II. Die Ackerbauern.

[63] Es giebt in der Welt Gerechte, deren Gewissen so ruhig ist, daß man sich ihnen nicht nähern kann, ohne an dem Frieden, den so zu sagen ihr Herz und ihre Reden athmen, mit Theil zu nehmen. Sowie der Einsiedler sprach, besänftigte sich allmählich auch der Sturm in meiner Brust, und selbst der Sturm in der Natur draußen schien vor seiner Stimme zurückzuweichen. Bald zertheilte sich das Gewölk, und wir konnten unsern Zufluchtsort verlassen. Als wir aus dem Wald herauskamen, mußten wir einen steilen Bergrücken hinansteigen. Der gute Bernhardinerhund trabte vor uns her, und trug an einem Stocke die ausgelöschte Laterne. Atala und ich folgten Hand in Hand dem Missionsgeistlichen.[63] Er sah sich oft nach uns um, und nahm sich unser Unglück und unsere jungen Jahre sichtbar mit inniger Theilnahme zu Herzen. Ein Buch hing an seinem Halse, er selber stützte sich auf einen weißen Stab. Sein Wuchs war hoch, seine Gestalt abgezehrt und mager, und der Ausdruck seines Gesichts schlicht und ehrlich. Er besaß nicht die faden und so gar nichtssagenden Züge eines Menschen, der ohne Leidenschaften geboren ist; man sah, daß auch er schon böse Tage erlebt, und die Runzeln seiner Stirne zeigten die schönen Narben von ehemaligen Leidenschaften, welche nur durch hohe Tugenden und durch treues und selbstaufopferndes Wirken für Gott und die Menschheit geheilt worden waren. Wenn er still stand, um mit uns zu sprechen, so machte schon sein langer Bart, sein bescheiden zu Boden niedergeschlagener Blick und der sanfte Klang seiner Stimme einen ungemein beruhigenden und Ehrfurcht gebietenden Eindruck. Wer, wie ich, den Pater Aubry mit seinem Stabe und seinem Brevier einsam durch die Wildniß wandeln sah, der hat eine richtige Vorstellung von dem christlichen Pilgrim auf Erden.

Nach einer kurzen, zum Theil gefährlichen Wanderung durch das unwegsame Gebirge kamen wir endlich glücklich bei der Grotte des Einsiedlers an, und traten zwischen niederhängenden Epheuranken und Giraumonts1, welche durch den Regen von den Felsen heruntergespült worden waren, in dieselbe hinein. Wir fanden darin nichts, als ein ärmliches Lager von Papayablättern, eine Kürbisflasche, um Wasser zu schöpfen, einige hölzerne Gefäße, eine Schaufel, eine zahme Schlange, und auf einem Steine, welcher zugleich als Tisch diente, ein Crucifix und das Buch der Christen.

Der Mann der frühern Tage zündete sogleich mit Hülfe von trockenen Lianen ein Feuer an; dann zerrieb er zwischen zwei Steinen Maiskörner, machte einen Kuchen daraus und legte ihn in die Asche, um ihn so zu backen. Als dieser Kuchen im Feuer ein schönes Goldbraun angenommen, trug er ihn brennheiß mit Nußmilch in einer Schale von Ahornholz auf. Inzwischen war[64] mit dem Abende die Luft wieder hell und klar geworden, und der Diener des großen Geistes schlug uns vor, uns am Eingange der Grotte niederzusetzen. Wir folgten ihm dahin, und genossen eine unermeßliche Aussicht. Das Gewitter war weiter ostwärts hinübergezogen; der Feuerschein der durch den Blitz angezündeten Wälder glänzte in weiter Ferne; am Fuß des Berges war ein ganzer Fichtenwald zusammengefügt, und der Strom wälzte wild durcheinander Massen aufgelöster Thonerde, Baumstämme, die Leichen von Thieren und todte Fische mit fort, deren silberschuppige Bäuche dann und wann auf dem Kamm der Wogen sichtbar wurden.

Während dieses prächtigen Schauspiels der Natur erzählte denn Atala dem greisen Genius des Berges unsere Geschichte. Er schien sehr gerührt und Thränen flossen in seinen Bart. Mein Kind, sprach er zu Atala, du mußt Gott deine Leiden opfern, zu dessen Ruhm du schon so Manches gethan hast; er wird dir die Ruhe schon wieder geben. Du siehst dort, wie die Wälder rauchen, wie die Ströme wieder in ihr Bett, das sie gesprengt, zurückkehren, und wie die Wolken sich zerstreuen; und glaubst du nun, daß der, welcher die Macht hat, solchen Stürmen zu gebieten, nicht auch den Sturm im menschlichen Herzen zum Schweigen bringen kann? Für den Fall, daß du in diesem Augenblick keine bessere Freistatt hast, meine gute Tochter, so biete ich dir einen Platz unter der kleinen Gemeinde an, die ich so glücklich gewesen bin, unserm Erlöser Jesus Christus in diesen Urwäldern zu gewinnen. Ich will Schakta im christlichen Glauben unterrichten und ihn dir zum Gatten geben, sobald er deiner würdig ist.

Bei diesen Worten fiel ich vor dem Einsiedler unter einem Strom von Thränen auf die Knie nieder, während Atala erblaßte wie der Tod. Der Greis hob mich mit gütigem Lächeln auf, und da bemerkte ich denn zum erstenmal, daß seine Hände voll der schrecklichsten Narben waren. Atala errieth sogleich die Ursache seines Unglücks. O! die grausen Barbaren! rief sie aus.

Meine Tochter, nahm sanft lächelnd der Geistliche das Wort, was ist das im Vergleiche mit dem, was mein göttlicher Herr und Meister am Kreuze gelitten hat? Wenn diese indianischen Heiden[65] mir wehgethan haben, so sind es am Ende arme Blinde, welche Gott schon noch erleuchten wird. Ich liebe sie sogar desto mehr, je mehr sie mir Böses zugefügt haben. Es war mir nicht möglich, in meinem Vaterland zu bleiben, wohin ich wieder zurückgegangen war, und wo eine erlauchte Königin mir die Ehre erwies, diese schwachen Merkmale meines Apostelamtes ihres Blickes zu würdigen. Und welche ehrenvollere Belohnung meines Wirkens konnte ich mir denn wünschen, als die Erlaubniß, die mir das Oberhaupt unsrer Religion ertheilte, das heilige Meßopfer mit diesen narbigen Händen darbringen zu dürfen? Nach einer solchen Ehre blieb mir nichts übrig, als das Bestreben, mich derselben würdig zu machen; darum bin ich in die neue Welt zurückgekommen, um den Rest meines Lebens dem Dienst meines Herrn und Heilands zu weihen. Bald sind es nun dreißig Jahre, daß ich in dieser Wildniß lebe, und morgen werden es zwei und zwanzig, daß ich Besitz von dieser Grotte genommen habe. Als ich hier ankam, fand ich nichts, als eine Anzahl unstät umherschweifender Familien, deren Gebräuche wild und grausam waren, und die ein elendes, halb thierisches Leben führten. Ich predigte den Kindern des Urwalds das Wort des Friedens, und sie wurden nach und nach milder und menschlicher. Sie leben jetzt am Fuß dieses Berges in geselligem Vereine. Indem ich den Irrenden den Weg zum ewigen Heil zeigte, bemühte ich mich zugleich, sie in den Hauptelementen des europäischen Lebens zu unterweisen, ohne es jedoch allzuweit darin zu treiben, um diesen kindlichen Naturmenschen nicht jene Einfachheit zu rauben, welche gerade das Glück ihres Lebens ausmacht. Aus Furcht, ihnen durch meine beständige Gegenwart Zwang anzuthun, hab' ich mich in diese Grotte zurückgezogen; da besuchen sie mich zuweilen, um sich Raths bei mir zu erholen. Hier, fern von den Menschen, bewundere ich Gott in der Herrlichkeit dieser Wildnisse; hier bereite ich mich auf meinen Tod vor, an dessen Nähe mich mein hohes Alter bereits täglich und stündlich mahnt.

