Die bleiche Anne

[419] »Komm, Anne, hinaus vors Tor ins Feld! –

's ist Feiertag in aller Welt

Und sie führen bei Fiedel und Geigen

Wohl unter der Linde den Reigen,

Komm, Schwester, hinaus vors Tor!«


»Seid stille und laßt mich bleiben!

Hat er lang' vergessen zu schreiben, –

Er hat wiederzukommen versprochen:

Nie hat er sein Wort gebrochen,

Er kommet wohl heute gar!«


Und sie zogen hinaus zum bunten Reih'n;

Bleich Anne, die saß am Fensterlein,

Wo sie ihn zum letzten gesehen;

Und die Sonne tät untergehen

So still und friedevoll.


Und die Abendglocken, die gingen auch,

Und die Amsel sang im Erlenstrauch:

Da kam ihr ein mächtig Sehnen,

Und es liefen ihr bittere Tränen

Wohl über das bleiche Gesicht.


Ihren letzten Atem, für ihn ein Gebet,

Den haben die Winde weitergeweht,

Und haben's in fernen Landen

Den Blumen erzählt, die standen

Um ein frühes, einsames Grab! –

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 419-420.
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