[Oh Wißbegier, wann hast Du ausgetobt in meinem Innern?]

[10] Oh Wißbegier, wann hast Du ausgetobt in meinem Innern?

Wann mildern der Gefühle zartverwobene Wehmuthsweben,

Den Sonnenschleiern gleich, die einen stillen Herbst durchschweben,

Das schlafloswilde Wühlen von erregten Sorgenspinnern?


Gefühl und Güte sind der Reichthum innerer Seelenflammen,

Und große Thaten Formen, die sich die Natur gestattet;

Vernünfteln die Verzweiflung einer Gattung, die ermattet,

Die um den Nutzen schleicht, um lustlos zu verschlammen.
[10]

Der Erdenwesen Trachten sonnlebendig fortzudauern

Ward einer Schlange, die sich durch die Lebenswüste windet

Und endlich einen nutzerwägenden Verstand erfindet,

Gar ahnungsoft verglichen und erklärt von Weltdurchschauern.


Dein bleiches Spiegelbild, oh Wüste, die das Opfer fordert,

Das will ich jetzt durchträumen und mit Träumerlust genießen:

Nicht soll vor Schmerzensgraun Dein farbenschwankes Bild zerstießen,

Die Einsicht loht bereits, das Schicksal hats beordert!


Wohl ahn ich schon die Ruhe meines eigenen Wesens,

Denn der Gefühle Allgewalt, der Menschen Freude, ihre Liebe,

Die unauslöschlich glimmt und stockt, als wärs aus einem Siebe,

Beherrscht mich schon und zieht mich fort von dem Belauern des Verwesens.


Ich wähle eine Welt mit hellen Flammenkathedralen:

Schon wähn ich sie im Seelenschooße starker Menschenschaaren.

Ein Lebensüberschwang gebiert der Menschen Freigebahren,

Und domhoch seh ich Lebensströme ineinanderstrahlen.


Doch Wüstensand, noch locken mich Verstandespyramiden.

Ich bin ein Sohn der Zeit, da die Vernunft zu höchst gepriesen!

Ein Seelendrang hat mir den Weg ins Wüstenthal gewiesen,

Drum folg ich ihm beherzt, sind meine Wünsche auch verschieden.


Geschöpf, der Augenblick ist nah, Dir freudig zu verkünden,

Daß, was Du hoffst und heischst, Dir die Natur nicht mag verwehren,

Du warst bestimmt, das Feuer freier Freude fromm zu nähren,

Und Deiner Einsicht mag sich heut ein Wonnerausch verbinden.


Es braust der Erde Freudenschwall durch unser Glücksempfinden.

Ein stummer Rausch erzittert wonnig in den Wunschgefühlen,

Doch Wonnewogen, die wir jubelnd in den Äther spülen,

Sind auch das Liebesglück, durch das wir uns zu Sternen winden.
[11]

Die Armut, das Verzichten hat der Mensch sich selbst geboten,

Als unserer Erde Wonnerausch noch allzu karg bemessen;

Nun ist er reich und hat den alten Glauben fast vergessen,

Da Freudenflammen ihn noch wuchtiger und frei durchlohten!


Auch der Verstand ward so zum Mittel stärker zuzugreifen,

Er fügte sich in das bedingte Vollmaß als Ergänzung:

Er ist emporgereift aus seiner einstigen Begrenzung

Und fordert den geputzten Sparsinn abzustreifen.


Die Lebensschroffheit und die Sitte bergen die Askese,

Die noch die Lebenswüste fordert, die uns Wesen peinigt.

Doch wißt und glaubt, die Freude steigt jetzt, brüderlich vereinigt:

Dies ist das Wort, das ich im Herzen und am Himmel lese!

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 2, München; Leipzig 1910, S. 10-12.
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