3.

[175] Abseits war ich gegangen,

Wo in die Wildnis,

In aufgehügelte, todstille Wildnis,

Sich die Pfade verlieren –[175]

Wo Menschenwesen

Und Menschensprache

Unheimisch dem krautkargen Felsen

Und der nackten Steinklippe,

Den verzwergten Halmen,

Die spärlich sprießen

Zu Füßen der Hügel ...

Wo die Einsamkeit wohnt

Und die Weltentsagung,

Ihre ernstere Tochter ...


Und abgetan hatt' ich

Menschenwahn

Und Menschenschicksal ...

Zwiesprach nur hielt ich

Mit dem zeitzergleisten Gestein,

Mit dem Winkelgestrüpp

Und den Wolken des Himmels

Und mit dem ewigen Gott,

In dem ich war

Und der in mir war

Vom Morgen bis zum Abend

Und wiederum vom Abend

Bis zur Frühe,

Wenn das aufzuckende Morgenrot

Falbe Farbenbündel

In meine Siedlung warf

Und ich aus Träumen mich hob –

Aus Träumen von Gott

Und zeitlosem Sein ...
[176]

Und ich atmete die Gedanken

Des unendlichen Geistes –

Seines Wesens Hauch

Durchleuchtete mich,

Und ich wuchs in ihm

Und wachsend überwand ich

Die Welt und das Schicksal,

Und begreifend verging ich

Leicht wie die Windspur ...


Und lebend und lernend

Starb ich schmerzlos ...


Da aber mahnte der Ewige mich

Verschollener Stunden,

Und verschollener Stunden

Kern und Bedeutung

Enthob sich aus Tiefen,

Drin sie versunken,

Als ich die Menschen ließ

Und ihres Wandelns

Verwirrte Fragmente ...


Und Er sprach zu mir

Mit dem Geiste der Zeit,

Die war und bedingt war:


Nicht taugt es dem Menschen,

Daß er mich spüre,

Wo ich der Erde

Versagt den Genossen

Und Sünde und Reue ...
[177]

Denn hier betastet

Mich keines Finger,

Und da die Einöde haust,

Stirbt des verirrten

Gottsuchers Seele

Lebend in mir,

Wie ich lebe,

Dem Sein entkeimend

Und auch dem Nichtsein ...


Aber nur der in Nöten gesündigt,

Errät des Todes

Tieferen Sinn

Und schlürft seines Lohnes

Köstliche Fülle ...


Also hebe dich auf

Und, Dank im Gemüte

Und Erlösungssehnsucht,

Schreite hinab

Und mische dich wieder

Unter der Menschen

Rätselgeschlecht ...


Und wieder werde

Menschensatzung

Allstündig die Richtschnur

Und maschiges Netzwerk,

Drin sich verhaken

Gedanken und Triebe,[178]

Sündengebärend

Zugleich und entsühnend! ...


Und ich ging von dannen

Und stockender Stimme

Entgrüßt' ich die Gräser

Und den krautkargen Steinsitz,

Die Wolken des Himmels

Und die Siedlung ließ ich

Dahinten verdämmern ...


Den Menschen gesellt' ich mich wieder –

Den Menschen der Stunde,

Und irdisches Maß,

Ziel und Bedingnis

Umschnürten mich wieder

Und lehrten mich wandeln

Auf Menschenpfaden ...


Doch Menschenpfade

Bewuchert die Sünde,

Und die Sünde meistert

Die Kreaturen ...

Denn sie bedeutet

Folge und Satzung ...


Und sie zu begreifen,

Und sie zu erfüllen

Ist menschlich zugleich

Und göttlich groß ...
[179]

Denn nur das Leben

Gebieret die Sünde,

Aber die Sünde,

Die du begriffen,

Gebieret den Tod

Und seiner Krone

Stolzes Bewußtsein ...


Nur der gesündigt

In Lebensnöten,

Errät des Todes

Tieferen Sinn

Und schlürft seines Lohnes

Köstliche Fülle ...


Und die Fülle ist Kraft,

Und sie lebt in mir

Bis zum Ende der Tage ...


Ich ward ein Mensch

Und entdeckte den Himmel!

Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 175-180.
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