Thamar

[334] Es ritt ein Ritter über die Heide,

Sein Blick war tief und ernst sein Gesicht:

Da hört' er schrei'n wie in tödlichem Leide,

Er jagte herzu an den Buschwald dicht.


Dort hatten gebunden drei böse Schächer

Ein Mädchen in buntem, fremdem Gewand:

Hoch blitzte sein Schwert und sie flohn vor dem Rächer

Und er sprang vom Roß und zerschnitt ihr Band.
[334]

»O Ariël, Asraël, Bote der Sterne,

O laß mich im Staube zu Füßen dir ruhn,

O nimm meine Seele: wie gäb' ich sie gerne!

Gebeut und befiehl, was soll Thamar tun?«


Wie blitzet das Auge, das dunkle, so mächtig,

Wie wallet das schwarze, das bläuliche Haar,

Wie erglühen die Pfirsichwangen so prächtig,

Wie woget die Brust ihr so wunderbar!


Lang ließ er den Blick auf dem schönen Haupte

Und flüchtig auch die Rechte ruhn: –

Dann wandt' er sich um, wo sein Rappe schnaubte:

»Zieh' hin und vergiß mich: – das sollst du tun.«

Quelle:
Felix Dahn: Gesammelte Werke. Band 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 334-335.
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