III. Das Drama.

[73] War mein Traum von Glück und Seligkeit lebhaft gewesen, so war er auch von kurzer Dauer, und das schmerzliche Erwachen daraus erwartete mich bereits bei der Grotte des Einsiedlers. Als wir dort gegen die Mittagszeit wieder ankamen, war ich überrascht, daß uns Atala nicht sogleich entgegeneilte. Ein plötzlicher Schauder ergriff mich, und indem wir der Grotte näher kamen, hatt' ich nicht den Muth, die Tochter des Lopez beim Namen zu rufen: denn meine erhitzte Phantasie fürchtete sich nicht minder vor der Antwort, wie vor dem Stillschweigen, das auf meinen Ruf erfolgen würde. Noch mehr erschreckte mich das ungewöhnliche Dunkel, das da an der Eingangsthür des Felsens herrschte, und ich sprach zu dem Missionär: O du, mit dem eine höhere Macht ist, und ihm Kraft und Muth giebt, tritt du in diese Finsterniß![73]

Wie schwach ist doch der Sterbliche, den die Leidenschaften beherrschen, und wie stark Derjenige, der da auf Gott vertraut! Dieser fromme, von sechs und siebenzig Wintern gebeugte Greis besaß mehr Muth, als ich mit all meinem lodernden Jünglingsfeuer.

Der Mann des Friedens trat denn still in die Grotte, und ich wartete indessen voll Angst am Eingange. Bald drangen einzelne schwache Klagetöne aus dem Innern des Felsens an mein Ohr. Ich stieß einen lauten Schrei aus, nahm all meine Kraft zusammen, und stürzte in die Nacht der Höhle hinein ... Ihr Geister meiner Väter! Nur ihr wißt es, welches Schauspiel sich meinen Blicken jetzt darbot!

Der Einsiedler hatte eine Fichtenfackel angezündet, und hielt sie mit zitternder Hand über Atalas Lager hin. Blaß, und mit wirr ins Gesicht hereinhängendem Haar saß die schöne, liebliche Gestalt da, den Kopf auf die Hand gestützt. Kalte Schweißtropfen glänzten auf ihrer Stirne; ihr halberloschener Blick drückte mir noch ihre Liebesglut aus, und schmerzlich lächelte sie mir noch zu. – Wie vom Blitz gerührt, die Augen starr auf sie gerichtet, mit ausgebreiteten Armen und halb offenen Mundes stand ich da, unfähig, ein Glied meines Körpers zu regen. Tiefes Schweigen herrschte einen Augenblick unter den drei Personen dieser Schmerzensscene; der Einsiedler unterbrach es zuerst: Es wird wohl, sagte er zu Atala, nichts weiter als ein schnell vorübergehendes Fieber sein, eine Folge der Strapazen eures Marsches; und wenn wir uns nur in Demuth Gott dem Herrn ergeben, so wird er ja Erbarmen mit uns haben.

Bei diesen Worten strömte das stockende Blut aufs neue meinem Herzen zu, und mit der sanguinischen Gemüthsart der Wilden ging ich vom Uebermaß der Furcht sogleich wieder zur fröhlichsten Zuversicht über. Atala ließ mich jedoch nicht lange darin. Traurig schüttelte sie ihr Haupt und winkte uns näher zu ihrem Lager hin.

Mein guter Vater, sagte sie mit schwacher Stimme, indem sie sich an den Priester wandte, ich bin dem Tode nahe. O Schakta, so vernimm denn endlich das unselige Geheimniß, das ich dir verhehlt[74] habe, um dich nicht ganz und gar unglücklich zu machen, und um den Befehl meiner Mutter zu vollziehen. Suche mich nicht durch Schmerzensäußerungen zu unterbrechen, welche nur die wenigen Augenblicke, die ich noch zu leben habe, abkürzen würden. Ich habe Vieles zu erzählen, und an den schwächer werdenden Schlägen meines Herzens, an der Last, die wie mit eisiger Schwere meine Brust erdrückt, fühl' ich es, daß ich nicht genug eilen kann.

Nach einem kurzen Stillschweigen fuhr Atala also fort: Mein trauriges Loos hat fast schon vor meiner Geburt begonnen; meine Mutter empfing mich in einer unglücklichen Stunde; ich quälte ihren Schooß und sie brachte mich unter den heftigsten Schmerzen zur Welt. Man verzweifelte beinahe an meinem Leben; um es zu retten, gelobte meine Mutter der Königin der Engel meine ewige Jungfrauschaft, wenn ich nur mit dem Leben davonkäme. Unseliges Gelübde, das mich jetzt ins Grab stürzt!

Ich trat in mein sechzehntes Jahr, als ich meine Mutter verlor. Einige Stunden vor ihrem Tode rief sie mich an ihr Lager. Meine Tochter, sprach sie zu mir in Gegenwart eines Missiongeistlichen, der sie in ihren letzten Augenblicken tröstete, meine Tochter, du weißt schon von dem Gelübde, das ich einmal für dich gethan habe. Nicht wahr, du strafst mich nicht Lügen, meine Tochter? Du arme Atala, ich lasse dich zurück in einer Welt, die es nicht werth ist, eine Christin die ihrige zu nennen unter lauter Heiden, welche den Gott deines Vaters und den meinigen, welche den Gott verfolgen, der dir das Leben gab und es dir durch ein Wunder erhielt. Indem du ins Kloster gehst, entsagst du zu deinem eigenen Heil den Sorgen des Familienlebens, und den verderblichen Leidenschaften, welche das Herz deiner armen Mutter bestürmten. So komm denn, mein theures Kind, komm, schwöre bei diesem Bilde der Mutter unseres Heilands, schwöre es in die geweihte Rechte dieses heiligen Priesters und in die Hand deiner sterbenden Mutter, daß du mich im Angesicht des Himmels nicht verrathen wirst! Bedenke, daß ich mich für dich verpflichtet habe, um dir das Leben zu retten, und daß du, im Fall es dir in den Sinn käme, diesen Schwur jemals zu brechen, die Seele deiner Mutter den ewigen Qualen preisgiebst![75]

