Neumond

[529] Die Saat der Sterne überwältigt alle Geister.

Es wagt nicht ein Komet dem Schicksal zu entschleichen,

Und auch die Erde überläßt sich ihrem Meister.


Wer ahnte jetzt den Flug der fernen Sternenleichen?

Der Mensch, ein dauernder, dort mordideeumkreister

Gedanke seiner selbst, mag nur ein Maaß erreichen.


Der Geist wird stets in seiner Dinglichkeit vereister:

Statt aus der Unausschöpflichkeit hervorzuquellen,

Versetzt er sich in sich und um sich selber kreist er.


Die Seher können Schlangenschicksale erhellen.

Der strengen Einsicht mag die Seele sich versichern.

Was stirbt versucht das Sterbenswissen festzustellen.


Auf Erden sah die Nacht sich nie in schauerlichern

Eröffnungen über das innerste Erkalten,

Doch alle Kindlichkeiten fangen an zu kichern.


Das Wasser kann am allerselbstgläubigsten walten.

Der Ozean ist frei. Und freier noch sind Quellen.

Und Seele strömt aus allen starren Ausdrucksspalten.


Jetzt werden die Gesetze urdurchschaut zerschellen!

Die Erde nimmt das Schicksal aus dem eigenen Leibe

Und überfluthet ihren Zwang mit Willenswellen.


Die Wellen aber sind ein Wink vom Weltverbleibe:

Die Weiblichkeit wird rein, und frei die Erde.

Ein Weiheschein entwallt dem leidgeheilten Weibe.
[530]

Es wünscht der Schlaf, daß, was erwacht untödtbar werde.

Das Träumen trachtet die Unsterblichkeit zu ahnen.

In beiden kreist das Ende der Geburtsbeschwerde.


Das Feuer loht, die stille Gluthnacht anzubahnen:

Die Nacht, in der die Nachte aus sich selber tagen

Und kalte Wahrheitsflammen an die Allmacht mahnen.


Der Mond ist todt! Doch kann die Erde Monde tragen.

Es folgt dem Sohn, den ihre Mitte uns gespendet,

Das Kind der Höhe, das Gedanken überragen.


Die Nacht hat sich zum klaren Eigentag gewendet.

Das Fleisch ist frei und überstirbt das Sterbenssterben.

Vom Schlafe ward dem Tod der Traum emporgesendet.


Die Starre sieht sich selbst grotesk in Gletscherscherben.

Ekstatisch liegt die Erde da, in bleichem Eise,

Und kann die Wahrheit aller Weltungen erwerben.


Die Erde weiß! Sie bleibt aus Freiheit im Geleise.

Sibiriens Hirn gebiert das stille Lichterfrieren.

Gebirge glühn und wandern plötzlich eigenerweise:


Den Himmel, den sie schafft, wird keine Welt verlieren.


Die Erde liegt vereist und ohne Eisesleben:

Sie starrt mit ihren Gletschern in die Daseinsleere.

Sie fühlt den Glauben an die stillen Sternenheere

Und lockert ihren Wirkungswunsch in Glastgeweben.


Sie hat das Steingewand mit ihrem Kern umgeben.

Aus den erstarrten Meeren strahlen Flammenmeere.[531]

Ihr Geist ergreift die reifen Ewigkeitsverkehre

Und sucht die Stille, nur um Stille zu durchschweben.


Die Erde hat sich selbst in jedem Hauch erfahren,

Und ihre Urerleuchtung starrt in kalten Flammen,

In denen andere Sterne ihren Schwesterstern gewahren.


Unsterblich sind die Garben, die sich selbst entstammen,

Die, ohne Gleichnisse, ihr Wesen offenbaren

Und die schon waren, als die Welten sie gebaren.


Ekstatisch stammt die Erde durch die kalten Sphären.

Ihr Blut und ihre Gluth sind ohne Wunsch erfroren,

Denn sie ist rein und nichts mehr mag sie umgebären.


Der Neumond ward zwei Riesenfeuerohren,

Mit denen fremde Welten unsere Welt belauschen.

Und nicht ein Wort, das hier erstand, geht mehr verloren.


Der Neumond kann die Erde als ihr Herz berauschen,

Das tief die Gletscher sprengt und flammend sich erweitert,

Und pocht, durch das Gehör die Einsicht einzutauschen.


Kein einziger Versuch, zu sein, ist da gescheitert.

Durch Junggeburten hat der Urmond sich vernommen

Und sein Erleuchten unsere Schicksale erheitert.


Der Erde Ewigkeit ist zu sich selbst gekommen!

Sie mag verglühen, denn ihr Werdewort wird bleiben:

Ihr Fels und ihre Fluth sind eisigdick erglommen.
[532]

Ekstatisch kann die Erde Monde urwärts treiben:

Des Wortes Unaussprechlichkeiten dauern weiter:

Das Weiblichste wird sich dem Geiste einverleiben!


Die Ewigkeit ereilt sich nicht auf eigener Leiter.

Was sie gebiert, kehrt in sich ein, und anderes scheidet:

Wir sind nur einmal tausendfache Weltbeschreiter.


Der Mond, der ungeschöpft die Nachtgewalten weidet,

Der ganz der Sohn der Erde ist und durch die Seelen flimmert,

Tritt aus sich selbst, sodaß die Mutter gar nicht leidet,


Und er gebiert den Himmel, der uns tief durchschimmert.
[533]

Quelle:
Theodor Däubler: Das Nordlicht. Teil 2, München; Leipzig 1910, S. 529-534.
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