Einem Kinde der Sünde

[80] Ob's deine Augen auch verneinen

Mit ihrem hellen, klaren Licht;

Ob auch auf deinem zarten, feinen,

Madonnenschönen Angesicht

Es liegt, als wäre deine Seele

Ein seltner Kelch, der niemals trog,

Drin Keuschheit sich und Kraft vermähle:

Ein Kind der Sünde bist du doch! ...


Ob deine Augen drohend blitzen –

Ob du auch zitternd, zornbewehrt,

Dich vor dem Frechen suchst zu schützen,

Den deiner Schönheit Reiz betört, –

Der deines Nackens holde Fülle

Umspannen will mit engem Joch –

Ein Bild der lieblichsten Idylle! –

Ein Kind der Sünde bist du doch!...


Ob du auch sittsam deine frommen

Blauaugen niederschlägst, wenn jach,

Wie's just passiert, ein Wort gekommen –

Ein Wort von bravem, derbem Schlag –

Es fährt heraus – die andern kichern:[80]

»Ein Witz, der nicht zum feinsten roch!«

Ob du auch kalt sie's läßt versichern –

Ein Kind der Sünde bist du doch! ...


Denn ich, Madonna, muß es wissen –

Du hast es selbst mir ungesäumt

Gebeichtet, da auf weichen Kissen

Ich manche Nacht bei dir verträumt ...

Dein schöner Leib ist so gesellig

Und Kosen dünkt ihn wunderfein –

Drum bist du heimlich gern gefällig:

Du sollst ein »Kind der Sünde« sein? ...

Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 80-81.
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