O meine Mutter, warum sprachst du so? O Religion, die du zu gleicher Zeit die Quelle meiner Leiden und meiner Seligkeit bist, die du mich ins Verderben stürzest und doch wieder erquickst mit deinem süßen Trost! Du unendlich theurer und bedauernswerther Gegenstand meiner Leidenschaft endlich, die mich noch in den Armen des Todes verzehrt, o Schakta, du weißt nun die Ursache unsers grausamen Schicksals ... In Thränen zerfließend, warf ich mich an die Brust meiner sterbenden Mutter, und versprach Alles, was man nur von mir wollte. Der Missionsgeistliche sprach mir den furchtbaren Eidschwur vor, und gab mir das Scapulier, durch welches ich bis in das Grab der Welt Lebewohl sagte. Meine Mutter bedrohte mich mit ihrem Fluch, wenn ich je mein Gelübde bräche, und verschied in meinen Armen, nachdem sie mir nochmals ein unverbrüchliches Stillschweigen gegen die Heiden, die Verfolger unseres Glaubens, zur Pflicht gemacht.

Anfangs ahnte ich die Gefahren meines Schwurs noch nicht. Voll frommen Eifers, Christin mit Leib und Seele und stolz auf das spanische Blut, welches in meinen Adern fließt, sah ich stets nur Männer um mich her, die nicht werth waren, meine Hand zu empfangen, und frohlockte bereits, keinen andern Gemahl zu haben, als den Gott meiner Mutter. Da sah ich dich, junger und schöner Kriegsgefangener, dein Schicksal rührte mich, ich wagte es am Feuer des Waldes mit dir zu sprechen, und jetzt erst fühlte ich schmerzlich die Last meines Gelübdes.

Als Atala mit dieser Erzählung zu Ende war, trat ich mit geballter Faust und drohendem Blick vor den Missionsprediger hin, und rief: Das also ist die himmlische Religion, welche du mir so hoch angerühmt hast! Fluch dem Eide, welcher mir meine Atala raubt! Fluch dem Gott, der mit der Natur im Widerspruch ist! O Mann! Priester! was hast du in diesen Wäldern da zu thun? –

Dich will ich retten, antwortete der Greis urplötzlich mit furchtbarer Stimme; deine unsinnigen Leidenschaften will ich zähmen, und dich hindern, du Gotteslästerer, den Zorn des Himmels auf dich zu laden. Es steht dir gut an, junger Mensch, der kaum einen Schritt ins Leben gethan hat, dich schon über deine[76] Leiden zu beklagen! Wo sind denn die Merkmale deiner Schmerzen? Wo sind denn die Ungerechtigkeiten, die dir schon angethan worden sind? Wo sind die Tugenden, die dir doch wenigstens scheinbar ein Recht gäben zu solchen Klagen? Wo sind denn die Verdienste, die du dir um die Welt erworben, wo ist das Gute, was du an den Menschen gethan hast? Unglücklicher, du trägst nur thörichte Leidenschaften zur Schau, und wagst es, Gott und seine himmlische Religion anzuklagen! Wenn du so wie ich einmal dreißig Jahre als armer Flüchtling in einem einsamen Waldgebirg gelebt hast, dann wirst du weniger schnell die Wege der Vorsehung richten; dann wirst du begreifen, daß du nichts weißt, nichts bist, und daß es gar keine so schwere Strafe, keine so schrecklichen Schmerzen giebt, daß unser sündiges Fleisch sie nicht vollauf zu erleiden verdiente.

Die Blitze, die aus den Augen des Greises schossen, sein Bart, der ihm bis auf die Brust herab reichte, seine vernichtenden Worte gaben ihm das Ansehen eines Gottes. Bezwungen von seiner Majestät, sank ich zu seinen Füßen nieder, und bat ihn wegen meines Jähzorns um Vergebung. Mein Sohn, sprach er zu mir mit einem so sanften Tone, daß mich die schmerzlichste Reue ergriff, mein Sohn, ich habe dir nicht darum Vorwürfe gemacht, daß ich für meine Person beleidigt wäre. Ach, du hast recht, ich habe sehr wenig Gutes in diesen Wäldern gethan, Gott hat keinen unwürdigeren Diener als mich. Nur seinen Herrn und Schöpfer, mein Sohn, die himmlische Vorsehung muß man nie anklagen! Sei mir nicht böse, wenn ich dir wehgethan habe, und laß uns nun deine Schwester anhören! Vielleicht giebt es doch noch einen Ausweg, wir wollen das Beste hoffen. Schakta, eine Religion, welche die Hoffnung zu einer der schönsten Tugenden erhebt, ist gewiß wahrhaft göttlichen Ursprungs!

