Rosa's Herkunft und Erziehung.

[35] An den rebenumgürteten Gestaden des gewaltigen Rheinstromes, dieses uralten Zeugen deutscher Redlichkeit, zwischen Venedig und Hamburg, lebte in einem unbedeutenden Städtchen ein Cantor mit Weib und Kindern, der sich vom Ertrage seines Amtes und einiger Unterrichtsstunden im Singen und Clavierspielen lange Zeit fast kümmerlich nährte.

Dieser Mann hatte in seiner Jugend Gelegenheit, mit einem römischen Prälaten ganz Italien zu durchreisen, und in den berühmtesten Städten längere Zeit zu verweilen. Dort entwickelten sich seine großen Talente für Musik und Gesang, und die Gönnerschaft jenes vornehmen Geistlichen verhalf ihm zur unentgeldlichen Ausbildung durch die größten Meister der damaligen Zeit.

Die unwiderstehliche Sehnsucht nach seinem Vaterlande führte ihn nach Deutschland zurück.

Vergebens hatte man ihm in verschiedenen Städten Italiens sehr einträgliche und ehrenvolle Posten angeboten; er zog es vor, lieber auf deutschem Grund und Boden einem ungewissen Schicksale entgegen zu gehen, wie es denn eine ausgemachte Sache ist, daß nicht leicht ein Volk so sehr an der väterlichen Scholle klebe, als das deutsche, obgleich es eben so richtig ist, daß in keinem Lande der Eingeborene verhältnißmäßig so wenig gelte, als gerade in[36] Deutschland, das lange genug die eigenen Zeisige darben ließ, um aufdringliche Kuckucke des Auslandes zu füttern.

Das alte Sprichwort vom Propheten, der in seinem Vaterlande nicht geachtet werde, bewährte sich auch bald nach der Heimkehr des jungen Mannes in seiner Vaterstadt.

Wagner, – so hieß er junge Mann, – betrat seine Geburtsstadt mit der festen Ueberzeugung, daß ihm die Cantorstelle gar nicht entgehen könne, da er seiner großen Ueberlegenheit in allen Anforderungen dieses Amtes sich sehr wohl bewußt war.

Der alte Cantor lag auf dem Siechbette, und ein junger Mensch, der sich um die Hand seiner Tochter beworben hatte, vertrat seine Stelle, ohne den mitwirkende Musikfreunden des Städtchens und der ganzen Gemeinde entsprechen zu können. Allein am Sitze der Regierung lebte ein leiblicher Bruder des alten Cantors, der durch Geldvorschüsse sich verschiedene einflußreiche Personen verbindlich zu machen wußte, und daher kam es, daß die löbliche Regierung zu verfügen beliebte: der junge Mensch sollte des alten Cantors Stellvertreter, und nach dessen Tode der Nachfolger und zugleich Eidam des Verlebten werden.

Vergebens stellte Wagner unterthänigst vor, daß er ein Landeskind und in diesem Städtchen geboren sey, während der Andere dem Auslande angehöre; vergebens berief er sich auf höhere Kenntnisse, und bat um eine parteilose[37] Prüfung durch Sachverständige, oder wenigstens um die Erlaubniß, seine Fertigkeit im Orgelspiele zeigen zu dürfen, wär's auch nur ein einziges Mal; die Entschließung lautete: »daß man es bei der bereits getroffenen Fürsorge bewenden, jedoch bei einer andern schicklichen Gelegenheit auf die unterthänigste Bitte des Wagner nach Zeit und Umständen den möglichsten Bedacht nehmen lassen wolle.«

Mit schmerzlichen Thränen des gekränkten Selbstgefühles las Wagner diese Abwesung in einer verborgenen Ecke des Bürgermeisterhauses, wo er sie geholt hatte, als er die Frau Bürgermeisterin plötzlich jämmerlich wehklagen hörte.

Schreiber und Mägde flogen sogleich als dienstbare Geister herbei, auch zwei Rathsherren mit ihrem Ehegemahle, die eben eine vorbereitende vertrauliche Unterredung gepflogen hatten, um sich nach der Ursache des Hülferufens der Frau Bürgermeisterin zu erkundigen.

Joli, das Schooßhündchen der gebietenden Frau Bürgermeisterin, lag in Zuckungen auf dem Boden, verdrehte die Aeuglein, und streckte seine vier Füßchen wie Hasenläufe von sich.

Niemand wußte zu helfen, und den beiden Rathsherrn fiel, wie fast immer, kein guter Rath ein.

Zum Glücke ging eben der Thierarzt auf der Straße vorüber, der sogleich als Retter in der Noth in das Haus des Jammers gerufen wurde. Dieser aber schüttelte bedenklich[38] den Kopf und äußerte, »daß hier keine Hülfe mehr zu hoffen, vielmehr das leidende Hündchen je eher je lieber aus der Welt zu schaffen sey, da dieser Zustand sehr leicht in die Hundswuth übergehen könne.«

Er entfernte sich mit der Zusicherung, sogleich den Wasenmeister zu senden.

Bei diesem Todesurtheil fiel die Frau Bürgermeisterin dem eben eintretenden Wagner ohnmächtig in die Arme, der sie sanft auf ein nahestehendes Ruhebett legte, und zur Kur des Hündchens schritt, die er in mancherlei Art von Geistlichen in Italien erlernt hatte, welche sich oft mit einer Menge solcher Lieblinge zu umgeben pflegen.

Sogleich goß er einen großen Krug Wasser über den vierfüßigen Patienten, wodurch er bald wieder auf die Füße kam, und vollendete noch an demselben Morgen durch den Gebrauch einiger Hausmittel die Heilung.

Die Frau Bürgermeisterin fiel ihm aus Dankbarkeit um den Hals, nannte ihn ihren Lebensretter, und bat ihn um eine Veranlassung, ihm ihre unbegrenzte Ergebenheit beweisen zu können.

Wagner machte sie mit seiner vereitelten Hoffnung bekannt, ohne zu wissen, daß sie die Haupttriebfeder der erwähnten Regierungsentschließung gewesen war.

Allein die Wonne über die Rettung des Liebchens änderte gänzlich ihre frühern Ansichten in dieser Sache; sie schob jedoch alle Schuld auf ihren Mann, dem sie wegen[39] Verkennung und Hintansetzung eines jungen Mannes von so ausgezeichneten Talenten derb den Text zu lesen gelobte.

Wagner benützte diese glückliche Stimmung, und bat sie um ihre allvermögende Fürsprache bei ihrem Herrn Gemahle, daß er sich häuslich niederlassen, und mit Riekchen, einer armen Gärtnerstochter, die er schon seit vielen Jahren liebte, vermählen dürfe, indem er durch Privatunterricht in der Musik und im Singen, so wie durch Notenschreiben seinen Nahrungsstand hinlänglich zu begründen hoffe.

Sie versprach ihm nicht nur, diese Erlaubniß zu erwirken, sondern auch für den ersten Zugang von Unterrichtszöglingen zu sorgen, und ihm zur Aufmunterung anderer Eltern ihre eigenen drei Kinder anzuvertrauen.

Wer war froher als Wagner, der sogleich seinem lieben Riekchen die erfreuliche Nachricht brachte, daß ein sterbendes Hündchen, Namens Jali, der Gründer ihres Lebensglückes sey!

In vier Wochen waren sie Mann und Frau.

Anfangs hing freilich, wie man zu sagen pflegt, der Himmel voller Geigen; denn das neuvermählte Pärchen war genügsam, und konnte es auch seyn, weil es wenige Bedürfnisse hatte. Riekchens Vater ließ einen kleinen Anbau an sein Häuschen machen, wo dann der Schwiegersohn und die Tochter in bester Eintracht lebten; Wagners Eltern waren schon vor seiner Reise nach Italien gestorben.[40]

So verflossen vier Jahre; schon umgaukelten drei Kinder den noch so jungen Vater, der nun oft bis tief in die Nacht hinein den Schreibtisch nicht verlassen durfte, um nur den nöthigsten Unterhalt für seine Lieben zu gewinnen.

