Sohn der Zeit

[130] Schon floh die Mitternacht. – Noch aber pocht's

Durch meine Brust wie ein titanisch Wollen,

Das nach der Tat wie nach Erlösung dürstet –

Das vor der Tat wie vor der Hölle schaudert ...


Ich fühle meine Schultern atlasstark,

Es blitzt mein Blick – es blüht mein junges Mark –

Wie ein Gigant möcht' aus den Angeln heben

Ich diese morsche, pestzerfreßne Welt

Und einer neuen neues Leben geben,

Drin sich das Ew'ge makellos behält ...


Nun lastet's auf mir wie Myriaden Sünden,

Die mich zerschnüren und zerstampfen,[130]

Wie Wahnsinnsfratzen mir das Hirn umdampfen,

Wie Hurenatem meine Seele schinden ...


So such' ich, schwärmend in des Weltalls Weiten,

Vergangenheit und künft'ge Ewigkeiten

Durchfühlend auf sekundenkurzer Spur,

Vor mir zu fliehn in göttergroßem Wagen,

In männlich starkem, freiem Weltentsagen – – –

Und nie entrinnst du dir, o Kreatur! ...


Es ekelt mich der Menschheit Würmerbrut –

Nun wächst mein Herz in der Begeistrung Glut –

Sie gleitet hin wie kraftlos flücht'ge Wellen,

Die aufwärts steigen, wieder zu zerstäuben –

Sich einen Augenblick

In namenlosem Glück

Als Weltenspiegel zu betäuben ...


Das macht: ich bin – o grenzenloser Hohn!

Ich bin der Zeit getreuer, echter Sohn!


Ich muß die Wunden fühlen, die ihr Leib

Wie ein zerschändet, ehrenloses Weib

Mit sich herumschleppt, prunkend bald –

Bald schamgekrümmt – – ich muß – ich muß

Sie fühlen, wie der Dichter nur sie fühlt,

Dem nichts den Feuerfraß der Schmerzen kühlt,

Den die Dämonen kreuz'gen mit dem Kuß ...

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –[131]

Wie Christus, Dante, Michelangelo,

Die Riesen, unbegreiflich vor mir ragen,

Ragt auch in diesen dunklen Zweiflertagen

Vor mir der Zeit tiefinnerstes Geheimnis ...


Ich kann es fühlen – und doch nicht begreifen,

Sein Wesen spür' ich durch die Seele zittern,

Doch find' ich nicht die Lösung, die es tilgt ...

Es schürt in mir – sein Atem sät Verderben,

Die Brandung schreit – und Stürme, sie erschüttern,

Entwurzeln mich – doch ob die Brust auch brüllt,

Nach Wahrheit, wie der Leu nach Freiheit brüllt,

Den sie gefangen hinter Eisengittern:

Die Sehnsucht meiner Seele wird doch nie gestillt...

Der Zeit Geschwüre kann ich nicht verwinden –

Es lasten auf mir ihre harten Sünden –

Ich bin der Sohn der Zeit – doch ach! ihr Götter!

Ich bin ihr Sohn – doch nicht ihr Retter! ...

Quelle:
Hermann Conradi: Gesammelte Schriften, Band 1: Lebensbeschreibung, Gedichte und Aphorismen, München und Leipzig 1911, S. 130-132.
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