Impetus Philosophicus

[618] Wenn ich einen bittern Geschmack auf der Zunge habe, so schmeckt mir bitter, was mir zu einer andern Zeit nicht bitter schmeckt; habe ich einen sauern, so schmeckt mir sauer, was mir zu einer andern Zeit nicht sauer schmeckt usw. Man kann aber einen Zustand der Zunge annehmen, darin die Dinge zu aller Zeit einen, und ihren eigentlichen, Geschmack haben. Welcherlei dieser Zustand auch sei, so ist er der einzige, darin die Zunge[618] über den Geschmack der Dinge recht urteilet; denn in einem jeden andern schmeckt sie nicht die Dinge, sondern sich selbst.

Hiob war glückselig und zufrieden233, und Hiob verfluchte den Tag seiner Geburt234; dem Ritter Rhamsay war vor seiner Bekanntschaft mit Fénelon das Christentum eitel und leer, und nach seinen Unterredungen zu Cambray, hoch und heilig. Es geht denn dem Herzen und dem Verstande des Menschen, wie seiner Zunge. Man kann aber auch hier einen Zustand annehmen, darin die Dinge zu aller Zeit einen, und ihren eigentlichen, Eindruck machen. Welcherlei dieser Zustand auch sei, so ist er der einzige, darin der Mensch über die Gestalt und Beschaffenheit der Dinge recht urteilet; denn in einem jeden andern sieht er nicht die Dinge, sondern sich selbst.

Nach diesen Beobachtungen gewinnen alle Urteile, Theorien und Systeme der Züngler und Verständler etc. ein sehr zweideutiges Ansehen, weil in den meisten Fällen, und fast immer und bei allen Menschen, die Farben nicht, nach Newton, aus dem Lichtstrahl allein, sondern, nach Goethe, auch aus andern mitwürkenden Ursachen entstehen; und es will das Ansehen haben, daß es für den dritten Mann, der nicht selbst Bescheid weiß, nicht sowohl ankomme, auf: was gesagt wird, sondern auch auf: wer es sagt.

Dieser Afternimbus um unsre Gedanken und Gesinnungen – Νεφελη κελαινη –, dadurch in uns die Strahlen des Lichts gehemmt und gebrochen werden, kommt mit dem Menschen auf die Welt. Er ist, wie der andre Nebel, morgens am dichtesten; er verdünnt, nach der Regel, sich den Tag über, und nimmt ab; er kann aber auch zunehmen.

An ihm und an seiner Beschaffenheit hangt der Unterschied zwischen Kain und Abel, zwischen Nebukadnezar und Salomo, zwischen dem Riesen Goliath und Fabius Cunctator, zwischen Voltaire und Sokrates, zwischen Pascal und Cartouche usw. Deswegen ist er auch von jeher die Angelegenheit denkender und gutgesinnter Menschen, und der Gegenstand aller Religion und wahren Philosophie gewesen. Der alte ägyptische Priester sprach von einem schwarzen Blutstropfen in den Eingeweiden des Menschen, der ausgewaschen werden müßte; Konfuzius von einem Flecken im Willen des Menschen, dadurch, seine Natur vom Himmel, verdunkelt und geschwächt würde; die Japaneser nannten[619] den Stifter ihrer Religion Sammanu- Kuthana, das ist, nach Kämpfern, in ihrer Sprache: ein Mensch ohne Affekten usw. Überhaupt drehen sich die Schriften der alten Weisen, Chineser, Indier, Parsen, Ägypter, Griechen etc. um diesen Gegenstand als um ihren Mittelpunkt.

Es ist eine feine Bemerkung der Physiognomen, daß das Angesicht des physischen Menschen eigentlich nur nach seinem Abscheiden bedeutend sei, daß es, bei seinem Leben, durch die Begierden und Leidenschaften aufgetrieben und verstellt werde, und nur in der Leiche sich senke, und in seine eigentliche Gestalt zurücktrete.

Mit dem Angesicht des geistigen Menschen verhält es sich anders. Das wird zwar auch, im Leben, durch jenen Nimbus verstellt und aufgetrieben; es sinkt aber im Tode nicht zurück, sondern bleibt stehen, wie es durch ihn vor und im Tode verstellt und aufgetrieben war.

Die Erfahrung, was dieser Nimbus für Leid und Not und Elend in diesem Leben anrichtet, und die Furcht was er in jenem, wo er noch weniger hingehört, anrichten werde, hat natürlich von jeher die Menschen veranlaßt und getrieben, sich nach Rat und Hülfe umzusehen, und alles, was ihnen hier Hoffnung und Aussicht machte, mit beiden Händen zu ergreifen. Und daher kommt es wohl, daß bei allen Völkern die Reinigungen ein Hauptstück ihrer Religion gewesen sind, und daß sie sich diesen Reinigungen gerne und willig unterworfen haben, so hart und beschwerlich, und so langwierig sie zum Teil auch waren; wie denn, zum Exempel, bei den Parsen die Reinigung Baraschnom-No-Schabe neun Tage, und verschiedene bei den Indiern Wochen und Monate dauerten.

Wenn man diese Reinigungen, wie sie bei den verschiedenen Völkern im Gebrauch waren, und zum Teil noch sind, näher ansieht; so merkt man ihnen wohl an, daß sie etwas anders sind und sein sollen, als Moral und philosophische Wege, die Begierden und Leidenschaften zu zähmen und zu ordnen. Aber wie sie eigentlich gemeint sind, und ihr Verhältnis zu dem, was sie leisten sollten und wozu sie eingesetzt und angeordnet waren, ist ihnen nicht so leicht anzumerken; und gehören dazu scharfe Augen und geübte Sinne.

Auch ist sehr wahrscheinlich, daß diese Reinigungen, die ursprünglich aus guten Quellen geschöpft sein mochten, mit der Zeit, wie alle Anordnungen unter Menschen, verfallen sind, und[620] dürre Zeremonien geworden; und daß die Priester die Kunst sie zu beleben verloren haben.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 618-621.
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