2.

[173] Wie bist du plötzlich über mich gekommen,

Du Zug der Sehnsucht, der mich mächtig packt?

Ich war so lustig mit dem Strom geschwommen

Und ward so zahm, voll Höflichkeit und Takt!


Weit hinter mir lag all mein unstet Brausen,

Der »gute Ton« ward mir Respektsmoment ...

Ich fügte mich und machte keine Flausen

Und ward – »vernünftig«, wie man das so nennt ...


Ich saß mit Hinz und Kunz an einem Tische

Und der Beschränktheit reichte ich die Hand ...

Und ruhte nicht, bis ich auf einem Wische

Verbürgt, verbrieft mein – Lob der Narrheit fand.


Da hatten sie es sauber hingeschrieben,

Auf Pergament, verbrämt voll Phantasie:

Ich wär' auf rechten Wegen stets geblieben

Und hätte ebenso gedacht wie sie ...


Und hätte ebenso wie sie gelogen –

War's auch ein wenig anders ausgedrückt –[173]

Und hätte ebenso wie sie betrogen,

Wär' ebenso wie sie herumgekrückt ...


(Natürlich gab's auch hierfür andre Worte,

Doch war der Sinn derselbe, denk' ich, wohl! ...)

Und unterweil verschrumpft' ich und verdorrte,

Und die Gemütlichkeit ward mein Idol!


So ging auch heute mir der Tag zu Ende,

In blödem Einerlei vertan, verbracht ...

Da lodert's plötzlich auf wie Feuerbrände

In meiner Brust in stiller Mitternacht! ...


Da plötzlich schäumt es auf wie Katarakte –

Es schreit der Sturm und peitscht mein totes Blut –

Und vor mir steht die Wirklichkeit, die nackte:

Ich war ein Sklave unter Sklavenbrut!...


Was ich verhöhnt, verlacht, mit Recht verachtet

Dereinst, als jung mein Herz und lauter noch:

Ich hab' es jahrelang voll Fleiß ertrachtet

Und manchmal war's, daß ich zu Kreuze kroch!


Und manchmal war's, daß ich den Geist geschunden,

Daß er wie auf der Marterbank gestöhnt –

Da lag er, überdeckt von tausend Wunden,

Der arme Kerl, vom Pöbel strohgekrönt! ...


Und endlich dann – dann hatt' ich ihn bezwungen

Und ihn geknechtet mit Verräterhand –[174]

Das Kunststück war mir ganz famos gelungen:

Daß schließlich alles ich – »natürlich« fand! ...


Und nun! Und nun! O feueräugig Wunder,

Das sich herausgebar aus nächt'gem Schoß!

Vor mir zerstäubt der taube, tote Plunder

Und zu der Freiheit ringe ich mich los!


Ich find' sie wieder, all die alten Pfade,

Ein überirdisch Licht beflammt die Spur –

Durch eines neuen Geistes Huld und Gnade

Kehr' ich zurück zur Wahrheit und Natur!


Ich kehr' zum Leben und zu seinen Quellen,

Sein wahres Wesen gibt sich heiter kund,

Vor meinem Blick will sich das Tiefste hellen

Und offen liegt mir aller Dinge Grund ...


In mächt'gen Wogen rollt in Herz und Hirn mir

Die Kraft zurück, die neu den Kampfgebiert!

Der Muskel knollt, graniten wird die Stirn mir:

Mir ward der Geist nun, der sich nicht verliert!

Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 173-175.
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