen schreiben wollte.

Werdo Senne

Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 2, München [1963–1968], S. 67-71.
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