Bei den letzten Worten sank der Einsiedler auf seine Kniee nieder, und wir folgten seinem Beispiele. Er begann ein lautes Gebet, und Atala betete mit. Hin und wieder blitzte es noch matt[66] am östlichen Himmelssaum, und die Wolken des westlichen schienen das goldene Spiegelbild des Sonnenuntergangs nicht weniger als dreimal zu gleicher Zeit prachtvoll zurückzuwerfen. Einzelne durch den vorangegangenen Orkan verscheuchte Füchse lagen mit lauerndem Blick da und dort an den Felsenhängen, und man vernahm das Rauschen der Pflanzen, die, im Wehn des Abendwinds trocknend, ihr gebeugtes Haupt wieder emporrichteten.

Wir kehrten ins Innere der Grotte zurück, wo der Einsiedler ein Cypressenmooslager für Atala bereitete. Blicke und Geberden der Jungfrau drückten Gram und Schwermuth aus; sie sah den Pater Aubry an, als wollte sie ihm ein Geheimniß mittheilen, doch es schien sie irgendwas davon zurückzuhalten, war es nun meine Gegenwart, oder war es ein falsches Gefühl von Scham, oder endlich das Zwecklose des Geständnisses selbst. Ich hörte sie mitten in der Nacht aufstehen; sie suchte den Einsiedler; aber nachdem er ihr sein Lager eingeräumt, war er hinausgegangen, um die Schönheit des Himmels zu betrachten, und auf der Spitze des Berges zu Gott zu beten. Er sagte mir den andern Morgen, das sei selbst im Winter seine Gewohnheit, weil er es gerne sähe, wenn die Wälder ihre kahlen Wipfel schüttelten, und die eilenden Wolken, vom Sturm gepeitscht, dahinflögen, und weil er mit Vergnügen das Rauschen des Windes und der Bergströme vernehme. Atala mußte daher zu ihrer Lagerstätte zurückkehren, wo sie bald wieder einschlief. Ach! von seligen Hoffnungen trunken, sah ich in Atalas Schwäche nichts als vorübergehende Zeichen von Müdigkeit.

Am nächsten Morgen erwachte ich beim Gesange der Cardinal- und Spottvögel, die in den Lorbeer- und Akazienbäumen nisteten, welche die Grotte umgaben. Ich pflückte eine Magnoliarose, und legte sie, feucht von den Thränen des Morgens, auf das Haupt der schlummernden Atala. Ich hoffte, nach dem religiösen Glauben meines Landes, die Seele eines sanft und süß an der Mutterbrust gestorbnen Kindes werde in einem Thautropfen auf diese Blume herniederschweben, und ein glücklicher Traum sie in den Schooß meiner künftigen Gattin tragen. Dann suchte ich meinen gastlichen Wirth auf; ich fand ihn mit aufgeschürztem[67] Gewande, einen Rosenkranz in der Hand, auf einem vor Alter eingesunkenen Fichtenstamm sitzend, wo er mich erwartete. Er lud mich ein, mit ihm zur Missionsanstalt zu gehen, während Atala noch ruhte. Ich nahm sein freundliches Anerbieten an, und wir machten uns sogleich mit einander auf den Weg.

Als wir den steilen Gebirgspfad hinunterstiegen, bemerkte ich Eichen, in welche unbekannte Schriftzüge von Geisterhänden eingegraben schienen. Der Einsiedler sagte mir, er selbst sei es gewesen, der sie in die Bäume eingeschnitten habe, und es seien Sinnsprüche eines uralten Dichters, Namens Homeros, und Sprüche eines noch älteren Dichters, welcher Salomo geheißen habe. Ich fand eine gewisse geheimnißvolle Harmonie zwischen dieser Weisheit der Zeiten, diesen mit Moos überwachsenen Versen, diesem alten Einsiedler, der sie eingegraben, und diesen alten Eichen, die ihm statt der Bücher dienten.

Auch sein eigener Name, sein Alter und der Stiftungstag seiner Missionsanstalt waren am Fuße dieser Eichen auf einem Schilfrohr verzeichnet. Die außerordentliche Gebrechlichkeit dieses letztern Denkmals nahm mich einigermaßen Wunder; und doch, bemerkte der ehrwürdige Greis, wird es länger dauern als ich, und mehr Werth haben, als das wenige Gute, was ich zu leisten im Stande war. –