Meistens saß dann Riekchen an ihres Mannes Seite, und spann oder strickte, oder beschäftigte sich auf eine andere Art, bis ihr vor Müdigkeit das schöne Köpfchen auf den Mutterbusen sank. Dann mußte Wagner noch gar oft bitten, und ihr die Sorge für ihre Gesundheit als eine heilige Familienpflicht darstellen, bis er sie bewog, sich schlafen zu legen.

Als aber der alte Gärtner starb, und die Gläubiger Häuschen und Garten mitleidlos an sich zogen, mußten Wagner, seine Frau und Kinder, und die alte, erwerbsunfähige Mutter Riekchens, die kleine Besitzung mit Thränen in den Augen verlassen, und eine andere Wohnung miethen.

Der Erlös aus dem Verkaufe der Gartenfrüchte wurde gar bald schmerzlich vermißt, dagegen der Miethzins nur mit der größten Anstrengung errungen, die zuletzt den armen Wagner auf das Krankenbett warf.

Das häusliche Elend stieg nun von Tag zu Tag; die Zöglinge blieben aus, nahmen auch zum Theil bei dem neuen Cantor Unterricht, weil ihre Eltern sich bei den hohen Gönnern desselben in Gunst setzen wollten. Die milden Spenden der Frau Bürgermeisterin, welche sich Anfangs[41] des kranken dürftigen Wagner erbarmte, kamen immer seltener, und blieben endlich ganz aus.

Am Vorabende des heiligen Christtages, da ein wildes Schneegestöber an die kleinen Fenster der armseligen Wohnung schlug, in welcher kein Fünkchen Feuer die eisige Kälte milderte, fragten die lieben Kleinen unaufhörlich: »ob denn das Christkindlein heute gar nichts bringen werde?«

Riekchens Thränen fielen in ihren Schooß, während sie die Kinder entkleidete, und jedes mit einem Stückchen Brod in das Bett brachte, damit sie nicht frieren sollten. Die Mutter schlief schon; Wagner seufzte, und sprach: »Zürne mir nicht, liebes Weib! ob der Armuth, die du jetzt mit mir theilen mußt; mit Gottes Hülfe wird es schon besser gehen, wenn ich wieder gesund bin, und seine Huld wird deine Thränen trocknen!«

Nun konnte Riekchen den innern Schmerz nicht mehr beherrschen; laut schluchzend sank sie an seine Brust, mit den Worten: »Dir und den Kindern gelten meine Thränen, nicht mir!«

»Hörst Du nichts?« fragte nach einer Pause tiefer Rührung Wagner; »war mir's doch, als habe ein Reiter an der Thüre gehalten! Richtig, jetzt sprengt er wieder fort. Sieh doch, Riekchen, wer es war!«

Riekchen öffnete die Hausthüre und fand vor derselben einen Korb, den sie sogleich verwundert auf das Bett des kranken Mannes stellte, und öffnete.[42]

Mitten unter spitzenverbrämten Windeln lag in eine kostbare Pelzdecke gehüllt ein wunderschönes Kindlein, ein Mädchen, das lächelnd die Augen zu Riekchen aufschlug.

Man kann sich das Erstaunen der beiden Leutchen denken, als sie den kleinen unerwarteten Gast in ihrer dürftigen Behausung erblickten.

Bei dem Durchsuchen d. Korbes fand sich ein parfümirtes Briefchen mit der Aufschrift:


An Herrn Wagner,

Musik- und Gesanglehrer in M**


»Mein Herr!


