Morgengespräch zwischen A. und dem Kandidaten Bertram

[645] BERTRAM: Da ist die Sonne wieder, Herr A!

A: Heißt mich nicht Herr; ich bin kein Herr, und habe nichts zu sagen. Heißt mich Bruder, oder Vater, oder wie Ihr wollt.

BERTRAM: Nun denn, Vater, ich sagte, daß die Sonne wieder dasei.

A: Und, Sohn, ich sage, daß ich sie eher gesehen habe, als du.

Sie schien mir heute früh beim Aufgehen lebendig in die Fenster, und weckte mich, und jagte mich aus dem Bette.[645]

BERTRAM: Guten Morgen denn! – Ihr seht so heiter aus, Vater.

A: Wer kann mürrisch sein, wenn man so freundlich geweckt worden ist.

BERTRAM: Aber, was meint Ihr, wie die Sonne gestaltet sei, oder was sie eigentlich für eine Gestalt habe?

A: Mir scheint sie rund zu sein. Doch weit weg ründet sich alles; die Ecken und Spitzen verlieren sich in der Ferne.

Aber, wie kommst du auf die wunderliche Frage, so früh morgens?

BERTRAM: Ich habe den Kopf voll von gestaltet und Gestalten, von wegen eines Traums, den ich diese Nacht gehabt habe, und den ich Euch doch erzählen muß.

A: Wie? Träumen die Gelehrten auch, Sohn?

BERTRAM: Ja, Vater, sie träumen auch.

A: Und was hat dich denn die Nacht geträumt?

BERTRAM: Mich träumte, ich sollte zur Wahl predigen, und das vorgeschriebene Thema war, zu sagen: warum ein Stein wie ein Stein, ein Tier wie ein Tier, ein Baum wie ein Baum, und ein Baum, ein Tier, ein Stein anders als der andre gestaltet sei; kurz, woher und wozu ein jegliches Geschöpf die bestimmte Gestalt habe, die es hat?

A: Und was hast du darüber geprediget?

BERTRAM: Ich hatte eine Predigt gemacht, des Inhalts: daß ich über das vorgeschriebene Thema lange und mit Fleiß nachgedacht hätte, um der Gemeine zu sagen: woher und wozu die verschiedenen Geschöpfe ihre eigentümliche bestimmte Gestalt haben; daß ich es aber, dem ohngeachtet, nicht wisse; und es also der Gemeine auch nicht sagen könne.

A: Sehr konsequent, Herr Bertram. Und was sagte die Gemeine zu deiner Predigt?

BERTRAM: Ich habe sie nicht gehalten. Ihr wißt, was Baco sagt240. – Und mit einem Wort, ich schämte mich, nicht zu wissen, und es öffentlich zu gestehen.

A: So ist es mit uns Menschen, Herr Bertram. Wo wir uns nicht schämen sollten, da schämen wir uns; und wo wir uns schämen sollten, da schämen wir uns nicht.

Aber, wie lief es weiter mit dir und deiner Predigt?

BERTRAM: Ja, wie lief es! Ich schämte mich, wie gesagt, und suchte mir zu helfen.[646]

Vor einer aufgeklärten Gemeine, wie die meinige, nach dem vorgeschriebenen Thema, zu vermuten war, wollte ich vom Glauben nicht predigen; auch bin ich, aufrichtig gesagt, selbst ein sehr großer Freund vom Räsonnement. Und so predigte ich: – »Wie die Ebbe und Flut an den Küsten des Meers und in den Mündungen der Flüsse, aufs Geratewohl, Inseln und Sandbänke von verschiedener mannigfaltiger Gestalt und Größe bildet, und wieder zerstört; so bilde die große allgemeine Weltebbe und -flut die Körper der Geschöpfe in verschiedener mannigfacher Gestalt und Größe, und zerstöre sie auch wieder. Mehr ließe sich davon nicht sagen, und alles weitere sei Götzendienst und Täuschung und Aberglauben.«

A: Bertram! – Aber du hättest doch lieber mit Götzendienst und Aber-glauben nicht so um dich werfen sollen, wenn du auch recht hättest.