Wir kamen von da in ein weites, liebliches Thal hinein, wo ich ein wunderbares Werk erblickte. Es war eine natürliche Felsenbrücke, ähnlich jener in Virginien, von der du vielleicht schon reden gehört hast. Die Menschen, mein Sohn, vorzüglich die aus deinem Land, ahmen oft die Natur nach, ihre künstlichen Nachahmungen sind indeß gewöhnlich matt und kleinlich. So ist es nicht mit der Natur; wenn sie einmal zum Schein die Gebilde der Menschen nachahmt, dann liefert sie ihnen im Gegentheil gleich treffliche Muster. Dann wirft sie Brücken von einem Berggipfel zum andern, hängt Straßen in die Luft hinein, macht Ströme zu Kanälen, pflanzt Berge als Säulen hin, und gräbt neue Becken selbst für das Meer.

Wir gingen unter dem wahrhaft einzigen Bogen dieser Brücke hindurch, und befanden uns vor einem andern Wunderwerk;[68] es war der Friedhof der indianischen Mission, der Hain des Todes. Der Pater Aubry hatte nämlich den neubekehrten Indianern erlaubt, ihre Todten nach dem Brauch des Landes zu begraben, und für ihre Begräbnißplätze die althergebrachten Benennungen der Wilden beizubehalten; nur hatte er den Ort durch ein einfaches Kreuz2 geheiligt. Der Boden dieses Kirchhofs war, wie ein gemeinschaftliches Erntefeld, in ebenso viele einzelne Loose abgetheilt, als es in der Mission Familien gab. Jedes Loos bildete für sich selbst ein Gebüsche, welches nach dem Geschmack Derer, die es anlegten, einen verschiedenen Anblick darbot. – Zwischen diesen Gebüschen hindurch schlängelte sich geräuschlos ein Bach, er hieß der Bach des Friedens. Diese heitere Freistatt der Ruhe war gegen Morgen durch die Brücke geschlossen, unter der wir hindurchgekommen waren; zwei Hügel begränzten sie gegen Norden und Süden; nur gegen Westen lag sie frei da, wo ein großer Tannenwald emporstieg. Die röthlichgrünen Stämme dieser Bäume, die bis an ihre Wipfel ohne Seitenäste waren, glichen hohen Säulen, welche die Vorhalle dieses Tempels des Todes bildeten. Ein eigenthümliches feierliches Rauschen, den fernen Tönen der Orgel in einem hohen gewölbten Dome ähnlich, drang daraus hervor; wenn man jedoch das Innere dieses Heiligthums betrat, so vernahm man nur die Hymnen der Vögel, welche hier zum Andenken der Todten ein ewiges Requiem sangen.

Beim Heraustreten aus diesem herrlichen Hain erblickten wir die einfachen Häuser des jungen Missionsdorfes, welches an einem See, in einer lieblichen grünen Sawanne lag, die mit Blumen wie übersät war. Man gelangte dahin durch eine Allee von Magnoliabäumen und grünen Eichen, welche eine jener uralten Straßen begränzten, die man auf den Gebirgen zwischen Kentucky und den Floriden antrifft. Sowie die freundlichen Indianer den geliebten Hirten der Gemeinde durch die Ebene schreiten sahen, verließen sie auf der Stelle ihre Arbeiten und liefen auf ihn zu. Die Einen küßten ihm die Kleider, die Andern leiteten seine Schritte; die[69] Mütter hoben ihm ihre Kinder auf den Armen entgegen, um ihnen den Mann Jesu Christi zu zeigen, welcher sanfte Thränen dabei vergoß. Er erkundigte sich im Weitergehen nach den kleinen Tagsneuigkeiten des Dorfes, ertheilte dem Einen Rath, dem Andern einen sanften Verweis, sprach von der nächsten Ernte, von dem Unterricht der Kinder, vom Trost in Leiden, und verwies in jeder seiner Reden zuletzt auf Gott den Herrn.

Unter einem solchen Geleite kamen wir denn endlich am Fuße eines großen Kreuzes an, welches am Wege stand. Hier feierte der Diener Gottes gewöhnlich die heiligen Geheimnisse seines Glaubens. – Meine lieben Freunde, nahm er das Wort, indem er sich mit freundlichem Gesicht zu seiner jungen Gemeinde wandte, ihr habt einen Bruder und eine Schwester bekommen, und zu meiner nicht geringen Freude sehe ich, daß die himmlische Vorsehung gestern überdieß eure Ernten in Gnaden verschont hat; zwei wichtige Ursachen, um ihr zu danken. Laßt uns daher jetzt gleich das heilige Opfer vollbringen, und Jeder wohne demselben mit tiefer Andacht, mit starkem Glauben, innigem Dank und von Herzen demüthig mit mir bei!