Mein junger Freund, nahm Atala wieder das Wort, ich kann dich zum Zeugen anrufen meines schweren Kampfes, und doch hast du nur den kleinsten Theil davon gesehen; das Uebrige hielt ich vor dir geheim. Nein, der schwarze Sklave, der den brennenden Sand der Floriden mit seinem Schweiß benetzt, ist weniger unglücklich, als Atala war. Dich beständig zum Fliehen beredend,[77] und dennoch überzeugt, daß deine Flucht mir den Tod bringen mußte; zu furchtsam, um mit dir in die Wildniß zu fliehen, und doch nach dem Dunkel der Wälder schmachtend ... Ach, hätt' es nur den Verlust der Eltern, Freunde, meines Vaterlands, ja (schrecklicher Gedanke!) selbst meines Seelenheils gegolten! ... Allein dein Schatten, o meine Mutter, dein Schatten umschwebte mich Tag und Nacht und hielt mir deine Qualen vor's Auge! Ich vernahm deine Klagen, ich sah, wie das höllische Feuer dich verzehrte! Schreckbilder raubten mir den Schlaf in der Nacht, und trostlos schwanden meine Tage dahin; der Abendthau vertrocknete, wenn er auf meine brennenden Glieder fiel; ich öffnete meine Lippen dem kühlenden Wind, allein die Luft, anstatt mir Kühlung zuzuwehn, entzündete sich an der sengenden Glut meines Athems. Welche Qual, dich beständig um mich zu sehn, fern von allen andern Menschen, in tiefer Einsamkeit, und eine unübersteigliche Kluft zwischen dir und mir zu erblicken! Mein Leben zu deinen Füßen zu verbringen, dir als Sklavin zu dienen, dein Mahl und dein Lager irgendwo in einem unbekannten Winkel der Erde zu bereiten, wäre für mich die höchste Erdenseligkeit gewesen; diesem Glück war ich so nahe, und durfte es doch nicht mein nennen. Welche Pläne dachte ich nicht aus! Welchen Träumen überließ sich nicht dieses traurige Herz! Oft, wenn meine Blicke an deinen Zügen hingen, ging ich so weit, ebenso sinnlose als verbrecherische Wünsche zu hegen; bisweilen hätt' ich mit dir das einzige lebende Geschöpf auf Erden sein mögen, und wenn ich dann in mir die Gottheit fühlte, die diesen schrecklichen Sturm der Leidenschaft zügelte, so wünschte ich die Vernichtung dieser Gottheit, wenn ich nur, von deinen Armen umschlossen, unter den Trümmern Gottes und der Welt von Abgrund zu Abgrund gestürzt wäre. Und jetzt noch ... o kann ich es denn eingestehen ohne Scham? – Jetzt, wo ich an den Pforten der Ewigkeit stehe, wo ich bald vor dem unerbittlichen Richter erscheinen soll, in diesem Augenblicke noch, wo ich mit Freuden sehe, daß das meiner Mutter gebrachte Opfer mein Leben verzehrt, in diesem Augenblick, o schrecklicher Widerspruch! ergreift mich die Reue noch, daß ich nicht einmal mindestens in diesem Leben ganz und gar die Deine gewesen bin ... –[78]

Meine Tochter, unterbrach sie jetzt der Greis, dein Schmerz führt dich irr; dieses Uebermaß von Leidenschaft, dem du dich da hingiebst, ist selten gerecht, ja, nicht einmal recht natürlich, und darum ist es auch in den Augen Gottes weniger strafbar, weil es mehr in einer falschen Richtung des Geistes, als in einem Fehler des Herzens seinen Ursprung hat. Gieb also in Zukunft solchen heftigen Ausbrüchen deiner Leidenschaft keinen Raum mehr; sie ziemen deiner Unschuld nicht. Auch hat dir, mein liebes Kind! deine erhitzte Phantasie jenes Gelübde in einem zu schrecklichen Lichte gezeigt. Die christliche Religion verlangt keine übermenschlichen Opfer von uns. Ihre wahren und echten Gefühle, ihre gemäßigten Tugenden haben einen bei Weitem höhern Werth, als die überspannten Empfindungen und die erzwungenen Tugenden eines falschen Heldenmuths. Und selbst wenn dir das Menschliche widerfahren wäre, deinen ewigen Kämpfen zuletzt doch einmal zu erliegen: – haben wir nicht an Jesus den guten Hirten, der mit himmlischer Sanftmuth das verlorne Schaf wieder zurückführt zu der Schaar seiner Getreuen? – Die unerschöpflichen Reichthümer der Reue waren auch dir erschlossen: Ströme von Blut reichen oft nicht hin, um in den Augen der Welt unsere Sünden zu tilgen: Gott dem Herrn genügt eine einzige Thräne. Darum sei ruhig, meine Tochter, dein Zustand heischt Ruhe; wir wollen zu Gott beten, der einen Balsam hat für jeden Schmerz Derer, die ihm dienen. Ist es, ich hoff' es wenigstens, sein unerforschlicher Rathschluß, dich noch genesen zu lassen von dieser Krankheit, so will ich an den Bischof von Quebek schreiben; er hat die Gewalt, dich von deinem Gelübde, da es ohnehin nur ein einfaches ist, wieder zu lösen, und du wirst dann deine Tage mit Schakta, deinem Gatten, bei mir verleben.