Und was meinst du, wenn manches, das für Weisheit angesehen wird, im Grunde, Aber-glauben und Götzendienst wäre! Du selbst dienst Götzen; du selbst glaubst-aber. Und du kannst an deinem eignen Exempel sehen, lieber Bertram, was daraus wird, wenn man, wo man nicht weiß, doch erklären und ins reine bringen will.

BERTRAM: Was habt Ihr denn gegen meine Weltebbe und -flut?

A: Unter andern, daß sie nicht wahr ist; und auf die Kanzel gehört bloß Wahrheit, gehören bloß göttliche Dinge, die nicht allein in sich, sondern auch in dem Herzen des Priesters, wahr sind. Denn so nur können sie in die Herzen der Zuhörer übergehen. Und sie gehen am leichtesten über, wenn sie schlecht und recht, und ohne Inseln und Sandbänke, eingegeben werden.

Überhaupt Worte sind Worte, und man kann dabei nicht genug auf seiner Hut sein. Wo sie würkliche Gegenstände haben, da geht alles ziemlich gut und sicher; wo sie aber mit abstrakten Begriffen umgehen, da wird guter Rat teuer.

Die Clerici wissen und sagen von einem Steigen der Natur von den niedrigsten Wesen zu höhern, und so fort zu höhern – und was sie weiter sagen –

Hätten nun die Philosophen gesucht, hier einzudringen; und wären sie diesem geheimen Gang der Natur gefolgt241; so hätten[647] sie immer zu Gegenständen würkliche Wesen gehabt, und mittelst einer Philosophie, die, wie Baco sagt, nicht opinio sondern opus war, sein commercium mentis et rerum hergestellt ... und das wäre ein echter Realismus gewesen.

Doch das war res ardua et sublimis; und sie glaubten sie in ihrer willkürlichen Abstraktion, und durch ihre species und genera erreicht zu haben. – Dies aber gab eine Philosophie, wie Baco sagt, ad garriendum promta, ad generandum invalida – Controversiarum ferax, Operum effoeta; kurz, was du eigentlich Idealismus nennen kannst, wo nämlich die Gegenstände nur in den Köpfen existieren242.

Und weil nun einer so abstrahierte und konstruierte, der andre so; der dies meinte, der andre das; so ging es bunt durcheinander, daß der dritte Mann am Ende kaum wissen kann, was gemeint wird.

Und hier sind Worte und Phrasen die leibhaften Cartesianischen Teufelchen243. Man sieht sie mit Vergnügen auf und ab steigen, und bewundert die Erfindung. Übrigens wird nichts damit ausgerichtet, nichts dabei verloren noch gewonnen. Auch gewöhnlich sind sie den Erfindern selbst nur bei gutem Wetter interessant, und halten nicht, wenn's trübe wird und Ernst gilt244.

BERTRAM: Aber, Vernunft ist doch eine hohe Gabe!

A: Mehr als eine Gabe. Sie ist, sozusagen, ein Teil des Gebers. Aber sie ist, wie Vulkan, durch den Fall lahm geworden. Zwar hat sie immer noch ihren Mut, wirft immer noch Strahlen von sich; und, wo sie unterrichtet ist und sich au fait[648] setzen kann, tut sie noch Wunderdinge. Nur sie geht an Krücken, und krüppelt. – Weiß aber jemand sie gesund zu machen; so wirft sie alles von sich, und bedarf durchaus keines Dinges, als ihrer selbst, um hell und klar vor und hinter sich zu sehen.

Und diese Seher-gabe ahndeten und fühlten die Philosophen dunkel in ihrer Seele; die meinten sie, ohne es selbst zu wissen, in ihrem: a priori – und gingen nur den unrechten Weg, sie werktätig zu machen.

BERTRAM: Warum gingen sie nicht den rechten?

A: Weiß ich's? – Weil sie ihn nicht kannten, weil sie ihn nicht gehen wollten. Der andre hat Schein, und ist bequemer.

BERTRAM: Ich merke ohngefähr, mit wem ich zu tun habe; aber ich bin noch nicht recht klug aus Euch.

A: Dazu kann Rat werden, wenn es sonst der Mühe lohnte.

BERTRAM: Und ich will auch vor Euch nicht anders scheinen, als ich bin.

Seht, mir ist würklich an Religion gelegen.

A: Mir auch, Herr Bertram.

