Violettens Denkmal

[298] Die vier Reliefs des Würfels und die Apotheose


Erstes Relief


Ein kleines Mädchen sitzet in der Mitte,

Die Arme schalkhaft über sich gerungen,

Hält sie ein junger Faun mit Lust umschlungen,

Sie sträubt sich ihm, der ihr mit wilder Sitte


Ein Tambourin mit Früchten reicht, die Bitte

Ist in des Mädchens Kuß ihm schon gelungen,

Doch nur die milde Frucht hat sie bezwungen,

Daß sie von ihm den wilden Kuß erlitte.


Denn von ihr abgewandt, die jungen Schmerzen

In Tönen lösend, singt ihr Genius,

Die Rechte in der Lyra, was im Herzen


Die Linke fühlt, es neiget von dem Kuß

Sich ihm des Mädchens Aug, voll schlauen Scherzen,

Sie hört sein Lied, doch sieget der Genuß.


Zweites Relief


Die Jungfrau steht, vor ihr ein Weib und zwinget

Die Freie, sich dem Gürtel zu bequemen;

Ihr, die sich schämt, der Nacktheit sich zu schämen,

Des Genius Arm die Füße hold umschlinget.


Indes dem Weib die Gürtung schon gelinget,

Scheint Neugier nur die Jungfrau zu bezähmen,

Sie sieht den Schwan vom Genius Speise nehmen,

Und hebt das Tambourin, das dumpf erklinget,


Hoch mit der Rechten, und mit scheuem Beben

Forscht ihre Linke, was im Spielwerk rauschet,

Und fühlet zarte Flügel kleiner Tauben;[298]


Der Faun, der über ihr auf Felsen lauschet,

Beugt sich herab, die Tauben hinzugeben,

So konnte Lust ihr nur die Wildheit rauben.


Drittes Relief


Im Himmel irrt ihr Blick, und an der Erde

Ringt sie in wilder Blöße hingegeben.

In Lust ersterbend, voll von heißem Leben,

Übt sie, gereizt, so reizende Gebärde.


Auf daß ihm währe, was sie sich gewährte,

Legt schlau der Faun ihr, der in Lustgeweben

Nun gürtellos die freudgen Hüften schweben,

Den Gürtel um das Aug, wie Lust ihn lehrte.


In süßem Schmerz will sie die Arme ringen,

Und schlägt das Tambourin in wilden Lüsten,

Die Tauben buhlen auf den holden Brüsten,


Es bebt der Schwan in seines Todes Singen,

Es bricht in seines Liedes Lieb und Leiden

Der Genius der Lyra goldne Saiten.


Viertes Relief


Der Genius hält siegend sie umwunden,

Aus seiner Lippen liebevollen Hauchen

Trinkt Lieben sie, im Strahle seiner Augen

Trinkt sie den Tod in lusterschloßne Wunden.


Sie stirbt im Licht; die Binde losgebunden,

Muß sie in ewge Blindheit untertauchen,

Da ihre Küsse heilges Leben saugen,

Im Wahnsinn muß der Sinne Wahn gesunden.


Das Haupt verhüllt in loser Locken Fluten,

Streckt sie die Hand, die Lyra zu erlangen,

Die hoch erhebt, der Schwan reckt seine Schwingen,[299]


Das Tambourin, in dem die Tauben ruhten,

Zertritt sein Fuß, den Faun sieht man gefangen

In jenem Gürtel an der Erde ringen.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 2, München [1963–1968], S. 298-300.
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