Zweites Kapitel.

[58] Erzählt das, was man darin finden wird.


Mitternacht war's nun gerade, etwas auf oder ab, als Don Quixote und Sancho den Hügel verließen und in Toboso hineinzogen. Das Dorf war in Schweigen und Stille begraben; denn alle seine Einwohner schliefen und ruhten mit ausgestreckten Beinen, wie man zu sagen pflegt. Die Nacht war dämmernd, obgleich Sancho wünschte, daß sie ganz dunkel sein möchte, um in der Dunkelheit eine Entschuldigung seiner Unwissenheit zu finden. Man hörte im ganzen Orte nichts als das Bellen der Hunde, die Don Quixote die Ohren betäubten und dem Sancho das Herz erschütterten. Von Zeit zu Zeit brüllte ein Esel, grunzten Schweine, miauten Katzen, welche verschiedenartige Stimmen und Töne in der Einsamkeit der Nacht doppelt laut erklangen. Alles dieses hielt der verliebte Ritter für eine üble Vorbedeutung; aber dennoch sagte er zu Sancho: »Sohn Sancho, führe uns zum Palaste der Dulcinea, vielleicht finden wir sie noch wach.«

»Nach welchem Palast, du himmlischer Vater, soll ich denn führen«, antwortete Sancho, »da das, worin ich Ihre Hoheit gesehen habe, nur ein ganz kleines Häuschen gewesen ist?«

»Sie muß sich also damals«, antwortete Don Quixote, »in irgendeine kleine Abteilung ihrer Burg zurückgezogen haben, um sich für sich mit ihren Jungfrauen zu ergötzen, wie es Sitte und Gebrauch bei erhabenen Damen und Prinzessinnen ist.«[59]

»Gnädiger Herr«, sagte Sancho, »wenn Ihr denn durchaus, mir zum Possen, haben wollt, daß das Haus der Dame Dulcinea eine Burg sei, ist es denn jetzt wohl eine Zeit, das Tor offen zu finden? Und ist es wohl gut, zu pochen und zu lärmen, damit sie uns hören und aufmachen, und wir so das ganze Schloß in Verwirrung und Aufruhr bringen? Sind wir denn etwa unterwegs, um an das Haus unserer Kebsweiber anzuklopfen, wie es die liederlichen Burschen machen, die kommen und klopfen und hineingehen zu jeder Zeit und Stunde, wenn es auch noch so spät ist?«

»Wir wollen nur erst allgemach die Burg finden«, versetzte Don Quixote, »und dann sollst du, Sancho, erfahren, was zu tun möglich sei. Aber höre, Sancho, entweder kann ich gar nicht sehen, oder jene große und finstere Masse, welche ich von hier entdecke, muß von dem Palaste der Dulcinea herrühren.«

»Nun, so führt nur an«, antwortete Sancho, »es kann wohl so sein; aber wenn ich es auch mit Augen sehe und mit Händen greife, so werde ich es doch immer ebensowenig glauben, als ich glaube, daß es jetzt Tag ist.«

Don Quixote ritt voran, und als er zweihundert Schritt gemacht hatte, stieß er auf die Masse, welche die Finsternis verursacht hatte. Er sah nämlich einen großen Turm vor sich, und sogleich merkte er, daß dieses Gebäude keine Burg, sondern die Hauptkirche des Ortes sei, und sprach: »Wir sind auf die Kirche geraten, Sancho.«

»Das seh ich«, antwortete Sancho, »und gebe Gott, daß wir hier nur nicht in unser Grab geraten: denn es ist kein gutes Ding, zu solcher Zeit auf Kirchhöfen umzutreiben, und da ich überdies, wenn ich mich recht erinnere, Euer Gnaden gesagt habe, daß das Haus dieser Dame in einem kleinen Gäßchen steht, das in einem Sacke endigt.«

»Du von Gott verfluchter Dummkopf!« rief Don Quixote; »wo hast du dergleichen schon angetroffen, daß Burgen und königliche Paläste in Gäßchen auferbaut werden, die in einem Sacke endigen?«

»Gnädiger Herr«, antwortete Sancho, »ländlich, sittlich; vielleicht ist es in Toboso gebräuchlich, die Paläste und großen Gebäude in Gäßchen aufzuerbauen. Darum bitte ich Euch, laßt mich nur in diesen Gassen oder Gäßchen, auf die ich stoßen mag, herumsuchen, so kann es wohl kommen, daß ich in irgendeinem Winkel diese Burg finde, von der ich wünsche, daß sie die Hunde fressen möchten, weil wir so nach ihr herumlaufen und die Kreuz und die Quere spüren müssen.«

»Sprich mit Achtung, Sancho, von den Dingen meiner Gebieterin«, sagte Don Quixote; »wir wollen die Festtage in Ruhe feiern und nicht Malz und Hopfen zumal verderben.«

»Ich will gebührlich sein«, antwortete Sancho; »aber soll mir denn da nicht die Geduld ausreißen, wenn Ihr verlangt, daß ich von einem einzigen Male, da ich das Haus unserer Herrin gesehen habe, ich es zu jeder Zeit und in der Mitternacht wiederfinden soll, da Ihr es doch nicht finden könnt, der Ihr sie doch viele tausendmal gesehen haben müßt.«

»Du wirst mich zur Verzweiflung bringen, Sancho«, sagte Don Quixote. »Hör zu, du Ketzer, hab ich dir denn nicht zu tausend Malen gesagt, daß ich in meinem Leben nicht die unvergleichliche Dulcinea gesehen und niemals die Schwelle ihres Palastes betreten habe, sondern daß ich mich bloß durch Hörensagen verliebte und durch den großen Ruhm ihrer Schönheit und ihres Verstandes?«

»Jetzt hör ich es«, antwortete Sancho, »und ich sage nun, daß, da Ihr sie niemals gesehen habt, mir es ebensowenig begegnet ist.«

»Dieses ist nicht möglich«, versetzte Don Quixote; »denn zum wenigsten hast du mir ja gesagt, du habest sie sehen Getreide fegen, als du mir die Antwort auf den Brief brachtest, den ich durch dich übersandte.«

»Haltet Euch daran nicht, gnädiger Herr«, antwortete Sancho; »denn Ihr müßt wissen, daß das Sehen[60] damals und die Antwort, die ich brachte, auch nur von Hörensagen war; denn ich weiß nicht besser, wer die Dame Dulcinea ist, als ich hier in den Himmel klettern könnte.«

»Sancho, Sancho«, antwortete Don Quixote, »es hat seine Zeit, zu spaßen, es hat aber auch seine Zeit, wenn ein Spaß übel aufgenommen wird. Weil ich sage, ich habe die Gebieterin meiner Seele niemals gesehen und gesprochen, bist du noch nicht berechtigt, ebenfalls zu sagen, du habest sie nie gesprochen und gesehen, da es doch so durchaus anders ist, wie du selber weißt.«

Indem sie noch in diesem Gespräche begriffen waren, sahen sie, daß einer mit zwei Maultieren auf sie zukam; aus dem Geräusch, welches der Pflug machte, der auf dem Boden nachschleifte, schlossen sie, daß es ein Bauer sein müsse, der sehr früh vor Tage an seine Arbeit gehe, und so war es auch in der Tat. Der Bauer kam herbei und sang die Romanze:


Übel traft ihr es, Franzosen,

In dem wilden Roncesvalles.