Jetzt wirft der göttliche Priester ein weißes Gewand von dem Baste des Maulbeerbaums um; die heiligen Gefäße werden aus einer Lade am Fuß des Kreuzes herausgenommen; auf einem Felsenstück erhebt sich der Altar, aus dem nahen Bache wird das Wasser geschöpft, und eine Traube der wilden Rebe liefert den Opferwein; wir Andern knieen im hohen Grase nieder, es fängt an in seiner rührenden Feier, in seiner himmlischen Schönheit, das heilige Geheimniß.

Das neue Morgenroth, welches jetzt hinter den Bergen heraufleuchtete, tauchte den ganzen östlichen Bogen des Firmaments in Glanz und Purpur. Ringsumher durch die Wildniß glänzte Strom und Hügel, Baum und Blume von lauter Gold und Rosenschein. Das durch so vielen Glanz vorherverkündete Gestirn des Tags trat endlich aus einem Meer von Licht hervor, und seine ersten Strahlen fielen auf die geweihte Hostie, welche der Priester gerade in diesem Augenblick emporhob. O Zauber des christlichen Glaubens! O Herrlichkeit des katholischen Gottesdienstes![70] der Opfernde ein alter Einsiedler, der Altar ein Felsenstück, der Tempel die majestätische Wildniß, und kindlich schuldlose Wilde die Beter. Nein, ich meinestheils zweifle nicht daran, daß sich in dem Augenblick, als wir auf die Knie fielen, das geheimnißvolle Wunder in der That vollzog, und daß Gott auf die Erde herabstieg; denn ich fühlte seine Gegenwart in meinem Herzen.

Nach dem Opfer, bei dem mir nur die Tochter des Lopez fehlte, begaben wir uns mit einander nach dem Missionsdorfe. Hier herrschte die reizendste Mischung des gesellschaftlichen und des Naturlebens: an dem Saum eines Cypressenhaines der ehemaligen Wildniß erblickte man eine neue Pflanzung; goldene Aehren umschwankten den Stamm der gefällten Eiche, und wo noch vor Kurzem dreihundertjährige Bäume gestanden, da winkte jetzt die Ernte eines Sommers. Man sah überall dem Feuer preisgegebene Wälder, aus denen dicke Rauchwolken emporstiegen, während die Pflugschaar zwischen den letzten Wurzelresten derselben schon neue Furchen zog. Die Meßkünstler mit der langen Kette nahmen das Erdreich auf, und Schiedsrichter theilten einem Jeglichen das erste Eigenthum zu; der Vogel trat sein Nest ab an den Menschen, das wilde Thier seine Höhle, und die Schläge der Axt weckten das Echo, das mit den Bäumen erstarb, die ihm zum Aufenthalt dienten.

Voll Entzücken wandelte ich unter diesen ländlichen Scenen umher, welche mir durch das Bild Atalas und die Träume von irdischem Glück, womit ich mein Herz einwiegte, noch lieblicher wurden. Ich bewunderte den friedlichen Triumph des Christenthums über das unstäte Leben der Wilden; ich sah, wie die Stimme der christlichen Religion den Indianer gesellig machte, ich wohnte der Urehe des Menschen mit der Erde bei; mit diesem wichtigen Vertrage überließ der Mensch das Erbe seines Schweißes der Erde, und diese verpflichtete sich dagegen, treulich die jährlichen Ernten, die Söhne und die Asche des Menschen zu tragen.

Inzwischen brachte man dem Missionsgeistlichen ein Kind, welches er zwischen Jasminblüthen an dem Rain einer Quelle taufte, während unter Spielen und Arbeiten ein Leichenzug in den Hain des Todes geschwankt kam. Ein Brautpaar erhielt die[71] priesterliche Einsegnung unter einer Eiche, und wir begleiteten es dann mit einander in seine neue Wohnung in einem Winkel der Wildniß. Der Hirt der Gemeinde schritt vor uns her, und segnete rechts und links Felsen, Baum und Quelle, gleich wie ehemals, nach dem Buch der Christen, Gott die noch unangebaute Erde segnete, als er sie dem Geschlechte Adams zum Erbe gab. Dieser gemeinschaftliche Zug durch die Wildniß, welcher, nebst den nebenherwandelnden Schaf- und Rinderheerden, seinem ehrwürdigen Vorsteher folgte, führte meinem gerührten Herzen das Bild jener ersten Familienwanderungen vor, als Sem mit seinen Kindern in eine ihm neue Welt zog, dem goldenen Stern des Tages folgend, welcher vor ihm herglänzte.

Ich wünschte von dem heiligen Mann einmal zu erfahren, wie er denn seine Pfarrkinder zu lenken und zu leiten pflege, daß sie ihm so gehorchten; er antwortete mir mit großer Bereitwilligkeit: Ich habe ihnen kein Gesetz, sondern nur die eine Lehre gegeben, einander zu lieben, zu Gott dem Herrn zu beten, und auf ein besseres Leben zu hoffen: darin sind die Gesetze der ganzen Welt enthalten. Du bemerkst unter den übrigen Wohnhäusern unseres Missionsdorfes ein kleines hölzernes Gebäude, welches größer ist als die andern: – es ist in der Regenzeit unsere Kapelle. Morgens und Abends versammelt sich die kleine Gemeinde darin, um den Herrn zu loben, und wenn ich nicht da bin, so verrichtet ein Greis das Gebet; denn auch das Greisenalter ist eine Art von Priesterthum. Dann geht man an die Feldarbeit, und wenn gleich das Eigenthum abgetheilt ist, damit ein Jeder die Landwirthschaft erlerne, so werden doch die Ernten in gemeinschaftlichen Speichern aufbewahrt, damit die Bruderliebe erhalten bleibt. Nimm dazu noch unsere religiösen Ceremonien, die vielen heiligen Lieder, das Kreuz, vor dem ich die Messe gelesen, die schattige Ulme, unter der ich an schönen Tagen predige, unsere Gräber, so nahe unsern Getreidefeldern, unsere Ströme und Waldbäche, in welche ich die kleinen Kinder und die heiligen Johannes dieses unseres Neubethaniens zu tauchen pflege, dann hast du einen Begriff von diesem kleinen Reiche Jesu Christi.

Die Worte des Einsiedlers entzückten mich und ich empfand[72] recht lebhaft die Vorzüge eines stäten, heimatlich an Ort und Stelle hängenden und thätigen Lebens vor dem umherschweifenden und müßigen Leben des Wilden.

Ach! René, ich hadere nicht mit der Vorsehung; doch ich gestehe, daß ich mich nicht ohne ein schmerzliches Gefühl an jene evangelische Gesellschaft erinnern kann. O! Ein solches Waldhaus, und darin meine Atala, wie namenlos glücklich hätt' es mich gemacht an jenen Ufern! Dort wäre meinen Irrfahrten ein Ziel gesetzt worden; dort wär' ich mit meiner Gattin, den Menschen unbekannt, und mein Glück im Schooß der Wälder bergend, vorübergegangen, gleich den Flüssen der Wildniß, die nicht einmal einen Namen haben. Anstatt dieses Friedens, den ich damals zu hoffen wagte, welchen Stürmen waren meine Tage noch ausgesetzt! Ein ewiger Spielball des Glückes, von einem Gestade ans andere verschlagen, längere Zeit sogar aus meinem eigenen Vaterland verwiesen, und ein flüchtiger Fremdling in fernen Landen, fand ich bei meiner Rückkehr Haus und Hof in Schutt und Asche, und meine Freunde im Grabe. – Das war das Schicksal des Schakta.

1

Giraumont, eßbarer Eibisch, mit Früchten so groß wie Melonen.

2

Der Pater Aubry machte es also gerade so wie die Jesuiten, die den Chinesen auch erlaubten, ihre Todten nach dem Gebrauch jenes Reiches in Hof und Garten zu begraben.

Quelle:
[Chateaubriand, François René, Vicomte de]: Chateaubriands Erzählungen. Leipzig und Wien [1855], S. 63-73.
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