Bei diesen Worten des Greises ward Atala plötzlich von langanhaltenden Krämpfen befallen, aus denen sie nur erwachte, um sich dem Ausbruch des heftigsten Schmerzes zu überlassen. – Wie? rief sie, die Hände voll Leidenschaft zusammenschlagend, es war also noch ein Ausweg vorhanden! Ich konnte meines Gelübdes noch entbunden werden? – Ja, meine Tochter, antwortete der Einsiedler, du kannst es noch. – Es ist zu spät, jetzt ist es zu[79] spät, rief sie. Muß ich sterben in demselben Augenblick, wo ich erfahre, daß ich zuletzt doch noch glücklich geworden wäre, wär' ich nicht so wahntoll gewesen in meiner Leidenschaft! Warum bin ich nicht früher mit diesem heiligen Greis zusammengekommen? O, welches selige Glück erblühte mir jetzt mit dir, mein theurer Schakta, ... getröstet, beruhigt durch diesen würdigen Priester ... in dieser Wildniß ... bis an das Grab! ... Ha, allzugroß wäre meine Seligkeit gewesen! – Beruhige dich doch, sagte ich zu ihr, und faßte die Jammernde bei der Hand, beruhige dich nur; dieses Glücks werden wir noch theilhaft werden. – Niemals, niemals, o jetzt nicht mehr, schluchzte Atala. – Wie? fragte ich bestürzt. – Du weißt noch nicht das Schrecklichste, schrie die Arme. Gestern ... während des Gewitters ... ich war auf dem Punkt, meinen Eid schwur zu brechen, und dadurch meine Mutter in die Glut des höllischen Abgrunds zu stürzen; – schon schwebte ihr Fluch auf meinem Haupt, schon belog ich den Allbarmherzigen, der mich am Leben erhielt ... Als du da meine zitternden Lippen küßtest, wußtest du noch nicht, du wußtest nicht, daß du den Tod umarmtest! – O mein Gott! schrie der Geistliche; liebes Kind, was hast du gethan? – Ein Verbrechen hab' ich begangen, mein guter Vater, sagte Atala mit wild vor sich hinstarrenden Blicken; indeß, Gott sei Lob, nur ich bin verloren, meine Mutter ist gerettet. – Vollende! rief ich entsetzt. – Nun denn, fuhr sie fort, ich hatte meine Schwachheit vorausgesehen, und als wir unsere Heimat verließen, versah ich mich mit ... – Womit? rief ich in meiner Seelenangst. – Mit Gift? fragte der Priester. – Ja; sagte Atala tonlos, mit Gift; es tobt schon in meinen Adern. –

Die Fackel entsinkt der Hand des Greises, und wie todt falle ich selbst neben der Tochter des Lopez nieder. Der Einsiedler schließt uns selbander in seine Arme, und die dunkle Höhle klingt wieder von unserm gemeinschaftlichen Wehklagen an diesem Lager des Schmerzes.

Ermannen wir uns, ermannen wir uns, ruft endlich der muthige Einsiedler, und macht Licht. Wir verlieren kostbare Augenblicke: – als unerschrockene Christen wollen wir den Stürmen[80] des Unglücks trotzen; den Strick um den Hals, die Asche auf dem Haupte, wollen wir uns vor Gott dem Allmächtigen demüthigen, um seine Barmherzigkeit anzuflehen, oder uns seinen Rathschlüssen in christlicher Demuth zu unterwerfen. Vielleicht ist es noch Zeit. Warum hast du mir das nicht gestern Abends gleich mitgetheilt, meine Tochter?

Ach, mein guter Vater, sagte Atala, ich habe dich in der letzten Nacht gesucht, Gott mußte dich jedoch zur Strafe für meine Sünden entfernt haben. Uebrigens wäre jede Hülfe fruchtlos gewesen, denn selbst die Indianer, die so erfahren in Bereitung der Gifte sind, kennen für das, welches ich genommen habe, durchaus kein Gegengift mehr. O Schakta! Stelle dir mein Erstaunen vor, als die tödtliche Wirkung nicht so schnell erfolgte, als ich es erwartete! Meine Leidenschaft hat meine Kräfte verdoppelt; meine Seele hat sich nicht so schnell von der deinigen losreißen können.

Jetzt unterbrach ich Atalas Erzählung nicht mehr durch Schluchzen, sondern durch jene heftigen Ausbrüche der Leidenschaft, wie sie nur den Wilden eigen sind. Ich wälzte mich wie ein Rasender auf der Erde, verdrehte die Arme und zerfleischte mich selbst mit den Zähnen. Der edle Priestergreis eilte mit bewundernswürdiger Zärtlichkeit vom Bruder zur Schwester und erwies uns unzählige Liebesdienste. Mit seinem Herzen voll Ruhe wußte er sich, trotz der Last seiner Jahre, uns jungen Leuten verständlich zu machen, und sein religiöser Glaube lieh ihm Ausdrücke, die zärtlicher und feuriger waren, als selbst unsere Leidenschaften. Gleicht dieser Priester, der sich seit vierzig Jahren Tag und Nacht dem Dienste Gottes und der Menschen in diesen Bergen geweiht hat, nicht jenen Brandopfern Israels, welche zur Ehre des Herrn ohne Unterlaß auf den Bergen rauchten?