»Ich will sterben, Sancho«, sagte Don Quixote, als er dies hörte, »wenn es uns diese Nacht glücklich geht. Hörst du nicht, was der Landmann dort singt?«

»Ich höre es«, antwortete Sancho; »aber was hat mit unsrem Vorhaben die Jagd von Roncesvalles zu tun? Er könnte ebensogut die Romanze von Calaynos singen, und es wäre dasselbe für uns, um uns Gutes oder Schlimmes zu bedeuten.«

Indem war der Bauer näher gekommen, welchen Don Quixote fragte: »Könnt Ihr mir, guter Freund, dem Gott alles Glück verleihen wolle, nicht sagen, wo hierherum die Paläste der unvergleichlichen Prinzessin Dulcinea von Toboso stehen?«

»Mein Herr«, antwortete der Knecht, »ich bin hier fremd und nur seit wenigen Tagen in diesem Orte, wo mich ein reicher Bauer für die Feldarbeit gemietet hat. In dem Hause gegenüber wohnen der Pfarrer und der Küster, beide oder jeder von ihnen wird Euch von dieser Frau Prinzessin Nachricht geben können, denn sie haben die Liste von allen Einwohnern in Toboso, ob ich gleich nicht glauben kann, daß hier eine Prinzessin wohnen sollte. Viele ansehnliche Damen gibt es wohl hier, und jede kann leicht in ihrem Hause eine Prinzessin vorstellen.«

»Unter diesen«, sagte Don Quixote, »muß sich also, mein Freund, auch diejenige befinden, nach welcher ich gefragt habe.«

»Das kann wohl sein«, antwortete der Knecht, »und Gott befohlen, denn der Morgen kömmt schon herauf.« Hiermit trieb er seine Maultiere an und wartete keine weitere Fragen ab.

Sancho, der seinen Herrn verwirrt und ziemlich unzufrieden sah, sagte zu ihm: »Gnädiger Herr, der Tag wird nun bald anbrechen, und es wäre nicht ratsam, wenn uns die Sonne noch hier auf der Gasse fände. Es wäre besser, wenn wir uns aus der Stadt entfernten und Ihr Euch in eine nah gelegene Wildnis verbärget; dann wollte ich am Tage zurückgehen und Schritt vor Schritt im ganzen Orte nachfragen, bis ich das Haus, die Burg oder den Palast meiner Gebieterin gefunden hätte. Es müßte ja ein erstaunliches Unglück sein, wenn ich ihn nicht finden sollte! Darauf will ich dann mit der Gnädigen sprechen und ihr sagen, wo und wie Ihr auf ihre Befehle wartet, um Anstalt zu treffen, daß Ihr sie ohne Nachteil ihrer Ehre und ihres Namens sehen mögt.«

»Du hast da, Sancho«, sagte Don Quixote, »in einem Umfange von wenigen Worten tausend vortreffliche Sachen gesprochen. Den Rat, den du mir jetzt gegeben hast, empfange und nehme ich mit der größten Bereitwilligkeit an. Komm, mein Sohn, damit wir einen Ort aufsuchen, wo ich mich verbergen[61] möge; du sollst dann, wie du vorgeschlagen hast, zurückgehen, um meine Dame zu suchen, sie zu sehen und mit ihr zu sprechen, von deren Verstande und Höflichkeit ich mehr als wundervolle Gunstbezeugungen erwarte.«

Sancho war wie besessen, seinen Herrn aus dem Dorfe zu bringen, damit nicht seine Lüge wegen der Antwort herauskomme, die er ihm von seiten der Dulcinea in das Schwarze Gebirge gebracht hatte. Deswegen beschleunigte er den Auszug, der alsbald vor sich ging. Zwei Meilen vom Orte fanden sie eine Wildnis oder ein Gebüsch, wo Don Quixote sich die Zeit über verbarg, als Sancho nach der Stadt zurückging, um mit der Dulcinea zu sprechen; auf welcher Gesandtschaft sich Dinge zutrugen, die neue Aufmerksamkeit und neuen Glauben verdienen.

Quelle:
Cervantes Saavedra, Miguel de: Leben und Taten des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha. Berlin 1966, Band 2, S. 58-62.
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