BERTRAM: Und ich achte die Leute, die sich mit ihr zu tun machen, und sich Mühe geben, in ihr Geheimnis einzudringen.

A: Ich auch, Herr Bertram.

BERTRAM: Was dünkt Euch von den Gelehrten, die durch die Philosophie einzudringen suchen?

A: Die kommen mir vor, wie Zachäus, der auf einen Maulbeerbaum stieg, um Christus zu sehen.

Religion ist die sie ist. Sie ist eine lebendige Kraft; und die kann nicht zergliedert und zusammengesetzt werden, und ist also der Philosophie und ihrer Kunst nicht unterworfen.

Wo sie nicht erfahren wird, da ist und bleibt sie unbekannt.

BERTRAM: Wollt Ihr denn gar nicht von Philosophie und Vernunft wissen.

A: Bewahre! Hast du schon vergessen, was ich vorhin sagte? Ich ehre sie vielleicht mehr als du; und ich habe wohl an ihren feinen Erörterungen und Darstellungen meine Freude. Ich habe nur einiges wider sie; unter andern, daß sie, mit, ihrer lahmen Hüfte, oft das große Wort haben und die Frau im Hause spielen will, ohne von dem Detail des Hauswesens unterrichtet zu sein; unter andern, daß sie immer sehen, und nicht glauben will usw. Und es gibt doch würklich manche Dinge, an denen uns gelegen ist, die wir vorher glauben müssen, wenn wir sie sehen wollen, Herr Bertram.[649]

BERTRAM: Zum Exempel?

A: So solltest du eigentlich nicht fragen, da im täglichen Leben und in der Heiligen Schrift dergleichen Exempel viel und so oft vorkommen.

Wenn zum Exempel Noah nicht geglaubt hätte; so hätte er die Arche nicht gebaut, und wäre, selbacht, nicht erhalten worden.

Wenn zum Exempel Moses nicht geglaubt hätte; so würde er den mißlichen und gefährlichen Auftrag beim Pharao nicht übernommen haben, und hätte die Freude nicht gehabt, sein Volk aus der Sklaverei zu befreien.

So weißt du, zum Exempel, die Geschichte von Abraham, und von seinem Auszug. Ein jedweder Mensch ist ein Abraham, und hat ein Gelobtes Land, das ihm verheißen ist. Wenn er aber daran nicht glaubt; so bleibt er bei seiner Freundschaft, wo es ihm wohl ist, und kriegt das Gelobte Land mit keinem Auge zu sehen. Oder willst du dies lieber so haben: dein Geschäft als Theologe ist, die Menschen in den Himmel zu bringen. Wer aber nicht an den Himmel glaubt, der tut keine Mühe und kommt also nicht hinein, und du predigest vergebens und in den Wind, usw.

Ist denn der Glaube nicht etwas Gutes, Herr Bertram?

BERTRAM: Aber, wenn nun die Philosophen suchen, den Glauben vernünftig zu machen?

A: Sie täten besser, wenn sie suchten, die Vernunft gläubig zu machen. Das würde ihnen mehr Segen bringen, und wahrlich auch mehr Ehre. Denn es ist etwas Rechtliches und Gutes darin, wenn ein Mensch von Scharfsinn und Talent, am rechten Ort, seine Einsicht aufgibt und für nichts achtet, um einer höhern zu huldigen, zu glauben, und zu vertrauen – es ist darin so etwas Rechtliches und Gutes, daß man einigermaßen begreift, wie der Mensch durch eine solche Aufopferung selbst empfänglicher wird, und wie Gott dadurch gereizt und gewonnen werden, oder, nach dem Ausdruck der Heiligen Schrift, wie dem Abraham sein Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet werden kann.

An sich könnten Vernunft, und Glaube gerne gemeinschaftlich, wie Freunde, miteinander leben; doch die meiste Zeit und fast immer entstehen daraus böse Händel.

Ich habe keine Stimme; aber ich führe dir wieder deinen Baco an245, der auch mein Mann ist.[650]

BERTRAM: Nun infallibel ist mir Baco nicht, wie er Euch zu sein scheint.

Aber kommt mir hier mit einem Exempel zu Hülfe. Ihr waret ja bisher reich an Exempeln.

A: Ich habe dir bisher so viel wider die Philosophen gesagt, daß mehr den Verdacht erregen könnte, als wären sie Feinde; und ich habe Freunde unter ihnen.

BERTRAM: Hilft nicht. Magis amica Veritas. Kurz, ich lasse Euch nicht; Ihr müßt mir die Philosophia fantastica und Theologia haeretica des Baco, und Euer: gemeinschaftlich, und die bösen Händel mit einem Exempel belegen.

A: Nun denn: Nach der Heiligen Schrift hält der Glaube: daß das Wort im Anfang bei Gott und Gott war246; daß alle Dinge durch dasselbige gemacht sind247; daß es dem Moses anvertrauet worden248, und auf der Reise in der Wüste mitgefolgt ist249; und daß es in der Fülle der Zeit unter ihnen Fleisch geworden250.

Wenn nun die Vernunft hier sagte: »Die Rede ist mir geheim und dunkel. Wäre ich von dem Geheimnis unterrichtet; so würde ich darüber urteilen, und Erklärungen geben können. Bis dahin lasse ich es sein, was es ist; denn ich verstehe es nicht.« Sieh, das wäre recht und ehrlich gesprochen, und niemand zu nahe getan.

Wenn aber die Vernunft sich hier einmischt, und über Christus Untersuchungen anstellt, als übersähe sie die Sache; wenn sie zum Exempel beweist, daß ein Christus allein unter den Juden möglich gewesen; daß dies Volk durch eine vierzigjährige Entfernung vom Götzendienst, durch die Lehre von einem Gott usw. dazu qualifiziert worden; so gefällt das männiglichen, verwirrt aber, wie gut es auch gemeint sein mag, und bahnt den Weg, daß der Christus des Glaubens in einen armseligen Christus der Vernunft verwandelt wird. Theologia haeretica.

Und jene Beweise stehen zum Teil auf schwachen phantastischen Füßen. Denn wie groß die Juden auch unter Moses waren, und durch ihn und seine Lehre fernerhin hätten sein und werden können, und wie gut er es mit ihnen im Sinne hatte – sie stießen ihn ja von sich, als sie kaum über die Grenze waren und wandten ihre Herzen gen Ägypten251; sie machten ja schon am Sinai ein[651] goldenes Kalb und opferten den Götzen Opfer252; sie waren ein halsstarriges Volk, solange Moses lebte, und verfielen nach seinem Tode und in den folgenden Zeiten ganz und gar, daß sie auch, wie er ihnen vorhergesagt hatte, zerstreuet und nach Ninive und Babel geschleppt wurden; und als Christus selbst kam, verspotteten und verlachten sie ihn – so daß vielleicht damals kein Volk in der Welt weniger, als das Volk der Juden, qualifiziert war, Christum unter sich aufstehen zu lassen, wenn nicht andre Gründe seines Aufstehens gewesen wären.

BERTRAM: Das ist alles wahr; aber ich kann und kann dem Räsonnement nicht entsagen.

A: Und warum wolltest du auch. Halte du fest an deiner Frömmigkeit.

Ich will unterdes, und in Ermanglung eines Bessern, versuchen, ob ich dir deine Weltebbe und -flut verleiden, und gegen eine andre Idee umsetzen kann.

BERTRAM: Tut es, wenn Ihr könnt. Ich höre aufmerksam zu, und will Fleiß tun, daß ich Euch nicht mißverstehe.

A: – und mich entschuldigest, wenn es nötig sein sollte. – Doch zu unsrer Sache.

Das darf ich dir nicht sagen, daß ein blindes Bewegen, und ein Treiben aufs Geratewohl in dem Werk eines weisen Meisters nicht angenommen werden kann, und daß hier alles Absicht und Zweck haben muß. Aber deine Weltebbe und -flut soll einstweilen statthaben, und, wie du sagst, die Körper der Wesen, die um uns her sind, aufs Geratewohl bilden und fertigen.

Du glaubst doch, daß in den Bäumen, Tieren und allen körperlichen Wesen ein innerliches Prinzip sei, ein Lebendiges, ein Geist, der eigentlich kein Geist ist, den wir aber, um kürzer sprechen zu können, Geist nennen wollen.

