|
[146] Vieles habt ihr voraus, ihr Toten,
Vieles vor uns,
Die wir noch atmen
In des Lichtes quellender Vollflut ...
Willig –
O so willig! –
Ließet ihr lösen des Leibes Ring
Von der Vergängnis[146]
Heimlichem Finger –
Dehnt euch und breitet euch,
Und es ward eine Lust –
Eine köstliche Lust euch:
Aufzusprießen
Zu Halm und Geröhr,
Mitzufließen
Im großen Allfluß der Dinge –
Mitzudüften
Ob Schollen und Grüften
Oder zu wirbeln
Auf farbiger Falterschwinge:
Mitzugenießen
Nicht zu geringe ...
Vieles habt ihr voraus, ihr Toten,
Vieles vor uns! ...
Aufstehen
Zu Werdefreuden
Aus verschlungenem Wurzelgeflecht
Laßt ihr hundertfaches Geschlecht,
Und hundertfacher Wesen
Winzigen Reichen
Keimt Gedeihn
Und drängendes Sein,
Blüte, Entfaltung
Und Fruchtgestaltung
Aus eueren Leichen ...
Vieles habt ihr voraus, ihr Toten,
Vieles vor uns![147]
Die Liebe denkt euch nach
Und euere Male
Schmückt trauernde Treue ...
Oder es brach
Zu der schaffenden Nachwelt Tag
Der Erinnerung letzte Brücke ...
Ihr schlaft vergessen,
Und eurem heimlichen Tun,
Dem Wirken im Ruhn,
Fraget nicht nach
Eine einzige Menschenzunge ...
Wie träumt ihr so köstlich
Die Kraftträume des Alls! ...
Aber saget, ihr Toten,
Geliebt und beneidet
Hundert und tausend Mal,
Aber saget:
Wer unter euch atmet und schnauft die Wonne,
Die sprudelnde, ein,
Die ich nun schlürfe,
Da die Tage lenzen
Und am Himmel die Sonne
Wächst und waltet,
Ein huldvoller Bronne,
Daraus fluten Ströme des Segens? ...
Wohl rollt ihr mit,
Geflügelte Stäubchen,
Im Sphärentanze der Harmonien:[148]
Mir aber blieb
Ungeblendet der Blick,
In diesen Tagen des Drangs
Ganz zu begreifen
Des Schöpfers Sieb,
Daraus fällt
Welt um Welt –
Doch keines versinkt
Dieser rollenden Kronjuwele,
Und alle durchdringt
Eine einzige Seele...
Und auch ich rolle mit
Wachend, bewußt,
Mit euch, geflügelte Stäubchen,
Meiner keuschen Inbrunst schneeweißes Täubchen
Trägt
Frohbewegt
Botschaft und Kunde
In alle Runde
Und findet
Neuer Freuden schwellende Saat,
Drin sich begründet
Künftige Tat ...
Vieles habt ihr voraus, ihr Toten,
Vieles vor uns –
Aber eines
Läßt mich die Flammen
Des Lebens noch schüren:[149]
Dieser Tage
Gotttrunkenes Lenzpsalmieren ...
Doch krachen die Scheiter zusammen
Und liegen die Früchte gelesen:
Gerne, ihr Toten,
Denen ich diesen Gruß entboten,
Gerne dann bin ich mit euch gewesen ...
Buchempfehlung
Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.
142 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro