11. Osterpsalm

[190] Nun feiert vom Werke! des Alltags Gelüst,

Nun bannt es aus Sinnen und Herzen!

Und von der Sonne der Liebe geküßt

Laßt flammen der Freuden Kerzen!

Wir haben gerungen mit schwieliger Hand,

Im Werkeltagsstaube geschmachtet:

Nun laßt uns vergessen den leeren Tand,[190]

Nun laßt uns zünden den Opferbrand,

Und der Liebe, die lang wir verachtet,

Die ans Kreuz wir geschlagen in frevelndem Wahn,

Gekrönt mit Dornengewinden:

Wir geben uns heute ihr untertan,

Auf daß Erlösung wir finden!

Und der Liebe, die lang wir verspottet, verhöhnt,

Geeint und versöhnt

Erschließen wir heute die Herzen!

Und wie im jungfröhlichen Märzen

Der Lenz mit allmächtigem Werdeton

Durch die Lande ruft, der Sonnensohn,

Und die Welt im Auferstehungsgesang

Ihm zujauchzt, daß nun die Kette zersprang,

Die der Winter ihr wand um die Glieder:

Also auch wieder

Werfen wir heute weit auf, weit auf

Der Seele Pforten: zu Hauf nun, zu Hauf

Sammelt euch, Lichtgedanken!

Jungblühender Liebe Osterpracht,

In Flammen und Gluten zum Leben erwacht

Nach bleischwer lastender Winternacht,

Heile die Müden und Kranken!

Und wenn wir gebangt, gezagt und geklagt,

Die Seele zerrissen von Schmerzen –

Wir wissen es alle: Es tagt, es tagt,

Und in lichtgrünem Gekränz'

Wandelt der Lenz,

Wandelt der heilige Osterlenz

Heut durch die Lande und Herzen!

Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 190-191.
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