Nun stehen die Geister von Löwen, Bären, Rosenstöcken, Schafen, Zedern, Tannen, Tigern, Eichen, Rhinozeros, Mücken, Elefanten, Schlangen, Kolibris, Dromedaren usw. um die Fabrike deiner Weltebbe und -flut, und warten auf ihren Körper, und wie die Körper in der Fabrike fertig geworden sind, werden sie den Geistern ausgeteilt.

Aber in einer solchen blinden kopflosen Wirtschaft konnte doch leicht ein Mißgriff bei der Austeilung geschehen. Und wenn nun der geschehen wäre, und, zum Exempel, dem Geist eines Schafs der Körper eines Wolfs, dem Geist einer Mücke der Körper[652] eines Elefanten, dem Geist einer Schlange der Körper einer Eiche usw. zuteil geworden wäre; wie hätten sich diese Geister in diesen Körpern zurechtfinden, und sich darin benehmen wollen?

BERTRAM: Ja, so wäre der Geist des Schafs ein Wolfsgeist, der Geist der Mücke ein Elefantengeist, der Geist der Schlange ein Eichbaumsgeist geworden, usw.

A: Meinst du das? – Also machte der Körper den Geist? – Das ist etwas unnatürlich, und schwer zu glauben.

Ich kehre die Sache lieber um, und denke, daß der Geist den Körper mache. Er macht ihn, ohne daß er sich des bewußt wäre, das ist: er drückt die Natur, Art, Eigenschaft, Anlage etc. die in ihm ist, äußerlich aus. Als, zum Exempel, der Geist der Schlange hatte in sich den Trieb und die Anlage zu kriechen, sich in allerlei Wendung zu krümmen etc. und er drückte das in einem Körper aus, der zu dem allen geschickt war. Und so mit allen Geschöpfen.

BERTRAM: Der Geist sollte selbst den Körper machen! –

Wie machte er das?

A: Das weiß ich nicht; aber darum kann ich doch nicht daran zweifeln. Denn, andre Gründe ungerechnet, sage mir doch, wenn die Geister sich die Körper nicht selbst machten, sage mir doch, wie kämen sie hinein. Wenn, zum Exempel, der Geist einer Eiche nicht in dem Keim wäre, und den Keim zum Baum machte, wie käme er in die Eiche? – Und in jeder Eiche ist doch einer.

»Die Geister gehen nur in ihren Körper, und in keinen fremden.«

BERTRAM: Aber, ich bitte Euch, welche Absicht könnten die Geister bei dieser Arbeit haben?

A: Gar keine. Denn sie können überhaupt keine Absichten haben; sie können aber Absichten erfüllen und ausführen, ohne sie zu haben.

BERTRAM: Fahrt fort, Vater. Gott kann Absichten haben, und sie durch die Geister erfüllen und ausführen lassen.

A: Das laß ich mir gefallen, Sohn.

BERTRAM: Aber, was könnten das für Absichten sein?

A: Man sucht die Menschen, und findet sie selten oder gar nicht, die, wenn von Gott und seinen Absichten gefragt wird, vollen Bescheid geben können, und volle Garben in Händen haben. Hier mußt du mit einzelnen Körnlein, die auf dem und jenem fremden Acker gesammlet sind, vorliebnehmen.[653]

Wir sehen, daß alles Wesen in seinen Ursprung zurückkehrt, ein jedes nach seiner Art. Die Bäche und Ströme laufen und rennen, bis sie wieder in dem Ozean sind, aus dem sie entstehen. Die Geister der Pflanzen und Tiere etc., die einen cursum durch die körperliche Natur zu machen haben, sind in beständiger Arbeit und Bewegung, bis sie des Jochs wieder los, und wieder in ihren Ozean eingegangen sind. Und der Mensch, der aus Gott entsprungen ist, sehnet und ängstiget sich immerdar, und findet und hat keine Ruhe als in Gott.

Seit der Mensch aus dem väterlichen Hause in dies fremde Land verbannet worden, ist er in eine sinnliche Natur gehüllet, dadurch ihm der Anblick des Vaters und des väterlichen Hauses genommen ist. Er fühlt sich freilich, und in seiner Brust wohnet eine Ahndung seines Ursprungs. Aber, weil er hier sinnlichen Eindrücken preisgegeben ist, und seine Heimat für ihn im Dunkeln liegt; so erstickt »die Sorge der Welt und der betrügliche Reichtum etc.« die Ahndung in seiner Brust, und er vergißt des Vaters.

Nun »verkündigen die Himmel Gottes Ehre, ein Tag sagt's dem andern, und eine Nacht tut's kund der andern. Es ist keine Sprache noch Rede, darin man nicht ihre Stimme höre«.253

BERTRAM: Das begreife ich; aber wozu so mancherlei Geschöpfe, und die tausend und tausend verschiedene Gestalten?

A: Der Mensch, in seinem itzigen Zustande, kann Gottes Wesen in der ganzen ungeteilten Vollkommenheit nicht fassen. Er kann nur Stückwerk fassen; nur zerstreute einzelne Züge.

Ein jedes Geschöpf hat eine Spur von Gott an sich, dies diese, jenes eine andre. Und du kannst die Geister aller der verschiedenen Geschöpfe, die um uns her sind, als so viele Boten ansehen, die in die Zeit gesandt worden, daß sie uns nicht allein an den Vater erinnern, sondern auch, ein jedes durch seine Natur, Art und Eigenschaft, etwas von ihm sagen und kundtun sollten. Und weil diese Boten, ob sie gleich, wie gesagt, nicht eigentlich Geister sind, doch von uns nicht gesehen werden konnten, und also für uns vergeblich gesandt wären; so mußte ein jeder ein sichtbares Kleid anziehen, darauf seine Natur, Art und Eigenschaft mit leserlicher Schrift geschrieben sind, daß wir sie lesen und uns daraus unterrichten möchten.

»Wenn ich irgendein Gras, eine Blume, einen Stein in die Hand nehme; so werde ich gleich fragen, welches ist hier der Zug, womit sich mein Schöpfer charakterisiert?«254 usw.[654]

BERTRAM: Die Idee, daß Himmel und Erde für uns eine Schrift, und alle Geschöpfe, die uns umgeben, Buchstaben dieser Schrift sind, daraus wir uns von Gott unterrichten können – diese Idee ist erhaben und schön, ich gestehe es Euch. Aber, wie kann diese Schrift gelesen werden? Ihre Buchstaben sind ja lauter stumme Buchstaben, oder Konsonanten.

A: Das sind sie; und sei kein Narr, und halte sie für mehr, als sie sind. Du mußt sie aber auch nicht für weniger halten, als sie sind.

Die Geister fliegen hier unterm Mond nicht nackt herum, wie die Fledermäuse. Sie sind alle bekleidet. Ein jeder, welcher Art er sei, hat ein Substratum, auf dem er ruhet, einen Konsonanten, in dem er wohnt; und ohne das ficht er für uns aufs ungewisse, und streicht in die Luft.

Du weißt, wie zum Exempel Moses und seine Freunde, die du auf Glauben für weise Leute annehmen kannst, die stummen Buchstaben oder Konsonanten, mit denen der Name Gottes geschrieben wird, ansahen. Sie waren ihnen heilig, und der große Sinn, der in diesem Namen war, haftete ihnen an diesen bestimmten ebräischen Buchstaben255.

BERTRAM: Aber, wenn auch in bestimmten Buchstaben ein bestimmter Sinn wäre; so frage ich immer wieder, wer wird ihn finden?

A: Freilich, wer wird ihn finden?

Scharfsinn allein richtet es nicht aus; und wenn sonst nichts zu Hülfe kommen könnte; so würde es um das Erkenntnis, das daraus geschöpft werden soll, sehr mißlich stehen.

Aber »die Erscheinungen der Leidenschaften, die wir allenthalben in der menschlichen Gesellschaft beobachten, lehren: wie alles, was noch so entfernt ist, ein Gemüt in Affekt mit einer besondern Richtung trifft: wie jede einzelne Empfindung sich über den Umkreis aller äußern Gegenstände verbreitet; wie wir die allgemeinsten Fälle durch eine persönliche Anwendung uns zuzueignen wissen«256 – daß also einem Gemüt, das von Liebe zu Gott durchdrungen ist, Zeichen und Winke bedeutend und verständlich werden und sein können, die ihm sonst und vorher unbedeutend und unverständlich waren.

