13. Gebet auf dem Gipfel

[192] Höhen gabst du mir, Vater, Höhen –

Mittagshöhen des Lebens!

Da ich größer war, denn du,

Und göttlicher!


Denn ich begriff dich, Allesempfindender!


Denn ich begriff dich

Und deiner Gedanken

Weite Wunder!


Ich strömte in dir aus

Meiner Gefühle Katarakte!


Vater! Da stand ich auf Höhen

Und empfand alles!

Und verstand alles!


Des Gebärers qualvolle Wollust

Und deines Seelenbrunnens

Ewige Unergründlichkeit!


Höhen gabst du mir, Vater,

Stolze Höhen erklomm ich!

Uebermenschliche!


Vater! Ich zittere nicht –

Ich bange nicht,

Denn ich ward wie du!
[193]

Vater! Gib mir Tiefen!

Tiefen, Vater, Tiefen!

Laß mich des Staubes Eingeweide durchwühlen –

Drücke Mund und Stirne

Tief ein in den dürren, tauben Sand

Und zermalme meine Größe!


Denn Vater, deine Nähe –

Deine reine Nähe,

Schmölze die Seele mir in der Brust –

Schmölze sie –

Und ich zerfiele.


Nur der aus der Tiefe

Zu dir emporklimmt,

Mächtig erbebend,

Wird wie du –

Wird du!


Denn nur ein neues Hinab

Gebiert ein neues Hinauf –

Und nur im Wechsel

Vollendet sich die Erkenntnis!


Denn bin ich nicht du –

Und bist du nicht ich?

Ruhlose Ruh

Bis zum letzten großen Gedankenstrich ...

Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 192-194.
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