In schlafloser Nacht

[120] Ich liege schlaflos. – Die Gedanken kreisen

In alten und in neuen Geleisen.


Die Enge drückt mich – es drückt mich die Nacht –

Wehe dem Armen, der einsam wacht!


Wehe dem Armen, der einsam büßt,

Dem nichts den Wermut der Reue versüßt!


Ich liege schlaflos ... und alles still ...

Es atmet die Nacht, die vergeben nicht will ...


Da klappert ein Schritt die Straße heran ...

Ein leiser Gang ... Und er schwillt an ...
[120]

Und in mein einsam Kämmerlein

Flutet ein Lied der Sehnsucht hinein ...


Ein Lied so ergreifend, so mild und so schwer ...

An Entsagung so voll ... an Entzücken so leer ...


Da faßt es mich jäh – ich walle empor ...

Tönt in mir ein brausender Engelchor?


Ich hebe mich auf – ich atme bang –

Und mich bezwingt unheimlicher Drang ...


Oh! Könnt' ich dich an die Brust wild reißen –

Dich, die ich habe gehen heißen!


Ich hielte dich sicher – und du vergibst –

Und du sagst mir noch einmal, daß du mich liebst!


Die Schritte verhallen ... Es schweigt der Gesang ...

Es bröckelt meiner Seele dämonischer Drang ...


Nun wieder Stille ... Es atmet die Nacht.

Wehe dem Armen, der einsam wacht!


Der einsam nach Verlorenem spürt ...

Es atmet die Nacht – schicksalknüpfend und ungerührt.

Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 120-121.
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