»Die Analogie«, sagt ebenderselbe Schriftsteller, »die Analogie des Menschen zum Schöpfer erteilt allen Kreaturen ihr Gehalt[655] und ihr Gepräge. – Je lebhafter diese Idee, das Ebenbild des unsichtbaren Gottes, in unserm Gemüt ist; desto fähiger sind wir, Seine Leutseligkeit in den Geschöpfen zu sehen und zu schmecken, zu beschauen und mit Händen zu greifen.«257

BERTRAM: Ich hörte gerne mehr von dieser Schrift und von diesen Buchstaben.

A: Und ich wollte gerne dienen, Herr Bertram; aber es geht mir grade, wie es dir in deiner ersten Predigt ging.

Eins kann ich dir noch sagen, wenn du es nicht selbst errätst: daß nämlich der Mensch der erste und wichtigste Buchstabe von allen ist. Jedermann, wenn er von Gott forschen und sagen will, wendet sich an sich selbst; und das mit Recht.

Denn im Menschen ist ein unsterblicher Same und Keim, in dem die Schätze der Wahrheit, und Erkenntnis Gottes verborgen liegen; und aus ihm entwickelt werden können. Aber, wie die Keime in der physischen Natur sich nicht selbst entwickeln können; so auch dieser nicht. Er bedarf, wie jene, einer Reaktion von außen. Je angemessener und homogener diese ist; desto schneller und vollkommner wächst die Frucht hervor. Die Reaktion täte und schaffte nichts, wenn der Keim nicht da wäre; aber der Keim bleibt, ohne sie, was er ist, und kommt nicht von der Stelle. Und so kränkelt auch, ohne Reaktion, der Keim im Menschen, und hat nur dunkle unvollständige Ahndungen von Gott etc.

BERTRAM: Der Mensch ist der erste und wichtigste Buchstabe, sagt Ihr. Ich verstehe das so: die ganze Natur verkündiget Gott von ferne, und der Mensch verkündiget ihn von nahe.

A: Ganz recht, lieber Sohn. In der physischen Natur spiegeln sich einzelne Kräfte, und im Menschen spiegelt sich die Gottheit selbst.

Nur in uns, so wie wir hier sind, ist der Spiegel so verbogen und unrein, daß das Bild nur verstellt und wie in Nebel gehüllt ist. Durch Reaktion, wenn, zum Exempel, große tugendhafte Menschen, in denen sich Gott weniger trübe spiegelt, auf dich reagieren, wird dies Bild bewegt. Und neben einem vollkommen reinen und heiligen Spiegel tritt es deutlicher hervor.

Der Spiegel aber ist in Christus, der da ist der »Glanz der Herrlichkeit Gottes, und das Ebenbild seines Wesens.«258 Wer zu seiner Zeit lebte und ihn sahe, und wer ihn seitdem in seiner Geschichte[656] sieht, der sahe und siehet den Vater, wie er selbst zu Philippus sagte259.

Und darum ist für den sinnlich gewordenen Menschen der Sichtbare Christus so unentbehrlich und wichtig. Und wenn der nicht gewesen wäre; so sollten sie manches, das sie von Gott wissen und sagen, wohl ungesagt lassen.

In Christus sieht der Mensch, wozu er berufen ist, und was er werden kann.

Aber er ist es mit dem Sehen noch nicht, und kann es mit dem Sehen allein nicht werden260.

Der Sichtbare Christus ward den Jüngern wieder aus den Augen weggenommen, und geopfert. Er mußte gekreuziget werden und sterben, damit der Unsichtbare wieder zu ihnen käme261, der Tröster, der sie trösten262, sie in alle Wahrheit leiten263, und in ihnen bleiben sollte ewiglich264.

Diesen Tröster kennet die Welt nicht, und siehet ihn nicht265. An den muß sie glauben – und die alte Haut daran wagen, wenn sie ihn finden266, und innewerden will, daß das Christentum von Gott sei.

Ich bitte ihn für mich und dich, daß dies uns widerfahre, lieber Bertram, und scheide damit von dir.

Quelle:
Matthias Claudius: Werke in einem Band. München [1976], S. 645-657.
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