Stimmen der Nacht

[141] Kennst du der Nacht geheimnisschweres Raunen?

Wie ein verlorner Klang aus Jugendtagen,

Der jäh in deine Seele eingeschlagen –

Der jäh erwacht nach jahrelangem Schweigen:


So kommt es über dich ... Es quellen, steigen

Vergeßne Bilder auf – und ein ergreifend Staunen

Packt dich ... Das also war dein Schwärmen, war dein Wagen?

Und jetzt? Und heute? Wie die Wunden tropfen!

Und wie die Reue mahnt mit wildem Klopfen!


Doch laß begraben sein, was da vergangen!

Die Bilder, die in der Erinnrung Hallen

In schwarzem Trauerflor ich aufgestellt:

Sie mögen stürzen, mögen fallen –

Mit ihnen eine ganze Schmerzenswelt!


Was heute mir aus dem Gesang der Nacht

Entgegenklingt in wundersamen Tönen:

Es ist ein Siegeslied! Es soll versöhnen,

Wie jenes Wort am Kreuz: Es ist vollbracht!


Es ist vollbracht! Die Augen heb' ich auf,

Und von den Felsenhäuptern seh' ich gleiten

Zu Tal des Nebels dunst'ge Wolkenbrut ...
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Und über die Scheitel, über die nachtgefeiten,

In langem Zug die Heldengeister schreiten,

Die sich aus Kluft und Krümmung hochgemüht,

Wo in der Einsamkeit die Freiheit blüht!


So gibt's doch einen Lohn! So gibt's ein Ziel!

Ein Zion über diesem Staubgewühl!


Und aus den Stimmen, die der Nacht entklingen,

Tönt die Gewißheit mir: du wirst's erringen!

Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 141-142.
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