Sie sind mir als ein wackerer Mann empfohlen, der mit einer braven Frau und guten Kindern, selbst in der Dürftigkeit ein glückliches Leben führt. Ihrer Erziehung vertraue ich meine Rosa an, von der ich durch Verhältnisse mich trennen muß. Die beiliegende Summe wird hinreichend seyn, für die nächsten Bedürfnisse des Kindes zu sorgen; monatlich empfangen Sie drei Louisd'or, bis die Zeit der hohen Ausbildung heranrückt, wornach die Vergütung mit der Mühe steigen wird. Sollte das Kind Talent zur Musik besitzen, so werden Sie es zu einer Sängerin bilden. Vielleicht erhalten Sie Jahre lang keinen Brief mehr von mir, eine Folge besonderer Umstände, doch für[43] die richtige Bezahlung ist bereits Sorge getragen. Uebrigens zähle ich ganz auf Ihre Verschwiegenheit.


P.G.«


Die Summe, wovon der Brief sprach, war jedoch nicht zu finden, wie denn weder eine Münze, ein goldenes Kreuz, noch sonst etwas von edlen Metallen auf den Stand des Kindes schließen ließ, während andererseits die feine Bekleidung mit den auserlesensten Spitzen keine gemeine Abkunft bezeichnete. Wagner und seine Frau waren bald einig, den Findling zu behalten, obgleich er in ihrer gegenwärtigen mißlichen Lage eine neue Bürde auflud.

Riekchen gesellte ihrem eigenen Säugling noch die kleine Rosa bei, und ließ sie an ihrem schwanenweißen Busen sich erwärmen.

Der Morgen kam. Feierliches Glockengeläute rief die Gläubigen zur Kirche Riekchen wollte eben aus dem Hause zum Bürgermeister gehen, um dieses Ereigniß anzuzeigen, als der Briefträger, in diesem Augenblicke ein Bote des Himmels, ein Päckchen Geld überbrachte. Der Musikalienhändler zu R** schickte die Schreibgebühren für gelieferte Notenabschriften und ein nicht unbedeutendes Honorar für die vom Wagner herausgegebene neue Klavierschule mit der Meldung, daß ein Kammerdiener des Fürsten nach der häuslichen Lage des Verfassers im Namen Seiner Durchlaucht sich erkundigt, und höchst dessen Zufriedenheit mit dem Werke ausgedrückt habe.[44]

Nun kehrte Frohsinn in die Herzen der Bekümmerten zurück und trug viel zu Wagners baldiger Wiedergenesung bei. Allein es verging ein Monat nach dem andern, und das versprochene Monatgeld für die kleine Rosa kam nicht an. Sie liebten die Kleine nun schon wie ihr eigenes Kind, und machten auf eine Bezahlung gar keine Rechnung mehr.

Unvermuthet kam der Fürst in den Spätstunden eines herbstlichen Sonnabends in M** an, da er eben in der Gegend jagte, stieg im Posthause ab, und ließ sich Wagners Wohnung von ferne weisen.

Unerkannt sprach er mit diesem, und gab sich für einen Musikliebhaber aus der Hauptstadt aus, der zum Vergnügen eine Ferienreise mache und die Gelegenheit seines Uebernachtens im Städtchen benützen wollte, die persönliche Bekanntschaft eines so vorzüglichen Klavierlehrers anzuknüpfen.

Die unerkünstelte Artigkeit der beiden Leutchen, das gesunde, muntere Aussehen der Kinder und die große Reinlichkeit in der dürftigen Wohnung gefielen dem Fürsten.

Wagner hatte noch einen Vorrath von hundert Exemplaren der von ihm herausgegebenen Klavierschule, welche er als einen Theil des Honorars veräußern durfte. Der Fürst bestellte sie, mit dem Bemerken, daß er seinen Bedienten schicken werde, sie zu holen, und zugleich eine solche Menge von Notenabschriften, daß Wagner auf ein[45] volles Jahr beschäftigt wurde. Die bestellten Exemplare bezahlte er sogleich in Dukaten.