Vergebens suchte der Einsiedler eine Arzener gegen Atalas Leiden ausfindig zu machen; die Ermüdung, der Gram, das Gift und eine Leidenschaft, tödtlicher als jedes andere Gift der Erde, wirkten zusammen, um uns diese Blume der Wildniß zu rauben. Gegen Abend zeigten sich schreckliche Zufälle; eine allgemeine Erstarrung lähmte Atalas Glieder und die äußersten Theile ihres[81] Körpers fingen an, gleichsam eines nach dem andern einzeln zu sterben, ehe sie selbst noch todt war. – Berühre doch einmal meine Finger, sagte sie zu mir; findest du nicht, daß sie kalt sind wie Eis? – Ich war rathlos, stumpf und starr saß ich da, und mein Haar sträubte sich vor Angst empor. – Gestern Abends, mein geliebter Schakta, fuhr sie fort, machte mich dein leises Berühren schon süß erschauern vor Glück und Seligkeit, und jetzt fühle ich deine Hand nicht mehr, vernehme kaum deine Stimme, und selbst die einzelnen Gegenstände der Grotte verschwinden allmählich vor meinen Augen. Höre ich nicht die Vögel singen? Die Sonne muß jetzt gerade im Untergehn sein; o Schakta, wie schön werden ihre Strahlen am Hügel der Wildniß auf meinem Grabe glänzen!

Als Atala merkte, daß ihre Worte uns Ströme von Thränen entlockten, sagte sie zu uns: Vergebt mir meine Reden, geliebte Freunde; ich bin sehr schwach, doch der Herr giebt mir schon noch Kraft, hoff' ich. Ach, es ist so schwer, in so jungen Jahren schon sterben zu müssen mit einem Herzen voll Lebenslust! ... Du Vorsteher des Gebets, o habe Mitleid mit mir; du mußt mich stärken und trösten. O, und glaubst du wohl, daß meine Mutter jetzt befriedigt ist, und daß Gott mir verzeihen wird, was ich gethan habe?

Meine Tochter, gab ihr der fromme Priester zur Antwort (unter Thränen, die er mit seinen zitternden und narbigen Fingern abwischte); dein ganzes Unglück hat seinen Grund nur in einem unglückseligen Irrthum gehabt; deine schlechte Erziehung und der Mangel am nöthigen Unterricht haben dich ins Verderben gestürzt; du wußtest nicht, daß eine Christin gar nicht einmal nach Gutdünken über ihr Leben verfügen darf. Tröste dich also, mein geliebtes Lamm; Gott wird dir um der Einfalt deines Herzens willen verzeihen. Deine Mutter und der unvorsichtige Missionsgeistliche, welcher ihr Beichtiger war, tragen größere Schuld als du; denn sie haben ihre Befugniß überschritten, als sie dir ein so voreiliges Gelübde entrissen; doch der Friede des Herrn sei auch mit ihnen! Ihr drei mit einander gebt wieder ein schreckliches Beispiel davon ab, wie gefährlich die Schwärmerei und der[82] Mangel an Einsicht in Religionssachen sind. Beruhige dich jetzt, mein Kind; Derjenige, der die Herzen und Nieren prüft, wird dich nach deinen Absichten richten, welche rein waren, und nicht nach deiner Handlung, die strafbar ist.

Und das Leben? – Wenn der Augenblick herannaht, wo du im Herrn selig entschlafen wirst, wie wenig verlierst du, mein theures Kind, durch den Austritt aus dieser Welt? Obwohl du in der Einsamkeit lebtest, hast du doch des Grams und der Schmerzen schon mehr als genug erfahren. Was würdest du erst denken, wärest du Zeugin der Leiden gewesen, die aus dem gesellschaftlichen Vereine entspringen, und hätt' an Europa's fernen Ufern dein Ohr den langen Weheruf vernommen, der von dieser alternden Welt sich erhebt? Unter dem Strohdach des Armen, wie in der Pracht der Paläste, wohnt die Klage und ächzt das ewige Wehe der Menschheit; ich sah Königinnen wie gemeine Frauen weinen, und Niemand möchte es glauben, welcher Strom von Thränen die Augen der Könige benetzt.

Ist es das rosige Luftbild deines verlornen Liebesglücks, was dich so schmerzt? – O meine Tochter, das wäre das Nämliche, wie wenn Kinder dann und wann um einen schönen Traum weinen, aus welchem sie erwacht sind. Kennst du denn die Natur des menschlichen Herzens, und kannst du die Unbeständigkeit seiner Neigungen und Wünsche berechnen? Sicherer fürwahr zählte dein Auge die Wogen, welche das Meer im Sturme mit sich fortwälzt. O Atala! Opfer und Wohlthaten sind keine ewigen Bande; einmal wäre vielleicht auf das genossene selige Glück der Ueberdruß gefolgt, die schönen Tage von ehemals wären für nichts mehr gerechnet worden, und es wäre dann von dir nur noch das Widrige eines armen und drückenden Bandes empfunden worden. Das schönste Liebesverhältniß, meine Tochter, war doch sicher das des Mannes und des Weibes, die zuerst aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen sind, nicht wahr? – Ein Paradies war für sie erschaffen worden, sie waren unschuldig und unsterblich. Vollkommen an Leib und Seele, paßten sie ganz für einander: Adam war für Eva, Eva für Adam geschaffen. Wenn nun diese ihr Glück nicht einmal zu bewahren vermochten, welches Paar darf es[83] denn dann wohl noch hoffen? Ich will dir nicht von den Heiraten der Erstgeborenen unter den Menschen sprechen, von jenen unaussprechlichen Verbindungen, als die Schwester zugleich die Gattin des Bruders war, als Liebesglut und Geschwisterfreundschaft in einem und dem nämlichen Herzen in einanderschmolzen, und die Reinheit der einen die Freuden der andern erhöhte. All diese Bündnisse wurden getrübt; die Eifersucht schlich an den Rasenaltar, auf welchen die jungen Ziegen geopfert wurden; sie herrschte unter dem Zelte Abrahams, ja selbst auf den Lagerstätten, auf welchen die Patriarchen so überschwängliche Freuden genossen, daß sie selbst den Tod ihrer Mütter darüber vergaßen.

