7.

[183] Es rauscht um mich leis und geheimnisschwer

Der Mitternacht phantastisch Tönemeer ...


Wie Nebelschatten, wie ein Geisterreigen,

Entsteigt es flutend dem geschwätz'gen Schweigen ...
[183]

Die Wehr, die ich durch Markt und Gassen trug –

Nur eine Zahl im großen Kriegerzug,


Der lebenstrotzig ringt um karge Spenden

Mit derben Fäusten, hagern Bettlerlenden;


Gesichtern bleich, hohlwangig, schmerzzerwittert,

Von der Vergängnis Pestgestank umzittert;


Gepackt von der Verzweiflung Geierklauen,

Gepeitscht von dürrer Armut Geißeltauen –


Die ich in diesem Sturme trug, die Wehr:

Ach solch ein Kerl! Ein Kampflegionär!


Auch solch ein Held! Ein armer Proletar!

Düsteren Auges ... mit wirr strupp'gem Haar,


Zerdachter Stirne, schwärenschwerem Leib,

Gehüllt in Fetzen, zunderdünn Gestäub –


Auch solch ein Rüttler, Zweifler, Schrankenbrecher,

Ein Meuterer, Rebell und »auch« ein Rächer –


Und nochmals einer, der, was sakrosankt

In tiefstem Marke dennoch fault und krankt –


Was reich verbürgt, bestätigt und verbrieft

Dennoch von grenzenlosem Unrecht trieft:


Zerbricht – von einem neuen Geist getauft,

Nicht zum Verrat mit rotem Gold erkauft –


Solch ein Gesell in hartem Tagesringen,

Im Kampf mit Wahnpropheten, Finsterlingen:
[184]

Leg' ich die Wehr von mir um Mitternacht,

Wenn es um mich wie Geisterruf erwacht ...


Wenn es zu mir in die Mansarde tritt:

Das hohe Weib mit traumhaft leisem Schritt ...


Schwer fließt sein Haar in goldnen Wellen nieder,

Auf seinen Lippen liegen ew'ge Lieder ...


Von seiner Stirne flammen Gottgedanken –

Weltüberwindend, sprengend alle Schranken ...


Und mit der hoch erhobnen Rechten weist

Es in die Zukunft – und es jauchzt mein Geist! ...


Denn folgend diesem Zeugnis seiner Gnade

Enthüllt mein Auge neue Zukunftspfade,


Die ich gesucht tagüber, doch nicht fand,

Dieweil die Lippe sog nur dünnen Sand ...


Von der Erkenntnis hellem Glanz umsäumt,

Liegt's deutlich vor mir, was ich nur geträumt ...


Die Nebelfetzen in die Tiefen sanken,

Zerweht von meines Geistes Lichtgedanken! ...


Sei mir gesegnet, dreimal heilig Weib –

Gehört dem Tage auch mein Sklavenleib –


Mein Leib, von enger Waffenwehr umschnürt:

Ist's doch mein Geist, der deinen Odem spürt! ...


Der dich begreift von Inbrunst hingerissen,

Dem einz'ge Leuchte du in seinen Finsternissen ...
[185]

Kniet doch mein Geist vor deiner Majestät,

Wenn ihn dein Schöpferodem leis umweht! ...


Was mich erniedrigt, an den Staub gebannt,

Du nimmst es von mir mit allgüt'ger Hand ...


Und meine Schwingen, die der Marktlärm bog,

Du reckst sie sanft zu neuem Fluge hoch ...


Und meinen Sinn, den in die Enge zwang

Des schrillen Tages heißer Ueberschwang:


Du weitest ihn, daß er das All versteht

Und nicht zerstückt im Kleinen untergeht! ...


Daß er im Wandel, was da bleibt, begreift –

Aus der Verstäubnis zu der Freiheit reift! ...


O Weib, hochheilig mir, gebenedeit,

Mittlerin zwischen Tag und Ewigkeit:


Du tönst die Botschaft aus der nächt'gen Stille –

Und Heiterkeit sprießt aus der Gnadenfülle! ...


Ja, heiter ward ich! Heiter wie das Licht,

Das aus der Nacht verborgnen Quellen bricht! ...


Es knüpfen sich zur Einheit die Gewalten,

Draus aber will die Freiheit sich gestalten! ...


Und ruft der Tag mich wieder auf den Markt:

Wuchs nächtens ich, bin nächtens ich erstarkt!

Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 183-186.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Der Teufel kommt auf die Erde weil die Hölle geputzt wird, er kauft junge Frauen, stiftet junge Männer zum Mord an und fällt auf eine mit Kondomen als Köder gefüllte Falle rein. Grabbes von ihm selbst als Gegenstück zu seinem nihilistischen Herzog von Gothland empfundenes Lustspiel widersetzt sich jeder konventionellen Schemeneinteilung. Es ist rüpelhafte Groteske, drastische Satire und komischer Scherz gleichermaßen.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon