[Dein ganzes Leben war nur Dunst]

[608] Dein ganzes Leben war nur Dunst,

Liebst du nicht stets mit edler Kunst.


Und lieben sollst du vor dem Tode,

Das war von je pariser Mode.


Die Stadt spricht ganz in meinem Sinn

Und immer zog's mich zu ihr hin.


Ehre ist mehr ein kaltes Feuer,

Nur Liebe, die wärmt ungeheuer,


Geld gibt dem Leibe vieles Glück,

Doch nicht den höchsten Augenblick.
[608]

Nur Liebe macht im Mark erbeben,

Deshalb soll jeder sie erleben.


Mir tanzten die Pariser Straßen,

Konnt' mich vor Freude nicht mehr lassen,


Wußte, Frau Königin war da,

Wenn ich sie selbst auch noch nicht sah.


Wünschte durch Mauern jetzt zu sehn

Und in den Häusern umzugehn.


Doch dieses mußt' ich unterlassen

Und mich beschränken auf die Straßen.


Der Zufall spielt gar gern Verstecken,

Mich tat er unvergeßlich necken.


Auf einem Dampfboot auf der Seine,

Als ich an dem Geländer lehne,


Ein ander Boot kam mir entgegen,

Da naht »sie« wie ein goldner Segen.


Sie trägt ihr stolzestes Gesicht

Und lebt allein und sieht mich nicht.


Ich zählte nicht einmal bis zwei,

Da war das Boot mit ihr vorbei;


Den Dampf tat ich von Grund aus hassen,

Jetzt war ich wiederum verlassen.


Im Schlaf erschien mir dann die Seine

Wie meiner Sehnsucht lange Träne,


Und stets auf einem andern Schiff

Schwamm die vorüber, die ich rief.


Ich wurde nicht im Suchen lahm,

Und wiederum ein Zufall kam.
[609]

Kommt man in eine neue Stadt,

In der man ein paar Freunde hat,


Geht man zu ihnen mal hinauf

Und sucht die lieben Freunde auf.


Mein Freund war Maler von Beruf,

Am liebsten er die Nacktheit schuf.


Hab' vor den Bildern Platz genommen.

Er sprach: »Der Wein, der wird gleich kommen.«


Sein Modell warf den Mantel ab,

Nackt stand sie da, wie Gott sie gab.


Den Wein tat kleiderlos sie kaufen,

Mich tat es ganz heiß überlaufen.


Ich lobte sehr ihr blankes Haar.

Mein Freund rief: »Es ist sonderbar,


Wie dieses Haar jetzt modisch wird!

Noch stärker hat es mich verwirrt


Von einer Dame vis-à-vis,

Wie eine Königin ist die,


Ihr Haar ist eine heiße Krone.«

Ich fragte zitternd, wo sie wohne.


»Dort steht sie an dem Fenster eben!«

Von Feuer fühlt' ich mich umgeben,


Frau Königin gleich rechter Hand

Im nächsten Haus am Fenster stand.


Sie sah gerade auf die Uhr:

»O Gott, wär' ich ein Zeiger nur!


Ich würde ihre Blicke lenken,

An mich müßte sie stündlich denken.«
[610]

Lange sprach ich kein lautes Wort,

O, ging' sie nie vom Fenster fort!


Natürlich mußte sie dann gehn,

Und ließ mich lahm und zweifelnd stehn.


Und als der helle Tag gewichen,

Kam wie ein Kater ich geschlichen,


Mein Mut, der wurde stündlich trüber,

Saß ihrem Hause gegenüber


Auf einer Bank bei einem Zaun

Und tat nur immer aufwärts schaun.


Und blies sie aus den Lampenschein,

Schlief ich mit offnen Augen ein,


Schlief mich so göttlich nie mehr aus

Wie in den Nächten vor dem Haus.


Sah, wie der Mond am Fenster leckte,

Und Schiefer von den Dächern deckte.


Zum Mond auf Dächern tanzt' Paris,

Nachtwind die Tänzer vorwärtsblies,


Wenn Männer die Jungfrauen küßten,

Fuhren Raketen aus den Brüsten,


Sah Abälard mit Heloïsen

Der großen Lieb' gottvolle Riesen.


Zum Marterberg tanzt' man aufwärts,

Rund um die Kirch »zum heil'gen Herz«,


Und Mann mit Weib zum Mond sich schwang,

Daß still der Mond in Scherben sprang.


Sterne verpfiffen wie die Flöten,

Kein Frührot kann die Tänzer töten,
[611]

Schliefen wie Flaschen nach dem Mahl,

Kehrer kamen zum Straßensaal.


Es leb' die Lieb'! blieb's Losungswort,

Behutsam schob man Scherben fort. –


So hielt ich nachts die Augen offen

Und tat verzückt in Bildern hoffen.


Ich wagte nicht, zu ihr zu gehn,

Aus Angst, sie könnt den Rücken drehn,


Und sich für immer von mir wenden,

Und schnöde müßt' mein Herz verenden.


Ich wartete den Zufall ab,

Der sich zum drittenmal begab.


Dem Zufall muß ein Hoch ich bringen,

Er ist es wert, ihn zu besingen.


Der Zufall fragt nicht wo, nicht wie,

Zerstört und bringt die Harmonie,


Kann selbst in Mißkredit nicht kommen,

Wenn er sich lächerlich benommen.


Ich Ärmster, ich kann nichts dafür,

Ach, lächerlich kam er zu mir.


Wenn man es mal recht eilig hat,

Gibt's Omnibusse in der Stadt.


Ein Platz war nämlich nur noch frei,

Frau Königin saß dicht dabei,


Ich ließ mich ihr zur Seite nieder,

Empfahl dem Himmel meine Glieder.


Sie sah mich noch nicht vorderhand,

Und ich blieb ihr noch unbekannt.
[612]

Ein Omnibus, der schüttelt stark,

Ich fühlte mein Gehirn wie Quark,


Da Schulter ich an Schulter saß

Mit ihr, die mir am Herzen fraß.


Ich fühlte bald, ich würde toll,

Mein Kopf brannte wie Alkohol,


Die Augen wuchsen groß wie Räder.

Ich glaub', ich werde Attentäter,


Denn alles drängt nach einem Kuß,

Den ich jetzt endlich haben muß.


Fühlte Fieber in jedem Arm,

Selbst meine Sohlen wurden warm.


Ich bin ganz jählings aufgesprungen

Und hab' Frau Königin umschlungen


Und küss' die Dame durch den Schleier,

Dann erst war mir die Seele freier.


Sie schreit, bis sie mich schnell erkennt,

Doch alles schon zusammenrennt,


Man flieht, man ruft den Kondukteur,

Man kreischt: »Ein Narr macht hier Malheur!«


Man stoppt. Doch die Frau Königin

Sagt zu den Leuten obenhin:


»Es ist ja weiter nichts geschehn

Als nur ein frohes Wiedersehn.«


Sie ging dann gern mit mir spazieren,

Sollt' sie zu schönen Bildern führen.


Sie war noch rosenrot vom Kuß

Und sprach nicht mehr vom Omnibus.
[613]

Wenn Wangen sich wie Blumen zeigen,

Dann platzt im Herzen bald das Schweigen.


Und in den Louvregalerien

War's Wunschschloß der Frau Königin.


Die Welt herrlich um uns entstand,

Mit Lieb' gemalt auf Leinewand,


Wir saßen still vor einem Bild

In Mondpracht und doch seltsam wild,


Ein schwarz verzweifelt Ackerland,

Ein Wassergraben rechter Hand,


Gemalt nach schwangerm Abendregen,

Und Pfützen noch auf allen Wegen;


In Wolken, die voll Föhn und naß,

Der Mond grell wie ein Blitzstrahl saß.


»Hier in dem Bilde wollen wir

Spazieren gehn,« sprach sie zu mir.


Wir saßen eng auf dem Sofa

Und gingen in die Landschaft da.


Sie sprach so göttlich nebenbei,

Und was sie sprach, war einerlei.


Ich fühlte es bei ihr sogleich:

Ja, ich und sie werden ein Reich.


Der Kuß hat freier mich gemacht,

Und ich erzählte von der Nacht,


Daß ich ihr Fenster still besessen

Und Sehnsucht tät den Mond auffressen.


Da tat der Föhnwind heiß umgehen,

Der Louvre tat voll Schwüle stehen.
[614]

Mir war, als folgten uns aus Rahmen

All die gemalten Herrn und Damen.


Leute aus jeglichem Jahrhundert

Sie haben Königin bewundert.


Sie konnte Tote zittern machen,

Lieb' sprach zu ihr in allen Sprachen.


Rubens und Rembrandt glühten da,

Sobald Frau Königin hinsah,


Holbein und Dürer grüßten tief,

Und ihr Mund sanft: »Madonna« rief.


Weil man das Singen ja nicht sieht,

Sang Königin halblaut ein Lied,


Ließ wie ein Taschentuch es fallen

In Huld als Dank ihren Vasallen.


Und Milos Venus lud uns ein,

Ihr Marmor hatte Feuerschein,


Ihr Leib war wie ein Sonnenstück,

Es war ihr höchster Augenblick.


Denn einst, als man Paris beschossen,

Hat das die Venus schwer verdrossen,


Sie legte sich in eine Kist'.

Versteckt in einer Fuhre Mist,


Lag sie in einer der Kasernen,

Bis sich der Deutsche tat entfernen.


Sich rettend so aus den Gefahren

Wartet sie jetzt auf Balthasaren.


Blank, und von Mist nicht einen Schimmer,

Steht sie im Louvrehinterzimmer.
[615]

Und dann, an diesem Nachmittag,

Die Sonne ihr am Nabel lag.


Da kam der Balthasar auch hin

Und ihm zur Seit' Frau Königin.


Ganz harmlos sagt der Balthasar:

»Die Venus ist mal sonderbar!


Ich sage euch, daß ihr es wißt,

Daß sie hier nicht die Schönste ist.«


Und er sah nur Frau Königin

Und sah nicht mehr zur Venus hin.


Als echte Venus freut sie sich,

Die Sonn' sie sich vom Nabel strich


Und legt sie auf das Goldhaupt hin

Als Krone der Frau Königin.


Frau Königin hat nicht verneint,

Frau Venus hat uns still vereint,


Es waren sich die Herzen nah,

Als wär' ich Vater, sie Mama,


Sie drückte mir die Lippen zu

Und ward noch schöner und sprach: »Du.«


Von den Genüssen der Genuß

Ist so ein richtiger erster Kuß,


Es müssen beide tüchtig wollen,

Dann schöpft man heftig aus dem Vollen.


So hatt' ich es mir ausgedacht,

Doch anders ist die Welt gemacht.


Auch ich hab' es erfahren müssen:

Ein keusches Weib kann noch nicht küssen,
[616]

Sie kann die Lippen noch nicht stellen,

Tut oft den andern Mund verfehlen,


Sie stellt sich ungeschickt noch an,

Man küßt statt Lippe oft den Zahn.


Doch Liebe übt das Küssen ein,

Und dunkel soll es dabei sein.


Wir fuhren weich in einem Wagen

Und ließen durch Paris uns tragen.


Der Wagen war ein fliegend Haus,

Drin übten wir das Küssen aus.


Man küßt sich, und man spricht kein Wort,

Und denkt nicht, – man ist einfach fort.


Das Herz hat jahrelang gehastet,

Bis es den Mund fand, wo es rastet;


Es tat ja Tag und Nacht stets rennen,

Man kann's dem Herzen wirklich gönnen.


Oft hab' ich drüber nachgedacht,

Wie doch das gute Herz es macht,


Daß immerfort es wachen kann,

Arbeitend stets von Jugend an.


Nachts, wenn der ganze Körper ruht,

Sortiert es immer noch das Blut,


Der Muskel schafft oft hundert Jahr.

Ich find' es gar nicht sonderbar,


Daß er nach Kuß und Liebe drängt,

Wenn dieses ihm Erholung schenkt.


O, störe nie den Mensch, der küßt,

Weil das einfach unmenschlich ist!
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Und in Paris ist man gewöhnt,

Daß man die Liebe jedem gönnt.


So küßten wir und waren fort,

Sogar noch am Platz »la Concorde«.


Wo einst man köpfte Nacht und Tag,

Das Pflaster mir voll Küsse lag.


Laternen tanzten um uns her,

Als wenn der Platz die Milchstraß' wär'.


Doch plötzlich blieb mein Kopf nicht heil,

Ein Wort fiel schwer wie ein Fallbeil.


Wo einst die Guillotine stand,

Der Balzer sich ganz kopflos fand,


Denn Königin sprach ahnungsvoll,

Von »Treue«, die man halten soll:


»Du, Balzer, dein will ich gern sein,

Doch fiele es dir jemals ein,


Daß du mich zum Betrug gewählt,

Dann glaub' ich nichts mehr auf der Welt.«


Ich weiß nicht, welch ein Blitz geschah,

Daß ich die Zukunft plötzlich sah.


Mitten in meines Blutes Saus

Wischte der Blitz den Kopf mir aus.


Wer könnte es mit Ernst beschwören,

Daß ihn die Zeiten nie betören?


Weiß man denn, wer man selber ist,

Getaufter Heide, genannt Christ.


Nie kann ich für mich garantieren,

Das Leben ist ein stündlich Irren.
[618]

Heut leg' als Christ ich mich zu Bett,

Und früh bet' ich zu Mohammed.


Denn immer blindhin rollt die Welt,

Kurz, nur die Seel' im Leib aushält.


Erschüttert hat mich, was sie sprach,

Es war der Liebe erstes »Ach«.


Man soll im Glück am Leid nicht rühren,

Nicht stets nach der Mechanik spüren,


Puppen sind wir im Puppenhaus,

Spielt man zu hart, läuft Sägmehl 'raus.


Quelle:
Max Dauthendey: Gesammelte Werke in 6 Bänden, Band 4: Lyrik und kleinere Versdichtungen, München 1925, S. 608-619.
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