Der Fremdling

[282] »Der Fremdling war's im grünen Mantel, ums Lockenhaupt den Veilchenkranz,

Er hat betört die Königstochter, die er geführt im Maientanz.


Er kam, man weiß es nicht, von wannen, er schied und niemand weiß, wohin.

Du bist betrogen, schön Haralda, und Schmach und Tod ist dein Gewinn.«


So klagt das Volk; doch König Olaf, der finstre, klagt und drohet nicht.

Ein Grab läßt er im Walde graben, durch Eis und Schnee der Spaten bricht.


Im Frühmärz ist's: kahl stehn die Bäume, kein Vogelruf, Eis deckt den Quell,

Rings alles starr: nur hoch am Himmel zieht's hin wie Frühlingswolken hell.


Und schweigend führt vor allem Volke sein Kind er an den dunkeln Schlund:

»Lebendig sei mit deiner Schande verschlungen von der Erde Grund,


Sagst du mir nicht des Frevlers Namen und wo ihn trifft mein Strafgericht.«

Doch sie schlug auf die schönen Augen und sprach in Ruh': »Ich weiß es nicht!


Ich weiß nur, daß er ist mein Gatte und daß er wiederkehret mir:

Er schlang von gelben Schlüsselblumen den Reif um meine Rechte hier,
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Und sprach: »Auf Monde bannt das Schicksal mich fern von dir, geliebte Frau,

Doch wann die Schlüsselblumen wieder, die gelben, sprießen auf der Au,


Dann kehr' ich dir zurück so sicher, als Sonn' und Mond am Himmel gehn.«

Schon hab' ich heut' aus Schnee und Eise das erste Veilchen lauschen sehn,


Nun kommt er bald!« – »Du willst noch höhnen?« ruft da der König zornesbleich,

»Hinab mit dir!« – Schon setzt die Holde den weißen Fuß ins Totenreich: –


Da plötzlich rauscht es in den Lüften, es blitzt, es donnert, braust und weht,

Ein warmer Hauch wie Veilchendüfte berauschend durch die Wipfel geht,


Hie Sonnenschein, dort Regenbogen, ein Schwalbenflug, er zwitschert hell,

Der Rasen grünt, die Büsche knospen und aus dem Eise bricht der Quell.


Die Erde bebt und aus dem Grabe, umstrahlt von lichtem Götterglanz,

Der Fremdling steigt in grünem Mantel und auf dem Haupt den Veilchenkranz.


»Gott Baldur!« rufen Volk und König und sinken bebend in die Knie,

Er aber faßt die Hand Haraldas und zu den Sternen schweben sie.

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 282-284.
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