Und konntest du dir wohl schmeicheln, mein Kind, unschuldiger und glücklicher in deiner Ehe mit Schakta zu werden, als jene heiligen Familien, von denen unser Herr und Heiland selbst abstammte? Ich verschone dich mit der Erzählung der Sorgen des Hauswesens, des Zanks und des Streits, der wechselseitigen Vorwürfe, der Unruhen und geheimen Leiden, welche am Hauptkissen des ehelichen Lagers wachen. Die Schmerzen der Gattin erneuern sich, so oft sie wieder Mutter wird, und unter Thränen tritt die Braut an den Traualtar. Welchen Schmerz ruft nicht der Verlust eines Säuglings hervor, den sie mit ihrer Milch ernährte, und der dann an ihrem Busen stirbt! Wehklagen erfüllten das Gebirge, Rachel war trostlos, denn ihre Söhne waren nicht mehr! Diese an jedes irdische Liebesglück geknüpften Widerwärtigkeiten sind so groß, daß ich in meinem Vaterland vornehme, von Königen geliebte Damen gesehen habe, welche den Hof verließen, um sich in einem Kloster zu begraben, und den widerspenstigen Leib abzutödten, dessen Genüsse nur Schmerzen sind.

Du wirst mir vielleicht einwenden, daß sich solche Beispiele, wie die, von denen ich rede, nicht auf dich bezögen; daß dein ganzer Ehrgeiz sich stets nur darauf beschränkte, mit dem Mann deiner Wahl unter dem friedlich schlichten Dach der Wildniß zu leben; daß dir der Sinn weniger nach den Freuden der Ehe selbst gestanden, als nach jenem wonnigen Zauber, nach jener so einzig schönen Thorheit, welche die Menschen Liebesglück nennen. – O chimärische[84] Täuschungen und Nebelgebilde! O Eitelkeiten, o hohle Träume einer kranken, erhitzten Phantasie! Auch ich, meine Tochter, habe die Stürme des Herzens einmal durchlebt; dieses Haupt war nicht immer so kahl und diese Brust nicht immer so ruhig, wie sie dir jetzt erscheinen. Glaube meiner Erfahrung: wenn der Mensch, beharrlich in seinen Neigungen, beständig neue Nahrung für ein stets erneutes Gefühl fände, so würden ihn ohne Zweifel die Einsamkeit und die Kraft zu lieben Gott selbst ähnlich machen; denn das sind die zwei ewigen Freuden des höchsten Wesens. Jedoch die Seele des Menschen wird bald matt und stumpf, und nie liebt sie längere Zeit hindurch einen und den nämlichen Gegenstand mit gleichem Feuer. Es giebt stets einige Punkte, in welchen zwei Herzen von einander abweichen, und diese wenigen Punkte sind auf die Dauer hinreichend, um Einem das Leben schal und unleidlich zu machen.

Endlich, meine geliebte Tochter, besteht das größte Unrecht der Menschen darin, daß sie in dem Traum von Glück, dem sie sich hingeben, gewöhnlich ganz und gar das Gebrechen der Sterblichkeit vergessen, das nun einmal der menschlichen Natur unheilbar anklebt: – der schöne Traum hat einmal ein Ende. Früher oder später, mag dein Glück hienieden auch noch so groß gewesen sein, würden deine schönen Gesichtszüge einmal jenen einförmigen Ausdruck angenommen haben, welchen die Gruft den Kindern Adams verleiht; selbst Schaktas Auge möchte dich dann unter deinen Grabesschwestern nicht mehr herausgefunden haben. Bei den Würmern des Sarges enden Liebeslust und Glück. Was sag' ich? O Eitelkeit der Eitelkeiten! Was rede ich von der Macht der Freundschaft auf dieser Erde? Soll ich dir sagen, meine gute Tochter, wie groß sie ist? – Wenn einmal ein Mensch auch nur einige Jahre nach seinem Tode wieder an das Licht der Welt zurückkäme, so zweifle ich, ob ihn selbst Diejenigen, welche seinem Andenken die meisten Thränen geweiht, mit wirklicher Freude wieder begrüßen würden; so schnell knüpft man neue Bande, so leicht und schnell gewöhnt man sich an das Neue, so natürlich ist die Unbeständigkeit dem Menschen, so werthlos ist unser Leben, selbst in den Herzen unserer Freunde![85]

Sage daher Lob und Preis der göttlichen Güte, die dich so bald aus diesem Thale der Schmerzen abruft. Schon wird das schneeige Gewand und die Strahlenkrone der Jungfrauen für dich gewoben, schon hör' ich die Königin der Engel dir zurufen: komm, meine würdige Dienerin, komm, meine Taube, setze dich auf den Thron der Unschuld unter die Schaar der Jungfrauen, welche ihre Schönheit und ihr Jugendglück dem Dienst der Menschheit, der Erziehung der Kinder, und den Werken der Buße geopfert haben. Komm, du mystische Rose, um an dem Herzen Jesu zu ruhen. Die frühe Bahre, dieses Hochzeitsbett, das du dir gewählt, wird dich nicht täuschen, und endlos werden die Umarmungen deines himmlischen Bräutigams sein.