Zufällig trug Riekchen die kleine Rosa durch das Zimmer.

Kaum erblickte sie der Fürst, als seine Miene hohes Erstaunen verrieth. Von der geheimnißvollen Ankunft dieses Kindes in Wagners Hause unterrichtet, erklärte derselbe, die Verpflichtung der unbekannten Eltern selbst übernehmen zu wollen, und zu gleich seine Beistimmung zur Ausbildung der kleinen Rosa für den Gesang, im Falle sie hiezu Talente besitzen würde, mit dem Versprechen, nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt die treffende Summe für die verflossene Zeit sogleich zu übersenden.

Wagner und seine Frau wußten nicht, ob sie wachten oder träumten, so sehr hatte die Freude über diesen plötzlichen Glückswechsel sie ergriffen; denn nun waren sie nicht nur gegen Mangel geschützt, sondern selbst in einer Wohlhabenheit, die längst schon ihr genügsamer Sinn als das höchste Ziel ihrer Wünsche ersehnte. Sie versicherten den Fremden ihres innigsten Dankes, als er nach einer vollen Stunde von ihnen schied.

Noch an demselben Abende brachte der Rathhausdiener einen schriftlichen Auftrag des Herrn Bürgermeisters, folgenden Inhalts:


»Auf ausdrücklichen höchsten Befehl Seiner Durchlaucht des Fürsten, welcher heute die Stadt mit Seiner Anwesenheit[46] zu beglücken gnädigst geruhte, wird dem hiesigen Musiklehrer Wagner hiemit aufgetragen, morgen bei dem Hochamte, dem Seine Durchlaucht beiwohnen werden, auf der Orgel zu spielen; wornach sich derselbe zu achten hat.«


Der Bürgermeister.


Das Räthsel des fremden Besuchs war nun gelöset; von der großen Ehre desselben fühlten sich Wagner und Riekchen freudig durchdrungen, und nur des Fürsten auffallende Theilnahme an Rosa's Geschicke blieb ihnen vorläufig unerklärbar, obgleich sie geneigt waren, zu vermuthen, daß er vielleicht selbst der Vater dieses Kindes seyn könne.

Diese Vermuthung stützte sich jedoch auf keine Thatsache; denn der Fürst, ein hübscher Mann von fünf und vierzig Jahren, lebte mit seiner Gemahlin in der glücklichsten Ehe, so daß selbst die alten Hofdamen nicht einen Schatten ehelicher Untreue zu erspähen vermochten, so viele Mühe sie sich auch gaben, und bekanntlich haben hierin diese alten gelben Pergamenteinbände aus Amors Ehestandsbibliothek eine um so größere Gewandtheit, je öfter sie selbst in ihrer Jugend von Liebhabern verbotener Lektüre aufgeschlagen wurden. –

Der Fürst widmete sich mit ganzer Seele den Regierungsgeschäften, deren regelmäßige Besorgung ihm die heiligste Pflicht eines Regenten schien. Die Erziehung seines Erbprinzen, eines Knaben von acht Jahren, und der Erbprinzessin,[47] eines liebenswürdigen Wesens von drei Jahren, lag ihm zunächst am Herzen. An manchen Höfen hält man die Erziehung eines Prinzen in diesem Alter für eine sehr einfache Aufgabe, welche durch die Erlernung der französischen Sprache und durch einen oberflächlichen, wissenschaftlichen Unterricht gelöset werde; unser Fürst verband jedoch mit diesem Worte einen weit umfassenderen Begriff, und glaubte, daß die Erziehung ein weiteres Feld, und auch die fortschreitende Ausbildung aller geistigen Kräfte in sich begreife, welche durch keine Volljährigkeit, und überhaupt durch keine Zahl von Ihren begränzt werde, und daß ein muthmaßlicher Regierungsnachfolger sich glücklich preisen müsse, den wohlgemeinten weisen Rath eines liebevollen Vaters so lange als möglich benützen zu können. Nach diesen Ansichten war der Erziehungsplan berechnet. Musik und Jagd füllten des Fürsten Mußestunden aus; oft dirigirte er selbst sein Kammerorchester, wenn ein Kabinetsconcert vor einer kleinen, aber auserlesenen Gesellschaft gegeben wurde.

Die Jagd durfte seine Unterthanen weder quälen noch beschädigen. Jeder Schaden, der ungeachtet der größten Vorsicht zugeführt wurde, mußte auf der Stelle vergütet werden.

Der Fürst war nicht nur gerecht ohne Ansehen der Person, sondern auch billig; daher kam es, daß er nicht bloß wohlerworbene Rechte, sondern selbst bestehende Verhältnisse nicht verletzte; wenn sie, ohne aus Unfug entstanden[48] zu seyn, oder dahin auszuarten, auf die Schonung der Huld vertrauten.

Dafür belohnte ihn auch die allgemeine, herzliche Liebe seines ganzen Volkes, die sich mehr in stillen Segnungen als in Adressenphrasen und Klinggedichten zu erkennen gab.

Wagner wurde dem Fürsten vom Bürgermeister vor dem Hochamte vorgestellt, und von Seiner Durchlaucht mit dem größten Wohlwollen aufgenommen.

An diesem Morgen feierte der lang verkannte und so ungerecht zurückgesetzte Wagner über alle seine Neider und Feinde den entschiedensten Triumph der Kunst durch sein herrliches Orgelspiel. Der Fürst verwendete, vom Oratorium aus, keinen Augenblick die Augen von der Emporkirche, und versicherte seine Umgebung, daß er selbst auf seinen weiten Reisen nie einen so trefflichen Organisten gehört habe, und daß es ihm sehr auffallend sey, unter den Vorschlägen zur Besetzung erledigter Cantorsstellen niemals Wagners Namen gelesen zu haben.

Nach dem Hochamte überhäufte der Fürst denselben mit Lobsprüchen in Gegenwart aller obrigkeitlichen Vorstände des Städtchens, und versprach, indem er in den Wagen stieg, unverzüglich für ihn zu sorgen.

Die Hauptstadt lag nur vier Poststunden von dem Städtchen entfernt; am andern Morgen hielt schon ein Kammerreiter Seiner Durchlaucht vor Wagners Wohnung,[49] und überbrachte ihm ein in den gnädigsten Ausdrücken verfaßtes Patent als erster Hoforganist an der Residenzkirche mit einem lebenslänglichen, anständigen Gehalte.

Nun war sein Glück gemacht. Er bezog bald darauf eine freie Wohnung in der fürstlichen Residenz, und gründete dort eine Singschule, aus welcher im Laufe der Jahre unsere Rosa als eine der ersten Sängerinnen ihres Jahrhunderts hervorging. Sie galt immer für Wagners Tochter, und war ein Wunder von Schönheit und Herzensgüte.

Da die Periode des Wechselns der Stimme glücklich vorüberging, hielt es Wagner für nöthig, zur Vollendung der Kunstausbildung sie in die Heimath des Gesanges, nach Italien, zu senden.

Der Fürst billigte diesen Vorschlag, und Rosa reisete mit ihren Pflegeältern, reichlich mit Geld versehen, nach Mailand, wo noch der berühmte Kapellmeister lebte, dessen Zögling einst Wagner gewesen war. In diesem Hause, unter der mütterlichen Aufsicht seiner tugendhaften Gattin, blieb Rosa nach einem schmerzlichen Abschiede von Wagner und Riekchen, die an den Hof zurückkehrten. Nach drei Monaten eines sorgfältigen Unterrichts trat Rosa als Rosine im Barbier von Sevilla von Rossini auf dem großen Theater von Mai land auf.

Diese Oper wurde damals in Mailand gerade zum[50] erstenmale gegeben, und Rosa wirkte durch Gestalt, Stimme und Spiel solche Wunder, daß die Oper neun und dreißigmal nach einander bei verdoppelten Eintrittspreisen und gedrängt vollem Hause zur Darstellung kam. Rossini, welcher in den ersten drei Abenden selbst das Orchester dirigirte, war so außer sich vor Entzücken, daß er einmal bald den Takt verloren hätte; er war es, der sie damals zuerst als die Muse des Gesanges begrüßte.

Um meine Leser nicht mit einer ausführlichen Aufzählung von Rosa's glänzenden Siegen auf dem Felde der Kunst zu ermüden, muß ich mir erlauben, sie auf das Büchlein: »Rosa's Triumphe,« hinzuweisen, worin sie die befriedigendste Darstellung finden werden.

Hätte es jene zahllosen Sonette geregnet, die auf sie gedichtet, geschrieben und gedruckt wurden, so würden wohl die Flüsse Tessino und Adda, zwischen welchen Mailand auf einer schönen Ebene liegt, aus ihren Ufern getreten seyn. Man muß die Wahnsinnsstufe italienischer Begeisterung für die Gesangeskunst kennen, um einen solchen Vergleich wenigstens nicht für eine lächerliche Uebertreibung zu halten. In kurzer Zeit trafen von den Hauptstädten von Europa die lockendsten Einladungen zu Gastrollen, oder zu lebenslänglichen Anstellungen unter den vortheilhaftesten Bedingungen ein, die man ihr gänzlich freistellte. Der Ruf ihres Ruhmes war bereits in alle Länder gedrungen.[51]

In Begleitung einer alten Schwester des Kapellmeisters, die ihr als Duenna oder Keuschheitswächterin beigegeben war, ging Rosa zuerst nach Neapel, wiederholte dort die Triumphe von Mailand, und schlug die Hand eines Herzogs aus, »um nicht,« wie sie in der schriftlichen Rückäußerung sagte, »nach den Flitterwochen in das Conservatorio in Mailand zurückkehren zu müssen.«

Sie verstand unter dem Conservatorio eine dort bestehende milde Stiftung für unglücklich verheirathete Frauen, eine Anstalt, deren Nachahmung wohl in allen Ländern eben so nothwendig als nützlich wäre.

Von Neapel ging Rosa nach Paris, wo die lästige Duenna schon in der ersten Woche ihrer Ankunft daselbst, in Folge eines Entzündungsfiebers, die ewige Reise antrat.

Die Verlassene, von Prinzen vom Geblüte und von den ersten Reichsmarschällen, so wie von Millionären aus dem Bürgerstande umschwärmt, wählte sich bald eine freundlichere Umgebung, dieselbe, womit wir sie in die Hauptstadt des Fürsten zurückkehren sahen, nachdem sie noch London, wo der König sie an der Hand zur Tafel führte, und Berlin und Wien besucht, und mit den Wundern ihrer Kunst und Reize bezaubert hatte.

Ihre Abentheuer in diesen vier Städten, mit einigen Zugaben aus Mailand und Neapel, Madrid und Lissabon, hoffe ich im Gange der Erzählung meinen verehrlichen[52] Lesern und schönen Leserinnen noch ausführlich mittheilen zu können, wobei ich auch das Büchlein: »Rosa's Gardinenseufzer,« benützen werde, jedoch ohne die boshaften Verläumdungen, von welchen es strotzet, im mindesten zu berücksichtigen.

Indem ich dieser langen aber nothwendigen Abschweifung wegen demüthig um Verzeihung bitte, schwing' ich mich wieder auf den Pegasus, und treibe das feurige Flügelroß zur Eile, um unsere schöne Rosa noch vor den Thoren der Hauptstadt einzuholen, die zum festlichen Empfange der großen Sängerin in voller Bewegung war.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Bruckbräu: Mittheilungen aus den geheimen Memoiren einer deutschen Sängerin. Zwei Theile, Band 1, Stuttgart 1829, S. 35-53.
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