So wie der letzte Strahl des Tages die Winde schweigen macht und Ruhe und Frieden bringt der müden Erde, so besänftigte das ruhige Wort des Greises die stürmischen Leidenschaften im Herzen meiner Geliebten. Sie schien jetzt nur noch mit meinem Schmerze, und mit den Mitteln beschäftigt, mich ihren Verlust ertragen zu lehren. Bald gab sie mir die Versicherung, daß ihr der Tod nicht so schwer wäre, wenn ich ihr verspräche, nicht mehr so zu weinen, sondern ruhiger zu werden; bald sprach sie von meiner Mutter, von meinem Heimatland; sie suchte meine gegenwärtigen Leiden zu zerstreuen, indem sie einen vergangenen Schmerz wieder aufweckte. Sie ermahnte mich zur Geduld, zu männlicher Ruhe und Gesetztheit. Du wirst nicht beständig unglücklich sein, sprach sie; wenn dich Gott jetzt prüft, so geschieht es gewiß nur darum, um dich empfänglicher für die Leiden Anderer zu machen. Die Seele des Menschen, o Schakta, gleicht gewissen Bäumen, welche den Balsam für die Wunden der Menschen nur dann von sich geben, wenn der Stahl sie selbst tödtlich verletzt hat.

Nachdem sie also gesprochen, wandte sie sich an den Priester und suchte bei ihm Ruhe und Frieden der Seele; und indem sie so bald mir eine himmlische Trösterin war, bald sich selbst trösten ließ von dem edeln Greis, gab und empfing sie das Wort des Lebens auf dem Lager des Todes.[86]

Inzwischen verdoppelte der gute Einsiedler seinen Eifer. Dieser christliche Liebeseifer goß neues Leben in seine greisen Glieder, und während er neue Arzeneien zubereitete, die Glut neu anfachte, und frisches Moos aus dem Wald holte für das Lager der Kranken, sprach er mit heiligem Feuer von Gott und von der Seligkeit der Gerechten. Die Fackel des Glaubens in der Hand, schien er vor Atala in die Gruft hinabzusteigen, um ihr die geheimen Wunder derselben zu zeigen. Die niedere Grotte war voll von der Herrlichkeit dieses christlichen Todes, und ohne Zweifel waren die himmlischen Geister aufmerksame Zuschauer dieser Scene, in der blos die heilige Kraft der christlichen Religion, und nichts weiter, gegen die mächtigste Leidenschaft der Erde, gegen den jugendlichen Unverstand und gegen den Tod ankämpfte.

Und sie triumphirte, unsere göttliche Religion, und ein sichtbares Zeichen dieses Triumphes war eine gewisse heilige Wehmuth, die in unserm Herzen auf die Ausbrüche der Leidenschaft folgte. Gegen Mitternacht schien Atala neue Kräfte zu gewinnen, um die Gebete nachzusprechen, welche der Geistliche ihr am Rand des Lagers vorsprach. Bald darauf reichte sie mir die Hand, und sprach mit kaum mehr hörbarer Stimme: O Sohn des Outalissi, erinnerst du dich noch jener ersten Nacht, wo du mich für die Jungfrau der letzten Liebeslust hieltst? Sonderbare Vorahnung unseres Schicksals! – Sie schöpfte neuen Athem, dann nahm sie wieder das Wort: O, wenn ich daran denke, daß ich dir jetzt unerbittlich Lebewohl sagen muß, dann wird die Lust zum Leben plötzlich wieder so mächtig in meinem Herzen, daß ich in der Macht meiner Leidenschaft beinahe die Kraft zu finden meine, mich unsterblich zu machen. Indeß, o mein Gott! Dein Wille geschehe! – Atala schwieg einige Augenblicke, dann fuhr sie fort: Es bleibt mir nun nichts mehr übrig, als dich wegen der Schmerzen, die ich dir so oft verursachte, von Herzen um Verzeihung zu bitten. O Schakta, eine Handvoll Erde, auf mein Grab geworfen, wirft eine Welt zwischen dir und mir auf, und erlöst dich auf immerdar von der Last meines Unglücks.

Ich dir verzeihen? gab ich ihr unter einem Strom von Thränen zur Antwort. Bin denn nicht ich der Urheber all deiner[87] Leiden? – Mein Freund, unterbrach sie mich, du hast mich sehr, sehr glücklich gemacht, und käme ich nochmals in die Welt zurück, und dürfte ich mein Leben noch einmal von vorn anfangen, o ich weiß es, ich zöge das himmlische Glück, dich wenige Augenblicke eines schmerzlichen Exils geliebt zu haben, einem ganzen Leben voll Ruhe in meiner Heimat vor. –

Hier erlosch Atalas Stimme; die Schatten des Todes umflorten ihr Mund und Augen; ihre in der Luft hin und her irrenden Finger schienen nach irgendwas uns Unsichtbarem zu greifen und zu suchen; sie sprach bereits mit den Geistern des Jenseits. Bald darauf machte sie einen mühsamen, jedoch vergeblichen Versuch, das kleine Crucifix von ihrem Hals los zu machen; sie bat mich, es mir selbst herunterzunehmen, und sprach dann:

Als ich das erstemal mit dir sprach, sahst du schon das kleine Kreuz da beim Schein des Feuers an meinem Herzen glänzen; es ist das einzige irdische Gut, welches Atala besitzt. Lopez, dein Vater und der meinige, sandte es meiner seligen Mutter wenige Tage vor meiner Geburt. Empfange dieses Erbe von mir, mein geliebter Bruder, und bewahre es dir zum Andenken meiner Leiden. Nimm, o nimm dann und wann in schweren Tagen auch deine Zuflucht zu diesem Gott der Leidenden! O Schakta! Noch um Eins bitt' ich dich, bevor ich hinübergehe: es ist mein letztes Wort an dich auf dieser Erde! – Unser Glück hienieden wäre am Ende doch nur von kurzer Dauer gewesen; doch es giebt nach diesem kurzen irdischen ein längeres und besseres Leben. Wie schrecklich wäre nicht schon der bloße Gedanke an eine ewige Trennung von dir! Jetzt hingegen gehe ich dir nur voran, und erwarte dich drüben im himmlischen Reiche. Wenn du mich in der That und wahrhaft geliebt hast, o, so laß dich in der christlichen Religion unterrichten, welche der einzige Weg zu unserer einstigen Wiedervereinigung ist. Sie wirkt vor deinen Augen ein großes Wunder, diese Religion, weil sie mir die Kraft verleiht, dich zu verlassen, ohne in der Qual der Verzweiflung zu sterben. Inzwischen verlange ich nur ein einfaches Versprechen von dir, mein theurer Schakta, weil ich jetzt weiß, wie theuer Einem ein Eid zu stehen kommt. Wie leicht möchte dir dieses Gelübde einmal eine ewige Kluft werden[88] zwischen dir und einem andern weiblichen Wesen, welches glücklicher ist als ich. O meine Mutter, verzeihe deiner Tochter! O heilige Jungfrau, erbarme dich meiner und sei mit mir in diesem letzten Kampf des Lebens! Ach, ich fühle es, ich falle in meine vorige Schwäche zurück, und entziehe dir, o Gott, meine nur noch dir, dem Ewigen und Allbarmherzigen, angehörenden Gedanken!

Von Schmerz durchdrungen, versprach ich Atala, mich mit der Zeit gewiß noch einmal zum christlichen Glauben zu bekehren. Bei diesem Schauspiel erhob sich der Einsiedler mit begeistertem Angesicht, und rief, indem er die Arme zum Gewölbe der Grotte emporhob: Es ist Zeit, es ist Zeit, Gott den Herrn herbeizurufen!

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als eine übernatürliche Macht mich zwingt, mich auf die Knie niederzuwerfen und mein Haupt über Atalas Lager zu neigen. Der Priester schließt einen verborgnen Schrein auf, welcher eine goldene, mit einem seidenen Schleier bedeckte Urne verschloß, und wirft sich in tiefer Anbetung davor nieder. Plötzlich schien die Grotte hell erleuchtet; man vernahm Stimmen der Engel und den Klang der himmlischen Harfen in der Luft; und als der Einsiedler das heilige Gefäß aus dem Tabernakel hervorzog, glaubte ich Gott selbst aus der Felsenwand hervortreten zu sehen.

Der Priester deckte den Kelch auf, nahm zwischen seine beiden Finger eine Hostie, weiß wie Schnee, und näherte sich Atala, indem er dabei geheimnißvolle Worte sprach. Die Augen dieser Heiligen waren in seliger Extase himmelwärts erhoben, all ihre Schmerzen schienen von ihr gewichen; all ihre Lebenskraft drängte sich auf ihren Mund, und die Lippen öffneten sich, um den in dem geweihten Brode verborgnen Gott voll Ehrfurcht zu empfangen. Hierauf tauchte der göttliche Greis einige Baumwollflocken in heiliges Oel, und rieb Atalas Schläfe damit; dann betrachtete er einen Augenblick die sterbende Jungfrau, und rief plötzlich mit starker Stimme: Schwinge dich auf, o christliche Seele, und vereinige dich wiederum mit deinem Herrn und Schöpfer! – Jetzt erhob ich mein gebeugtes Haupt und sagte, mit einem Blick auf das Gefäß mit dem heiligen Oele: Wird dieser Balsam meiner Atala das Leben wieder geben? – Ja, mein Sohn, versetzte der[89] Priester, und sank in meine Arme, das ewige Leben! – Atala war nicht mehr.

Hier mußte Schakta seine Erzählung zum zweitenmal unterbrechen; Thränen überströmten sein Angesicht und er vermochte nur abgebrochene Laute hervorzubringen. Der blinde Saschem entblößte seinen Busen, und zog Atalas Crucifix hervor. Da ist es, rief er, dieses Pfand des Unglücks! O René, o mein Sohn, du siehst es, und ich, ich seh' es nicht! Sage mir doch, hat, nach so vielen Jahren, das Gold seinen Glanz noch nicht verloren? Erblickt man nicht die Spur meiner Thränen darauf? Kann man wohl die Stelle noch erkennen, auf welche die Heilige ihre Lippen drückte? Warum ist Schakta noch immer kein Christ? Aus welchen nichtigen politischen und Vaterlandsgründen ist er bis jetzt in den Irrthümern seiner Väter verblieben? – Doch ich will jetzt nicht mehr länger zögern; die Erde ruft mir bereits zu: O Greis! Ueber ein Kleines gehst auch du in meine ewige Ruhe ein, und du denkst noch nicht daran, dich zu Gott und seinem himmlischen Glauben zu bekehren? – Ich komme, ich komme schon, du kühle Todesgruft! – Sobald ein Priester dieses von Gram und Sorgen gebleichte Haupt in der heiligen Flut verjüngt haben wird, hoffe ich mich wieder mit Atala zu vereinigen ... Doch laß mich nun das Ende meiner Geschichte erzählen.

Quelle:
[Chateaubriand, François René, Vicomte de]: Chateaubriands Erzählungen. Leipzig und Wien [1855], S. 73-90.
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Atala and Rene by de Chateaubriand, Francois-Rene ( Author ) ON Mar-15-2012, Paperback
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